Redaktionsgruppe

 

Einleitung

 

Während sich die offiziellen Vollzugsmeldungen über die "Eindämmung der Flüchtlingsströme" nach der faktischen Abschaffung des Asylrechts überschlagen, mehren sich Medienberichte, in denen von "neuen Gastarbeitern", "Illegalen" und einer "Welle von ausländischer organisierter Kriminalität", die nun zu "uns" überschwappt, die Rede ist. Wie schon bei der unsäglichen "Asyldebatte" wird an Bedrohungsmethaphern nicht gespart. Von Strömen, Wellen und Fluten ist die Rede, von Völkerwanderungen, "Karawanen von Grenzgängern", von Arbeitslosenheeren und Gedränge. Konstruierte Feindbilder wie "organisierte Kriminalität", "Russen-Mafia" oder "ausländische Rauschgifthändler" ersetzen zusammen mit dem "ausländischen Schwarzarbeiter", dem "Illegalen" und somit Kriminellen ideologisch den "Scheinasylanten". Speziell Migrantinnen werden zum Objekt gemacht, sie werden nicht als Personen respektiert, sondern sind nur Staffage für eine sexistische Berichterstattung. Nachdem das Asylrecht ausgehebelt worden ist, stehen die Aufrüstung der Grenzen und die Verschärfung der Gesetze zur "Inneren Sicherheit" auf der politischen Tagesordnung. Arbeitsmigration - vor allem die aus Osteuropa - wird lediglich als Abschottungs- oder Steuerungsproblem Deutschlands dargestellt, die Hintergründe und Lebensbedingungen unterbezahlter WerkvertragsarbeiterInnen oder illegal Beschäftigter sind in der öffentlichen Debatte kaum Thema. Als Opfer rassistischer Gewalt und Ausbeutung werden sie gelegentlich noch erwähnt, ihre eigenen Interessen, Wünsche und Hoffnungen im "Goldenen Westen" werden aber vernachlässigt.

Dieser Sammelband beschäftigt sich mit den "neuen Migrationsformen", will sie analysieren, das spezifisch Neue an ihnen herausarbeiten und sie in Beziehung setzen zu weltwirtschaftlichen Umbrüchen, zum Ende des wohlfahrtsstaatlichen "Modell Deutschland" und dem Versuch der rassistischen Neuformierung einer "deutschen Volksgemeinschaft". ArbeitsmigrantInnen, politische Flüchtlinge und Illegalisierte kommen selbst zu Wort und legen ihre Motive, Ängste und Probleme dar. Der Titel "Zwischen Flucht und Arbeit" deutet es an: Politische Fluchtgründe und ökonomische Gründe, die zu einer Migrationsentscheidung führen, lassen sich zunehmend weniger scharf voneinander trennen. Eine Abgrenzung zwischen Flucht- und Arbeitsmigration wäre nicht nur schwer, sondern auch zweifelhaft. Denn staatlicherseits wird mit der Definition und Bewertung von Migrationsgründen die unterschiedliche "Behandlung" von MigrantInnen legitimiert. Viele Linke haben sich lange Zeit auf politisch Verfolgte und die Verteidigung des herrschenden Asylrechts konzentriert. Währenddessen suchten sich MigrantInnen gezwungenermaßen andere Wege, organisierten Illegalisierte weiterhin ihren Alltag unter den verschärften Bedingungen von Kontrolle und Repression.

Ein Ziel dieses Buches ist die Auseinandersetzung mit der "Normalität von Migration" und zu hinterfragen, warum zwar bei besonders drastischen und spektakulären Fällen von Folter, Abschiebung und rassistischen Anschlägen breite, wenn auch nur kurzlebige Kampagnen zustande kommen, die Situation der hier unter miserablen Bedingungen Arbeitenden und oft Illegalisierten jedoch stillschweigend hingenommen wird. Selbstverständlich soll die Solidarität mit ihnen nicht in Konkurrenz zur Solidarität mit politischen Flüchtlingen treten. Es geht darum, Zusammenhänge aufzuzeigen.

Nach wie vor finden die meisten Migrationsbewegungen in der "Dritten Welt" selbst statt. Nur wenige schaffen es überhaupt, in den Norden zu gelangen. In der nahen Zukunft wird die Anzahl der MigrantInnen weiter zunehmen. In dem Maße, in dem sich das Kapital globalisiert, sich das "Reich des Chaos" (Samir Amin) weiter ausbreitet, zerstört es die Lebensgrundlagen von Millionen von Menschen. Die Gründe, Migration als das kleinere Übel anzusehen, sind höchst unterschiedlich, meist für die/den einzelneN sehr dramatisch oder existenzbedrohend, aber immer berechtigt und legitim. Es wäre falsch, Migrationsentscheidungen nicht als eben solche ernst zu nehmen, denn auch unter schwierigsten Bedingungen sind Menschen Subjekte ihrer selbst. Unter diesen Vorzeichen kann es nicht das Ziel sein, die Migration abzuschaffen, sondern die Bedingungen, die Migration erzwingen. Dahinter steht die Überzeugung, daß jeder Mensch die Möglichkeit haben soll, hinzugehen, wohin er/sie will. Bezogen auf die BRD heißt das: "Grenzen auf für alle!"

Das Interesse des Nationalstaats bzw. der EU ist Steuerung und Kontrolle, nicht die prinzipielle Abschottung gegen Arbeitskräfte aus dem Süden und Osten. Ein hierarchisches, rechtlich abgestuftes System von Aufenthaltsregelungen und beschränkten Arbeitserlaubnissen eröffnet neue Verwertungmöglichkeiten jenseits von störenden Sozialsystemen. Auch oder gerade Illegalisierte haben nicht nur eine gesellschaftlich-ideologische, sondern auch eine materiell verwertbare Funktion für das Kapital. (Selbstverständlich gehen sie als Personen in diesen Funktionen nicht auf.) Nimmt man die Metapher von der "Festung Europa" wörtlich, so ist diese wie jede Festung auf äußere Ressourcen angewiesen. Das gilt auch für die Ware Arbeitskraft.

Die Debatte über Migration und eine dazugehörige Praxis wird nicht nur für die Linke in den nächsten Jahren von zentraler Bedeutung sein. Ihr Thema wird sowohl das Verhältnis zwischen BewohnerInnen der "Ersten und Dritten Welt" (einschließlich Osteuropa) sein als auch die Art der Zugehörigkeit zu dieser Gesellschaft. Trotz der abzusehenden Versuche, soziale Konflikte weiterhin zu ethnisieren, wird die zunehmende Aufspaltung der Gesellschaft nicht ausschließlich die Lebensbedingungen von MigrantInnen verschlechtern, sondern auch deutsche StaatsbürgerInnen treffen. Insbesondere die Feminisierung der Armut und die Zunahme von Gewalt gegen Frauen machen nicht halt vor anderen gesellschaftlichen Trennlinien.

Eine Praxis, die sich mit den von diesen Prozessen Betroffenen (wozu zunehmend Linke selbst gehören) solidarisiert, kann ohne eine internationale Perspektive und ohne Berücksichtigung der Interessen von MigrantInnen nicht auskommen. Sie benötigt ein Verständnis von Solidarität, das auf gegenseitiges Lernen angelegt ist und die eigenen Verflechtungen in eine auf kolonialistischen Strukturen beruhende "Dominanzkultur" (Birgit Rommelspacher) berücksichtigt. Durch die Debatten um "500 Jahre Kolonialismus und Widerstand", den Antisemitismusvorwurf an die Linke während des Golfkriegs, die feministische Kritik und die Beschäftigung mit der "triple oppression" wurde deutlich, daß die (deutsche/männliche) Linke "weiße Flecken" aufweist. Diese müssen als solche erkannt und selbstkritisch bekämpft werden, um nicht selbst eine Dominanzattitüde zu reproduzieren. Der Falle der lähmenden Selbstbeschauung läßt sich wiederum nur entgehen, wenn - z.B - der "Rassismus in uns" im Wechselverhältnis mit dem "Rassismus um uns" bekämpft wird.

 

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Die HerausgeberInnengruppe ist einer der Arbeitsschwerpunkte des Bundeskongreß entwicklungspolitischer Aktionsgruppen (BUKO), der als Zusammenschluß von über 300 Gruppen unterschiedlichster Couleur, die zu Themen der "Dritten Welt" arbeiten, die institutionalisierte Form der Solidaritäts- oder Internationalismusbewegung darstellt. Schon länger wurde in und an der Internationalismusbewegung kritisiert, daß sie sich ihr "Solidaritätsobjekt" eher in fernen Ländern sucht, als sich auf die Verhältnisse im eigenen Land zu beziehen. Das sich "wiedervereinigende Deutschland" zeichnet sich nach 1989 durch offen zutage tretenden Rassismus und Antisemitismus aus, die sich nicht nur in der Zunahme neonazistischer Banden und rechtsradikaler Parteierfolge äußern, sondern einhergehen mit der Wiederbelebung eines gesellschaftlich breit getragenen nationalistischen, auf Ausgrenzung abzielenden Diskurses. Um auch als Internationalismusbewegung dieser Entwicklung etwas entgegenzusetzen, wurde der Arbeitsschwerpunkt Rassismus und Flüchtlingspolitik (ASR) auf dem 15. Bundeskongreß 1991 gegründet.

Die Abschaffung des Asylrechts konnte ebensowenig verhindert werden wie die rassistischen Angriffe von Hoyerswerda, Rostock, Mölln und Solingen, zudem ist eine Aufrüstung der "Inneren Sicherheit" in vollem Gange. Gerade in den letzten vier Jahren hat sich aber auch eine relativ breite antirassistische und antifaschistische Bewegung entwickelt. Viele kommen aus der Internationalismusbewegung und verstehen sich - unabhängig davon, ob sie dem BUKO nahestehen - weiterhin als InternationalistInnen. Das ist konsequent, da Fluchtursachen ein Problem internationaler Zusammenhänge sind und Teile der Internationalismusbewegung bereits einen antirassistischen Diskurs geführt haben (Anti-Apartheid-Bewegung, Nicaraguas Miskito-Konflikt). Ziel des ASR war und ist die inhaltliche und praktische Vernetzung der Internationalismusgruppen, die zu Rassismus und Flüchtlingspolitik arbeiten, mit anderen Antirassismus-, Asyl- und Flüchtlingsgruppen. Es soll ein Austausch stattfinden, bei dem die Erfahrungen entlang der konkreten Verhältnisse in der BRD bzw. der EU auf die der Internationalismusbewegung treffen.

Von Anfang an waren im ASR nicht nur Mitglieder von BUKO-Gruppen vertreten. Er war und ist eine eigenständige offene Gruppe, die eher formal an den Gesamt-BUKO angebunden ist. Zur Zeit sind Einzelpersonen aus neun Gruppen vertreten (Zeitschrift Die Brücke, Freie Flüchtlingsstadt Nürnberg, Anti-Rassistische Initiative Wuppertal, Zentralamerikakomitee Tübingen, Büro Claudia Roth - Europa-Grüne, Informationsbüro Nicaragua, Aktion 3. Welt Saar, Rom e.V., Werkstatt 3 Hamburg). Die Diskussionen entwickelten sich inhaltlich von der Auseinandersetzung um Fluchtursachen, über Debatten zum Verhältnis von Nationalismus, Sexismus, Rassismus und "linken Antisemitismus", über verschiedene Kampagnen ("Doppelte Staatsbürgerschaft", "Gegen Abschiebeknäste") und Aktionsformen, bis hin zu Themen dieses Sammelbandes wie Migration, Deregulierung und "soziale Frage". In die Kampagne gegen die Abschaffung des Asylrechts klinkte sich der ASR zwar ein, war sich ihres defensiven Charakters aber bewußt. Zur Forderung nach offenen Grenzen für alle sah er keine Alternative, und die in diesem Band geführte Debatte um Legalisierung steht für eine Fortführung dieser Auseinandersetzung. Die Forderung nach Legalisierung ergänzt für den ASR die "Grenzen-auf-Parole", sie untergräbt sie nicht.

 

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Angeregt durch Diskussionen auf einem ASR-Seminar im März 1994 "Von Osteuropa in den Standort Deutschland - Neue Flucht- und Migrationsbewegungen", war zunächst ein rein analytisches und theoretisches Buch geplant; ziemlich typisch für eine verkopfte Herangehensweise, wie sie in der deutschen Linken nicht unüblich ist. Je weiter das Buchprojekt Gestalt annahm, desto deutlicher wurde die Unzulänglichkeit eines "Theoriebuches". Linke Analysen neigen immer noch dazu, "subjektlos" zu argumentieren, also diejenigen, über die geschrieben und für die (vorgeblich) gestritten wird, selbst nicht vorkommen zu lassen. Solidarität in Theorie und Praxis erfordert jedoch ein Verhältnis zwischen Subjekten.

Die Suche nach Berichten von Flüchtlingen, MigrantInnen und Illegalisierten gestaltete sich allerdings schwierig. Das kann als ein Indiz für die weitgehende linke Nichtbeschäftigung mit deren konkreten Lebensverhältnissen gesehen werden und zeugt davon, daß es bisher wenig gewachsene Kontakte gibt. Das Buch sollte z.B. einen Artikel zu SaisonarbeiterInnen in der Landwirtschaft enthalten, es war bis Redaktionsschluß nicht möglich, ausreichende Informationen zu bekommen. Zusätzlich zu dem Beitrag über die vietnamesischen DDR-VertragsarbeiterInnen war etwas über ihre mosambikanischen KollegInnen vorgesehen. Die allermeisten sind aber gezwungen worden, nach Mosambik zurückzukehren, und Gruppen, die mit ihnen zusammengearbeitet haben, existieren kaum noch. Im Buch fehlt auch eine gesonderte Darstellung des in Osteuropa, besonders in Rußland, virulenten Antisemitismus, der die Migrationsentscheidung von dort lebenden JüdInnen stark beeinflußt.

Ein Problem war noch, daß einzelne Organisationen, die sich mit osteuropäischen MigrantInnen beschäftigen, sehr zurückhaltend auf Anfragen reagierten. Es scheint so zu sein, daß sie Kontakten zu erklärtermaßen linken Projekten deutlich reserviert gegenüberstehen.

Alle AutorInnen sind vorab aufgefordert worden, frauenspezifischen Fluchtgründen oder Migrationsentscheidungen besonderes Augenmerk zu widmen und Frauen nicht in geschlechtslosen Kategorien verschwinden zu lassen. Inwieweit sie dem nachgekommen sind, läßt sich nachlesen.

Das Thema "(neue) Arbeitsmigration" wird in akademischen Kreisen relativ breit und vielleicht mehr als in der Linken diskutiert. Sind die meisten Kopfgeburten dieses Bereichs eher Mittel der Politikberatung und Sozialtechnologie zu Händen der Herrschenden, so gibt es doch kritische Ansätze und Forschungsergebnisse. Dieser Sammelband will sie für eine linke Diskussion nutzbar machen. Dies gilt insbesondere für die sog. Regulationstheorie, in der BRD bekannter unter dem Schlagwort "Postfordismus" (1). Sie ist kein neuer Königsweg, aber ein Versuch, Vereinfachungen und Verflachungen traditioneller linker Theoriebildung zu vermeiden. Gerade für den Zusammenhang von Rassismus und gesellschaftlichen Regulationsweisen der Kapitalverwertung gibt sie einige Antworten. Schwachstellen hat sie, wo es um geschlechtsspezifische, patriarchale Unterdrückungs- und Ausbeutungsverhältnisse geht. Ob dies ein grundsätzlicher Fehler ist oder "nur" daran liegt, daß Regulationstheoretiker(innen?) dazu kaum gearbeitet haben, wäre zu klären.

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Bevor die Beiträge dieses Buches vorgestellt werden, der Hinweis, daß einige wenige Artikel dieses Buches trotz eingehender Überarbeitung so komplex geblieben sind, daß es sich bei ihnen besonders lohnt, sie ein zweites Mal zu lesen.

Die weltwirtschaftlichen Umbruchdynamiken und Deregulierungspraktiken, die neue Bedeutung des Nationalstaats und das Verhältnis zur Migration werden hauptsächlich in drei sich ergänzenden Artikeln behandelt. Die Artikel von Christine Parsdorfer, Georg Lutz und Hans-Jürgen Bieling fast am Ende des Buches formulieren so etwas wie den abstrakten Rahmen, in dem die in den anderen Beiträgen beschriebenen Lebenswege und Probleme interpretierbar sind. Umgekehrt geben die konkreten Schilderungen von MigrantInnen ein Beurteilungskriterium für den Erklärungsgehalt der theoretischen Beiträge.

Der Beitrag von Georg Lutz "Weltmarkt und neue Migration" setzt am allgemeinsten an und hat den Weltmarkt für Arbeitskraft zum Thema. Eine wesentliche Ursache für Migration ist in den Bedingungen und Erfordernissen der jeweiligen kapitalistischen Formation des Weltmarkts zu suchen. Seine Ausgangsthese quer zu herkömmlichen - auch in der Internationalismusbewegung verbreiteten - Erklärungsmustern ist, daß gerade weil die ökonomische Entwicklung in Ländern der "Dritten Welt" (einschließlich Osteuropa) einen rasanten Verlauf nimmt und das Bevölkerungswachstum vergleichsweise niedrig ist, es zu einer erheblichen Arbeitsmigration kommt. Das "gängige Argument, wenn 'wir' den Armen mit mehr Entwicklungshilfe helfen würden, würden sie nicht kommen, geht an den Realitäten des Weltmarkts vorbei. (...) Offensichtlich ist der Kontakt mit dem Weltmarkt oder noch klarer das Arbeiten in der Exportindustrie die Vorraussezung für eine Migrationsentscheidung."

Während Lutz die allgemeinen Bedingungen der weltweiten Migration darlegt, skizziert der Artikel von Christine Parsdorfer die neuen institutionellen Formen des Rassismus und will die ideologische Wirkungsmacht des "Migrationskomplexes" erklären. Der Text konkretisiert Annahmen, die auch im Text von Lutz auftauchen, und geht dazu stärker auf die Funktion des Nationalstaats und die ökonomischen Bedingungen der Entstehung von rassistischen Ausgrenzungsdiskursen ein. Für das Ende der 80er Jahre stellt sie fest: "Nachdem der Stolz auf die wirtschaftliche Leistungsfähigkeit und das damit einhergehende Aufstiegsversprechen veraltet war, die Identifikation mit der 'eigenen' Nation sich nicht mehr automatisch positiv aus sich selbst heraus begründen ließ, bieten sich nun die Migrationsbewegungen für negative, auf Ausgrenzung beruhende Identitätsmuster an. Die Legitimationsgrundlage des bisherigen Gemeinschaftsglaubens 'Wachsender Wohlstand für alle' verwandelt sich so in die Formel 'Sicherung des Wohlstands der Deutschen'."

Hans-Jürgen Bieling analysiert in seinem Beitrag "'Postfordistische' Modernisierung" die verschiedenen Formen und Dimensionen des Rassismus als Strategien und Ideologien, mit denen die Umbrüche in der internationalen und gesellschaftlichen Entwicklung vorangetrieben und ausgestaltet werden. Erst diese Umbrüche lassen Flucht und Migration ansteigen und führen zur Herausbildung neuer "Migrationsregimes". Zunächst werden neue Strukturelemente der neuen Welt(un)ordnung in bezug auf Migration dargestellt, um in einem zweiten Teil die Reorganisation von Produktion, Arbeitsmarkt, Sozial- und Repressionsstaat im Zeitalter des "Postfordismus" zu beleuchten. Abschließend fügt Bieling den Begriff der "Re-Ideologisierung" ein und versucht eine vorsichtige Bestimmung der Funktionalität von Rassismus: "Den Tendenzen von Individualisierung, Wertewandel, Entsolidarisierung und Konsumismus steht die Radikalisierung der konservativen Werte von Volk, Nation, Tradition und starkem Staat gegenüber. (...) Augenscheinlich profitieren rechtspopulistische und rassistische Bewegungen von nationalen und internationalen Umbrüchen, vor allem von Ängsten und Konflikten in der Arbeits-, Lebens- und Konsumwelt." In den rassistischen Deutungen spiegelt sich das Bewußtsein wider, auf einer gefährdeten Wohlstandsinsel zu wohnen.

Wie weit Teile dieser Gesellschaft, obwohl sie hier leben, von der Wohlstandsinsel entfernt sind, zeigen die anderen Artikel des Buches. Die einleitende Reportage von Vera Gaserow über Illegalisierte in Berlin beschreibt anschaulich die Ängste hier illegal Lebender, in die Fänge der Behörden zu geraten. "Man verhält sich ruhig als Illegaler, und gerade weil man rechtlos ist, ist man gesetzestreu: nie schwarzfahren, nie bei Rot über die Straße gehen, nie etwas mitgehen lassen im Supermarkt." Die Äußerungen zeigen aber auch, daß so ein Leben oft lebenswerter erscheint, als sich "legal" den ständigen Schikanen der deutschen Behörden auszusetzen. Deutlich wird, daß eigentlich keineR die Illegalität will, sie als kleineres Übel (zumindest für den Übergang) aber akzeptiert und gelebt wird.

In der Grauzone zwischen Legalität und Illegalität sind die neuen WanderarbeiterInnen angesiedelt, die in dem Beitrag von Norbert Cyrus beschreiben, warum sie "in Deutschland arbeiten und in Polen leben". In der Grauzone sind sie deshalb, weil sie zwar meist durch legale Werkvertragsvereinbarungen in die BRD gelangen, nach deren Auslaufen aber oft illegale Beschäftigungsverhältnisse eingehen müssen. Gleichzeitig wird deutlich, daß ein illegaler Aufenthaltsstatus etwas anderes ist als illegale Beschäftigungsmodalitäten, unter "Illegalität" also unterschiedliche Sachverhalte zusammengefaßt werden. Polnische ArbeitsmigrantInnen haben Lebensmittelpunkte in verschiedenen Gesellschaften. Die daraus resultierende, zahlenmäßig zunehmende "Pendelmigration" steht quer zu gängigen Vorstellungen von Migrationsprozessen und zeigt eine neue Qualität an (2). Wichtig ist an dem Beitrag, daß die ArbeitsmigrantInnen als Subjekte vorkommen und nicht nur als Ausbeutungsopfer.

Der Artikel von Andrea Krüger zu Prostitution, Frauenhandel und Heiratsmigration beleuchtet diesen in der Migrationsdebatte häufig nicht berücksichtigten, trotzdem in seinen Ausmaßen nach 1989 bedeutenden Bereich der Ost-West-Migration. Frauen kommen meist, um materielle familiäre Verpflichtungen zu erfüllen, was sie aufgrund von Erwerbslosigkeit in ihren Ursprungsländern nicht mehr konnten. Sofern sie sich nicht bewußt für einen Job in der westlichen Sexindustrie entschieden haben, wurde es ihnen auch faktisch so gut wie unmöglich gemacht, (legal) in einem anderen Beruf zu arbeiten. Zudem erfolgt ihre Migration oft aufgrund von Zwang oder falschen Versprechungen. Die notwendige Konsequenz wäre eine Legalisierung der besonderen Art, nämlich der des Berufszweigs der Prostitution. Für die Frauen, die per Heirat in den Westen kommen, wäre ein anderes Familien- und Ausländergesetz von existentieller Bedeutung, denn bisher hängt ihr Aufenthaltsrecht vom (deutschen) Ehemann ab.

Material zur Entwicklung Osteuropas und damit für die Gründe, die zu Migrationsentscheidungen führen, liefert der Text von Hannes Hofbauer. Zwar fällt er als eher historische Abhandlung etwas aus dem Rahmen des Buches, aber gerade dadurch werden die Hintergründe der Ost-West-Migration verstehbar. Sein Fazit ist: "Ökonomische Zerstörung und soziale Verelendung haben im Osten eine deformierte gesellschaftliche Struktur geschaffen, deren langfristig hohe Kosten derzeit niemand zu tragen gewillt ist. Die westeuropäische Innenpolitik ist bemüht, dem ganzen Ausmaß der osteuropäischen Krise mit Migrationskontrolle beizukommen."

Die von Almut Wilms-Schröder und Anna Dal Molin aufgezeichneten Gespräche mit drei illegalisierten Roma-Frauen zeigen eindringlich und in beeindruckender Sprache, mit welcher Realität sie konfrontiert sind und welche Bedeutung ein legaler Aufenthaltsstatus für sie hat. Wie wenig Verbindungen die in der Linken übliche Lebenswirklichkeit mit der ihren hat, obwohl der Alltag oft in den gleichen Stadtteilen stattfindet, ist frappierend und erschreckend.

Rolf Weitkamps materialreicher Artikel zur rechtlichen Hierarchisierung von MigrantInnen charakterisiert die ausdifferenzierten, juristischen Zugangsbeschränkungen zum deutschen Arbeitsmarkt als Hauptsteuerungsinstrument der Immigration. Die absichtlich große Ausdifferenzierung führt zu einem entsprechenden Steuerungspotential. Die jeweiligen Gesetzesregelungen richten sich nach den momentanen Anforderungen des deutschen Arbeitsmarkts. Die oftmals sehr verwirrenden unterschiedlichen Rechtsdefinitionen von "neuen ArbeitsmigrantInnen" als WerkvertragsarbeiterInnen, VertragsarbeitnehmerInnen, SaisonarbeiterInnen, GrenzgängerInnen und Illegalisierte usw. werden in dem Artikel erklärt und mit Zahlenmaterial veranschaulicht.

Mit der "Zwischenstellung" der "klassischen ArbeitsmigrantInnen" in der sozialen Pyramide als einem speziellen Aspekt der Hierarchisierung setzt sich der Beitrag von Önder Erdem auseinander. "Inwiefern klassische ArbeitsmigrantInnen dazu neigen, gegenüber den unterprivilegierten und ausgegrenzten, teilweise illegalisierten Flüchtlingen und 'neuen ArbeitsmigrantInnen' herrschende Denkweisen zu übernehmen" und sich auf die Seite der GewinnerInnen zu schlagen, wird sowohl theoretisch als auch an prägnanten Beispielen erörtert. Hierbei wird ein "Antirassismus", der sich im Lobbyismus einzelner MigrantInnengruppen erschöpft und diese gegeneinander ausspielt, abgelehnt, da er den "institutionellen Rassismus" stützt.

Die im Rahmen der "sozialistischen Bruderhilfe" von der DDR angeworbenen vietnamesischen VertragsarbeiterInnen berichten in dem Artikel von Heike Kleffner über ihre besondere Situation. Zu Zeiten großer Arbeitskraftnachfrage in den Staatskapitalismus der DDR geholt und dann in überwachten Wohnheimen einquartiert und reglementiert, sind sie im wiedervereinigten Deutschland "überflüssig". Sie sind starken Kontrollen ausgesetzt, wurden von Polizisten und anderen "Amtsträgern" mißhandelt und sind akut von Massenabschiebungen bedroht.

Das in diesem Sammelband hervorgehobene Interesse der Festung Europa an der Regulation und Steuerung der Migration geht einher mit der Aufrüstung der Grenzen zu Osteuropa, um unerwünschte Migration gar nicht erst zuzulassen. Diese "Migrationskontrolle" brachte im August 1994 mindestens zehn Menschen aus Sri Lanka und Pakistan den Tod. Die Recherche der Antirassistischen Initiative (ARI) Berlin zeigt auch, wie staatliche Behörden "Vorfälle" vertuschen.

Den Abschluß des Buches bildet ein Debattenteil, in dem Perspektiven und Strategien für und aus der antirassistischen Bewegung diskutiert werden. Der Vorschlag einer Legalisierungskampagne wird zum Ausgangspunkt genommen.

Dem Debattenteil entnommen ist auch das die Einleitung abschließende Zitat. Aktion Zuflucht Freiburg schreibt dort: "Die Lebenslagen der Illegalisierten sind schon kompliziert genug. Eine Bezugnahme auf sie kann häufig in sozialarbeiterische Einzelfallhilfe versacken, die den inhaltlich-politischen Bezugsrahmen allein schon aus Überforderung nicht mehr greifen kann. Andererseits kann keine andere als die an den konkreten Interessen und Bedingungen der illegalisierten Menschen orientierte Politik die Perspektiven entwickeln, welche die offenen Grenzen, die freien Flüchtlingsstädte u.ä. vorstellbar machen. Es kann nicht allein um einen inhaltlich korrekten Forderungskatalog gehen, sondern darum, ihn an Ort und Stelle umzusetzen. (...) Die Richtigkeit der Forderung nach einem faktischen Aufenthaltsrecht für Flüchtlinge ist von einer für die Linke beschwerlicher gewordenen Situation nicht beeinträchtigt. Sie steht als Notwendigkeit im Raum und ist nicht gegen die auch weiterhin richtige Forderung nach offenen Grenzen gerichtet."


 

Anmerkungen

 

(1) Für eine knappe, plastische Definition von Postfordismus vgl. das Zitat von Stuart Hall zu Beginn des Beitrags von Hans-Jürgen Bieling in diesem Band.

(2) Das läßt sich z.B. daran ablesen, daß offensichtlich noch um einen Begriff gerungen wird, mit dem dieser Umstand zu beschreiben ist. So werden in diesem Band statt "Pendelmigration" auch andere Begriffe mit ähnlichen Bedeutungen benutzt ("Oszillierende Migration", "Rotationsmigration").

 

 

 

 

 

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Wed Apr  2 16:34:46 1997