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Abschiebehaft in Sachsen Broschüre

Flucht und Asyl, Nr. 5, Dezember 1996

Bischof im Gefängnis

Sächsischer Bischof der Ev.-Luth. Kirche besuchte Abschiebehäftlinge

Seit Mitte 1993 nahmen die behördlichen Maßnahmen zur Abschiebung von Flüchtlingen in allen deutschen Bundesländern erschreckend zu. So stieg die Zahl von 8.280 Abschiebungen im Jahr 1991 auf 44.066 im Jahr 1994 und auf 30.252 im Jahr 1995.

Es kann nicht sein, daß allein die Annahme, ein Flüchtling könne sich der Abschiebung entziehen, zur Inhaftierung reicht. Häufig werden Flüchtlinge in Haft genommen, bei denen es sehr schwierig ist, Paßersatzdokumente zu besorgen, und der Erfolg in Frage gestellt ist. So z.B. ist es für Vietnamesen kaum möglich, von der Botschaft ein Visum für die Einreise nach Vietnam zu bekommen, da sie dieses nur gegen Zahlung von 1000 DM erhalten.
Diese und andere Gründe haben mich, den Ausländerbeauftragten des Ev.-Luth. Missionswerkes Leipzig, dazu bewogen, den Ev.-Luth. Bischof Sachsens, Volker Kreß, um einen Besuch sowie ein Gespräch in der Justizvollzugsanstalt (JVA) Leipzig zu bitten. In der JVA Leipzig sind auch Abschiebehäftlinge untergebracht. In zahlreichen Stellungnahmen der Kirche und kirchlicher Wohlfahrtsverbände wurde die praktizierte Abschiebehaft in den zurückliegenden Jahren immer stark kritisiert. Der Bischof entsprach meinem Wunsch und hat am 4. Oktober 1996, dem "Tag des Flüchtlings", diesen Besuch vorgenommen. Zum o.g. Zeitpunkt saßen in den beiden LeipzigeHaft- anstalten 17 Abschiebehäftlinge aus Rumänien, der Ukraine, aus Nigeria, Tunesien, Polen, Zaire, Pakistan und China ein.
Am Anfang stand ein Gespräch in den kirchlichen Räumen mit zwei Abschiebehäftlingen, einem aus Zaire und einem aus Nigeria. An diesem Gespräch haben neben dem Bischof sein persönlicher Referent, der Gefängnisseelsorger, eine Dolmetscherin, die zugleich auch Mitglied in der Abschiebehaftgruppe ist, und ich teilgenommen. Von diesem Gespräch waren wir sehr betroffen, denn es wurde uns von sehr persönlichen Nöten berichtet, und der Landesbischof hatte ein offenes Ohr für die geschilderte Situation.
Im Anschluß daran fand ein Gespräch mit einem Vertreter des Innenministeriums, dem Ministerialdirigenten des Justizministeriums, dem Gefängnisdirektor, Sozialarbeitern und einigen Mitarbeitern der im Ausländerbereich Tätigen der Evangelischen Kirche statt. In diesem Gespräch machten wir deutlich, daß wir die derzeitige Praxis der Abschiebehaft, wie sie auch in Sachsen gehandhabt wird, ablehnen. Die Grundrechte sind in einem erheblichen Maße eingeschränkt, obwohl die inhaftierten Flüchtlinge keine Kriminellen sind. Darum ist es dringend notwendig, andere Unterbringungsformen zu finden. Es darf nicht sein, daß Flüchtlinge unter den Bedingungen von Straftätern leben müssen. Bischof Kreß sprach davon, daß die Unterbringung im Gefängnis diesen Menschen das Stigma eines Straftäters verleiht. Außerdem forderte der Bischof eine bessere Durchschaubarkeit des Abschiebeverfahrens für die Betroffenen. "Sie verstehen in der Regel kein Wort Deutsch und können deshalb das Verfahren, das sie durchlaufen, kaum nachvollziehen", sagte Bischof Kreß. In diesem Gespräch wies ich auf die unzureichende soziale Betreuung von Abschiebehäftlingen hin. Für ca. 450 Strafgefangene und Abschiebehäftlinge in Leipzig stehen z.Z. nur 2 Sozialarbeiter zur Verfügung. Sie können sich aufgrund ihrer Arbeitsbelastung kaum mit den speziellen Problemen von Abschiebehäftlingen auseinandersetzen. Eine psycho-soziale Betreuung der Betroffenen durch Fachleute findet nicht statt. Abschiebehäftlinge wissen oft nicht, warum sie in Haft sitzen. Sie haben Angst, sie sind verunsichert und fühlen sich allein. Dadurch kam es seit Oktober 1993 bis Juli 1996 zu 26 Selbsttötungen sowie einer hohen Anzahl von Selbstmordversuchen in den Abschiebegefängnissen Deutschlands. Mit Sicherheit sind "Pro-Asyl" nicht alle Fälle bekannt geworden. In diesem Gespräch konnten wir noch folgende Erwartungen an die sächsische Regierung vorbringen:

  1. Die Abschiebepraxis in Sachsen muß verändert und in einem Gesetz geregelt werden.
  2. Strikte Beachtung und Einhaltung aller Gesetze sowie der Rechtsprechung.
  3. Abschiebehaft ist weitgehend zu vermeiden, z.B. bei Problemen der Paßbeschaffung und bei Nachweis eines festen Wohnsitzes.
  4. Bei einer Festnahme soll der Betroffene über seine Rechte informiert werden. Der Abschiebehaftantrag soll ihm schriftlich und in seiner Landessprache übergeben werden.
  5. Jugendliche unter 18 Jahren, Behinderte, alte Menschen, Schwangere und Mütter mit Kleinkindern dürfen nicht in Haft genommen werden.
  6. Die persönliche Situation jedes inhaftierten Flüchtlings muß berücksichtigt werden, und er sollte einen Rechtsbeistand haben.
  7. Informationsblätter, wie vom Flüchtlingsrat vorbereitet, sollen allen Abschiebehäftlingen in ihrer Landessprache zugänglich sein.
  8. Kontaktbeamte für Abschiebehäftlinge schaffen.
  9. Trennung von Abschiebehaft und Strafvollzug / Untersuchungshaft.
  10. Bewegungsfreiheit innerhalb der Einrichtung ohne Schließzeiten.
  11. Zu gewähren sind mindestens folgende Kommunikationsmöglichkeiten:
    • Zugang zu Zeitungen/Zeitschriften und Büchern in ihrer Muttersprache,
    • Fernsehen und Radio,
    • telefonieren können und angerufen werden.
  12. Familienangehörige, Bekannte und Freunde sollten ungehindert und ohne Zeitlimit Besuchsmöglichkeiten haben.
  13. Geregelte medizinische Betreuung bei freier Arztwahl.
  14. Auszahlung des Taschengeldes und Einkaufmöglichkeiten für den persönlichen Bedarf (Taschengeld wird in der JVA Leipzig ausgezahlt.)
  15. Arbeits- und Beschäftigungsmöglichkeiten.
  16. Wöchentliches Beratungsangebot der Ausländerbehörde in der Abschiebehaft.
Herr Preußker vom Staatsministerium für Justiz sagte, die geforderte rechtliche Regelung sei vorhanden. Er wies weiter auf die besorgniserregende Überbelegung in den sächsischen Gefängnissen hin. Aufgrund der Situation der Unterbringung in einer JVA müßten die Regelungen für die Abschiebehäftlinge denen entsprechen, die für die anderen Häftlinge auch gelten. Eine Begrenzung der Grundrechte gäbe es nicht. Er führte aus, daß die Spannungen erfahrungsgemä8 wachsen, wenn Abschiebehäftlinge in einer gesonderten Einrichtung untergebracht werden (z.B. Mannheim). Es entstünde ein "Durchlauferhitzer-Effekt", da die notwendigen Moderatoren fehlten.
Herr Springborn, vom Staatsministerium des Inneren: Neue gesetzliche Regelungen würden notwendig werden, wenn die Abschiebehaft in die Zuständigkeit des Sächsischen Staatsministeriums des Inneren fiele. Die Frage einer gesonderten Abschiebehaft würde eruiert. Er stimmt zu, daß eine Stigmatisierung der Abschiebehäftlinge vermieden werden muß.
Die Vertreter der beiden Ministerien sagten uns eine Prüfung zu, desweiteren wird geprüft, ob in den unterschiedlichen Sprachen ein Informationsblatt für Abschiebehäftlinge realisiert werden kann. Als Vorlage dient der Entwurf des Leipziger Flüchtlingsrates. Herr Springborn wurde gebeten, die beiden Fälle der Abschiebehäftlinge zu überprüfen.
Beendet wurde der Besuch mit einem Rundgang durch die JVA. Das Fernsehen führte daran anschließend ein Interview mit den staatlichen Vertretern und dem Landesbischof Volker Kreß. In meiner Dienststelle, dem Ev.-Luth. Missionswerk, gab es um 13.15 Uhr noch eine Pressekonferenz, an der mehrere Redakteure von Zeitungen, Rundfunkanstalten und einer Fernsehanstalt teilnahmen.
Am Nachmittag führte der Landesbischof einen Besuch im Justizvollzugskrankenhaus durch, bei dem es auch noch zu Gesprächen mit Inhaftierten und auch mit Mitarbeitern kam. Den Abschluß bildete ein Gottesdienst.

Dieter Braun, Ausländerbeauftragter des Ev.-Luth. Missionswerkes Leipzig

Anhang I Seite 34,35
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