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Abschiebehaft in Sachsen Broschüre

Flucht und Asyl, Nr. 6, Mai 1997

Versprechen, Verschweigen, Verleugnen

oder: Große Anfrage und Debatte zum Thema Abschiebehaft im Sächsischen Landtag

Auf Anregung der Abschiebehaftgruppe stellte die PDS am 12. Juni 1996 im Sächsischen Landtag eine "Große Anfrage zur Praxis der Abschiebehaft im Freistaat Sachsen" (DS 2/3443), die am 10. Oktober 1996 beantwortet wurde. Am 23. Januar 1997 fand diesbezüglich im Sächsischen Landtag eine Debatte statt.
Die Beantwortung der mehr als 50 Fragenkomplexe der Großen Anfrage war für uns als Abschiebehaftgruppe einerseits sehr interessant, andererseits wurde wieder deutlich, daß das Sächsische Ministerium des Innem (SMI) Probleme beim Vollzug und Defizite bei der Anordnung der Abschiebehaft zum Teil verschweigt, schön redet oder gar verleugnet.
So behauptet das SMI, Abschiebehäftflinge hätten mehr Rechte als U-Häftlinge, was z.B.
Im folgenden dokumentieren wir einige Fakten aus der Beantwortung der großen Anfrage durch das Sächsische Innenministerium.

Zum Stichtag (30. April 1996)

  • gab es 63 Abschiebehäftlinge in Sachsen, darunter 10 Frauen in der JVA Stollberg und 2 Jugendliche unter 16 Jahren (in Dresden)
  • befanden sich die meisten Abschiebehäftlinge (18) in Leipzig
  • kamen die meisten Abschiebehäftlinge aus Rumänien (12), der Ukraine (6), Atgerien (5), der Türkei, Moldawien und Marokko (je 4);
  • saßen die meisten Abschiebehäftlinge wegen dem im Gesetz sehr allgemein formulierten Verdacht des Untertauchens (35) oder wegen illegaler Einreise (26), nicht aber wegen konkreten Haftgründen
  • saßen 180 Ausländer allein wegen ausländerrechtlichen Verstößen, die Deutsche nicht begehen können, in U- und Strafhaft.
1995 und im 1. Quartal von 1996 wurden 1328 Häftlinge ab- und zurückgeschoben, auch in Länder wie die Türkei (11), in den Iran (2) und nach Nigeria (4). Im gleichen Zeitraum mußten 291 Häftlinge entlassen werden, jedoch nur in einem Fall aufgrund einer Haftbeschwerde.
Die Abschiebehaft dauerte 1996 durchschnittlich 26,88 Tage.
Das Justizministerium hat 55 Plätze für Abschiebehäftlinge in sächsischen JVA's (davon 13 in Leipzig) reserviert. In Zittau wird wahrscheinlich eine eine Abschiebehaftanstalt ca. 100 Plätzen entstehen.
Seit 1991 kam es zu 2 Selbstmorden, 4 Meutereien und 5 Ausbrüchen / Ausbruchsversuchen von Abschiebehäftlingen. Bis Februar 1995 gab es 12 Hungerstreiks, die länger als 7 Tage dauerten. Seitdem müssen Hungerstreiks nicht mehr beim Justizministerium gemeldet werden.
Besuchsmöglichkeiten und Telefonate betrifft. Das trifft jedoch in Leipzig und anderen sächsischen JVA's nicht zu. Obwohl die Gefängnisse überbelegt und zu wenig Sozialarbeiter und Psychologen angestellt sind, kann das SMI keine Defizite erkennen. Wie die Abschiebehäftlinge deutsche Behördenpost verstehen sollen, stellt sich das SMI folgendermaßen vor: Erst sollen Mithäftlinge übersetzen, ansonsten helfen die Beamten der JVA, hinzugezogene Dolmetscher oder sogar die Ausländerbehörde. Während ersteres häufig vorkommt, das zweite ab und zu, wobei nach der Qualität der Übersetzung zu fragen wäre, gehen die letzten beiden Punkte völlig an der Realität vorbei. Die Frage, ob ganze Familien inhaftiert werden, beantwortet das SMI erst gar nicht. Genausowenig konnten (auch uns bekanntgewordene) Unregelmäßigkeiten bei der Haftanordnung aufgeklärt werden - das SMI leugnet sie schlichtweg. Und über die Motive von Selbstmorden liegen dem SMI "keine sicheren Erkenntnisse vor" - wo doch alles in bester Ordnung ist.
Auf diese Mängel ging die Abschiebehaftgruppe auch in einer Presseeklärung vom 20. Januar 1997, drei Tage vor der Debatte im Landtag, ein. Obwohl die Presseerklärung exemplarisch unsere Kritikpunkte erläuterte. war die Resonanz leider nur gering. Lediglich die Leipziger Volkszeitung und Radio Leipzig berichteten. Die Presseerklärung stellte aber auch klar fest, daß wir "unabhängig von dieser Kritik (...) die Abschiebungshaft als staatliches Zwangsmittel kategorisch (ablehnen) Unsere Hauptforderung deshalb ist, die Abschiebungshaft abzuschaffen."
Während die PDS in der Debatte im Landtag einen Entschließungsantrag zur Anordnung und dem Vollzug der Abschiebehaft einbrachte, der sich an der Kritik des Sächsischen Bischofs de Ev-Luth. Kirche orientierte (siehe Flucht und Asyl. Nr. 5, S. 6-7) und der in ähnlicher Form in Nordrhein-Westfalen Gesetzeskraft erlangt hat, polemisierten die CDU-Abgeordneten lediglich gegen die PDS wegen ihrer SED-Vergangenheit und erklärten, daß die Abschiebungshaft zur Integration der "guten" Ausländer, der "Vorbeugung gegen aufkeimenden Rechtsextremismus" und für den Erhalt des Sozialstaates notwendig sei. Die meisten Abschiebehäftlingen seien "nicht willkommene Urlauber mit Vollverpflegung und Taschengeld, und das womöglich über mehrere Jahre hinweg", die "ihren Lebensunterhalt durch illegale Arbeit oder auf andere kriminelle Art und Weise" bestreiten.
Die SPD-Abgeordnete forderte in ihrer Rede eine Trennung der Abschiebe- von der U-Haft und Vollzugserleichterungen. Deshalb begrüßte sie die geplante Einrichtung einer zentralen Abschiebehaftanstalt für Sachsen in Zittau. Ähnlich äußerte sich der Ausländerbeauftragte Sachsens, Herr Sandig (CDU), der betonte, daß das Instrumentarium der Abschiebehaft unerläßlich sei. Dem Entschließungsantrag der PDS schlossen sich die CDU und SPD nicht an, da seine Forderungen die Unterstellung enthalten würde, daß die derzeitige Praxis anders aussehen würde. Den Redebeiträgen ist zu entnehmen. daß sich keine Fraktion richtig auf die Debatte vorbereitet hat. Deutlich wird dies an der Dominanz einer parteipolitischen Diskussion. die am hitzigsten wird, als sich ein CDU- Abgeordneter verspricht und den PDS-Abgeordneten Porsch als Frosch bezeichnet.

Andreas Englisch, Abschiebehaftgruppe

P.S. Eine Kopie der Antwort auf die Große Anfrage und der Debatte ist gegen Unkosten im Büro des Flüchtlingsrates erhältlich.

Anhang I Seite 37
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