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Sun Jul 30 18:16:31 1995
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Absender : M.MERLIN@TBX.berlinet.in-berlin.de (Maurice Merlin)
Betreff : Moench: Ein Szenario ...
Datum : Mo 01.05.95, 23:00 (erhalten: 04.05.95)
Prof. Dr. Ronald Mönchy
_Ein Szenario für eine politische Lösung der kurdischen Frage_
_im türkisch besetzten Teil Kurdistans_
Vortrag auf der Menschenrechtstagung "Volk ohne Menschenrechte? Zur Lage
und Perspektiven der Kurdinnen und Kurden in Kurdistan, der Türkei und
Deutschland" am 11.12.1994
1. Einführung
Ein Szenario ist ein Drehbuch, eine ausschnittsweise Situationsbe-
schreibung und zugleich Handlungsanweisung, ein Anfang, ein Vorgehen und
ein Ende. Ein Szenario ist nicht planlose Diskussion, sondern ein
planerischer Entwurf.
Die deutsche Außenpolitik im besonderen, aber auch die Innenpolitik
stehen noch in der Wilhelmstraßentradition, einer Tradition, wonach
Außenpolitik keiner Beratung bedürfe, aus sich heraus richtig sei, sich
gegen Kritik immunisieren könne, von daher auch über lange Jahre eine
einmal eingeschlagene Richtung (Politikmuster) unretlektiert
weiterführen könne. Die Politik der USA hingegen arbeitet viel mit
Szenarien: Sie folgt einer Maxime, einem Politikmuster, läßt sich aber
zugleich permanent neue Maximen vorstellen, zur Reflexion, zur
Absicherung, aber auch zur Neuorientierung, bisweilen sogar zu
dramatischen Brüchen. So ist etwa der Israel-Palästina-Dialog eine
bemerkenswerte Veränderung amerikanischer Politik, aber hinter den
Kulissen szenarienhaft vor-gedacht, vor-durchdacht. Zahlreiche weitere
Beispiele ließen sich finden (Vietnam, Südafrika, Sowjetunion).
Die ungelöste kurdische Frage, wohl die politische Kernfrage des
Nahen Ostens der Gegenwart und der nahen Zukunft, bedarf der Vorarbeit
durch Szenarien.
Szenarienarbeit besteht aus drei Schritten:
- Verständigung über fixe Rahmcnbcdingungen/Ausgangspunkte und für ein
Einzelszenario (wie ich es hier vorstellen werde) Festlegung von
(wahrscheinlichen) variablen Prämissen.
- Verständigung über ein Ziel-Modell eines Einzelszenarios bzw.
Offenlegung alternativer Ziele bei offener Szenarienarbeit.
- Erläuterung von (wahrscheinlichen) Handlungsverläufen und Benennung
geeigneter Strategien, bisweilen auch Taktiken, zur Beeinflussung
dieses Handlungsgeschehens als Bindeglied zwischen dem thesenartig
abstrahierten Status quo nunc und dem Ziel-Modell.
Szenarienarbeit verknüpft vorgefundene Tatbestände, Wahrscheinlich-
keiten der Erwartungsebene, Ziele und Handlungsanweisungen. Szenarien-
arbeit ist in aller Regel nicht statisch-fortschreibend, sondern
unterstellt, daß alternative Politiken denkbar sind; sie holt damit die
Zieldiskussion in die häufig resignative Tagesarbeit (in der Türkei ist
das eben so; die kurdische Frage ist nicht lösbar). Selbstverständ-
lich kann das Ergebnis szenarienhaften Denkens auch die Fortschreibung
des Status quo nunc sein; allein in der Anstrengung, alternative Ziele
und Handlungsverläufe bzw. Handlungsempfehlungen anzudenken, liegt
jedoch auch ein Element der intellektuellen Befreiung von den oft
beschworenen Zwängen des Faktischen (die nur zu oft eher Ausdruck der
geistigen Erstarrung und Bequemlichkeit, als objektiver Zwänge sind).
Die oft drastische Unterschiedlichkeit der Variationen und
Alternativen ist der eigentliche Zweck von Szenariendenken.
Einzelszenarien lassen sich also im Ergebnis nach unterschiedlichen
Kriterien systematisieren bzw. bewerten:
- wünschenswerte - weniger wünschenswerte
- wahrscheinliche - weniger wahrscheinliche
- risikolose - riskante
- kühne - konservative
- und viele mehr.
Szenarienarbeit ist Denken: vernehmlich, aber nicht laut, diskursiv
im Verhältnis der einzelnen Szenarien zueinander, phantasievoll,
verantwortlich, planvoll-logisch.
Auf allen Szenarienebenen verbinden sich rationale und wertende
Elemente. Die Setzung von Zielen ist, wenn sie nicht reine
Fortschreibung des Status quo ante ist, Ausdruck von Werteordnungen
(westliche Werte spielen etwa in meinem Szenario eine große Rolle).
Auch in der Auswahl und Kategorisierung von Rahmenbedingungen, also der
verkürzten, thesenhaften Darstellung des Status quo nenc, steckt Wertung
(von daher auch die Notwendigkeit, alternative Szenarien zu haben, bevor
eine politische Entscheidung erfolgt). So sind auch Handlungsverläufe
nicht nur naturwissenschaftlich vorstellbare Kausalketten, sondern von
Wertungen beeinflußt. Und empfehlenswerte Strategien, also langfristiges
Handeln, können sich nur im Rahmen wenn auch sehr unterschiedlicher
Wertsysteme vollziehen.
Banal ausgedrückt: Szenarien müssen zugleich pragmatisch-realistisch
sein (also nicht Weihnachten, Ostern und Geburtstag für den
Nachfrager), wie auch phantasievoll-visionär, langfristig angelegt.
Die Motivation für Szenarienarbeit resultiert aus der Verantwortung
der Politik für langfristig stabile, friedensorientierte Lösungen, wie
auch aus dem oft dumpfen Mißbehagen über den Status quo, der seinerseits
verstanden werden könnte als Resultat langer defizitärer Politiken, als
Resultat von Szenarienlosigkeit unseres politischen Denkens und
Handelns.
Als kluge Verknüpfung von Realien (Pragmatismus) mit Phantasie, von
logisch-analytischem Denken und werteorientierten Setzungen bereitet
Szenarienarbeit eine Politik vor, die, bildlich gesprochen, die
Unbeweglichkeit behördlich-diplomatischer Apparate und das Sichschicken
in scheinbar unabänderliche Handlungsverläufe ersetzt durch die Bewegung
von Kaninchen: Lange verharrt es auf den hinteren Läufen, während die
Vorderläufe neues Terrain tastend erproben; und plötzlich nimmt das
Kaninchen im Sprung eine neue Position ein.
Szenarienarbeit ist eine Art Schachspiel: Viele Züge werden getätigt,
aber in revisibler Form: Die Finger bleiben sozusagen auf den Figuren.
Der Sinn der Szenarienarbeit kann vornehm umschrieben werden:
Quidquid agis, prudenter agas et respice finem (was immer du tust,
handle klug und bedenke das Ende).
Szenarienarbeit ist diskursives Denken in Alternativen: Die
Gegenüberstellung von unterschiedlichen Zielsetzungen und/oder
Handlungsverläufen gibt dem Ganzen einen Sinn. Ich beschränke mich auf
ein Szenario (das OU-Szenario), das indessen schon seiner
Langfristigkeit wegen zahlreiche Zwischenszenarien mit einschließt. Aus
Platzgründen belege ich die Prämissen/Rahmenbedingungen nicht. Die
vorgegebene Beschränkung auf die Türkei kann ich nicht durchweg
einhalten. Ich gehe davon aus, daß das von mir vorgestellte Szenario
wünschenswert und langfristig plausibel ist. Es soll nicht originell
sein, sondern ist eine bewußte Übertragung bewährter, positiver
Entwicklungcn in Westeuropa auf den Nahen Osten.
Damit löse ich bewußt einen Selbstreflexionsprozeß bei Kurden und
Türken aus, die aus nachvollziehbaren Gründen Schwierigkeiten haben,
über westliche Modelle auch nur nachzudenken. Für die Konfliktparteien
des Nahen Ostens führt jedoch kein Weg daran vorbei, dieses und andere
Szenarien fürsich zu betrachten, es also weder vorbehaltlos zu
akzeptieren noch auch, es unbesehen zu verwerfen, nur weil es aus dem
Westen kommt. Für Negativmotivationen bleibt kein Raum; die Verantwort-
lichkeit der nahöstlichen Akteure gebietet eine vorurteilsfreie
Befassung.
2. Welche Szenarien finden wir vor?
a) Es gibt kein systematisches Friedensszenario für Kurdistan in
schriftlicher, umfassender Form, schon gar nicht mehrere Szenarien zur
Durchsicht:
- Am weitesten ist offenbar noch die PKK. Das Bündel von Verhandlungs-
angeboten seit März 1993 ent hält insgesamt interessante Ansätze für
ein Szenario, zumal wenn wir die Essentialia verschiedener Interviews
des Generalsektetärs Abdullah Öcalan mit ausländischen Gesprächspart-
nern, etwa mit Udo Steinbach vom Deutschen Orient-Institut Hamburg,
miteinbeziehen. Aber vieles bleibt vage.
- Auch die Türkei legt keine friedensorientierten Drehbücher vor: Die
gegenwärtige ül Anfal-Option, d.h. die planmäßige Zerstörung des
türkisch besetzten Teils Kurdistans, ist sicherlich konsequent durch-
dacht, aber schließt die Türkei aus dem Kreise der Kulturnationen
aus, weil praktisch alle internationalen Normen verletzt werden. Ohne
Zweifel gab es bis vor kurzem ein anderes Drehbuch, das von Turgut
Özal: Verbunden mit konkreten Planungen einer militärischen Wieder-
vereinigung von Nordkurdistan und Südkurdistan (Regionen Mossul und
Kirkuk) nach der irakischen Besetzung von Kuweit im Winter 1990/91,
und dem daraus resultierenden steigenden Gewicht der kurdischen
Bevölkerung in der Republik Türkei, war ein in mehreren kleineren
Schritten Özals erkennbarer Abschied von der kemalistischen Prägung
der Türkei zu erkennen, also die grundsätzliche Anerkennung der
anatolischen Realitäten. Mit dem Tode von Turgut Özal ist dieses
zaghafte neue Szenario in der Türkei untergegangen.
- Auch ein westliches (deutsches, europäisches, amerikanisches)
Kurdistan-Szenario ist nicht in Sicht, wenngleich eine Reihe von
Indizien dafür spricht, daß in den USA Alternativen durchdacht
werden.
- Genausowenig ist ein nahöstliches Szenario erkennbar, also ein
Konzept, wie die Teilungsstaaten (evtl. sogar unter Einschluß ihrer
Nachbarn) in Zukunft (miteinander, gegeneinander, über- und
untereinander) zu leben gedenken.
b) Wenn es auch im engeren Sinne keine Drehbücher für eine vertiefte
Diskussion gibt, so gibt es doch die realen Politiken, von denen wir
annehmen dürfen, ja müssen, daß sie auch von ihrem Ende her durchdacht
und in diesem Sinne langfristig angelegte Setzungen sind: Die inzwischen
grenzenlose türkische Vernichtungspolitik nach dem Vorbild Saddam
Husseins, die vorbehaltlose, kontinuierliche Unterstützungspolitik des
Westens zugunsten der Türkei, die reale Politik der kurdischen Seite, in
einem Politikmix von friedlichen und militärischen Widerstandsformen,
immer wieder sekundiert von Angeboten der Verhandlung.
Wegen der zerstörerischen Wirkung, die von dem ül Anfal-Szenario,
der türkischen Option, auf die gesamte türkische Gesellschaft
ausgeht, bezweifeln viele Beobachter, daß dieser türkischen Bewegung
überhaupt ein durchdachtes Ziel innewohne. Dann hätten wir eine
kafkaeske Politik, in der Weg (Zerstörung) und Ziel miteinander
verschmelzen.
3. Brauchen wir ein neues Szenario? Oder gar mehrere neue?
Es gibt _vier Schlüssel_ zur Lösung der kurdischen Frage. Vier
Akteure halten sie in der Hand: Kurden, Türken, der Westen und die
Region insgesamt. Keiner kann die Lösung alleine erzwingen, aber jede
Umdrehung auch nur eines Schlüssels öffnet die Tür zur Lösung ein wenig.
a) _Kurden_ brauchen dringend neue Szenarien: Bei zwischen 10.000 und
30.000 Toten pro Jahr, bei an die 2000 innerhalb von vier Jahren von der
türkischen Arrnee zerstörten Dörfern, bei 2 Millionen kurdischen Flücht-
lingen in Kurdistan selbst (also abgesehen von den etwa 10 Mio. Kurden,
die schon bisher den Osten verlassen haben), bei der Einrichtung von
Konzentrationslagern in Kurdistan, bei Hunderttausenden von Folter- und
Mißhandlungsopfern besteht dringendster Bedarf an intelligenten Lösungs-
würfen. Die ersten Schritte hierzu hat die Kurdische Nationalbewegung
(KNB) in all ihren Segmenten getan, aber der größte Teil der Arbeit
liegt noch vor ihr.
b) Die _Türkei_ braucht dringend neue Szenarien: Nach Angaben von
Ministerpräsidentin Ciller belaufen sich die Kosten für den zehnjährigen
Krieg gegen die PKK, der zu einem Krieg gegen das gesamte Kurdistan
geworden ist, auf 100 Mrd. DM; diese Summe entspricht dem Gesamtbetrag
der türkischen Auslandsschulden. Auf die Selbstzerstörung der Türkei,
auf den wirtschaftlichen, sozialen und moralischen Niedergang dieses
Landes von innen, auf den politischen Kursverlust des Landes auf der
internationalen Politikbörse wird immer häufiger hingewiesen. Die Türkei
kann die Kriegsdividende nicht bezahlen.
c) _Alle Teilungsstaaten, d. h. die gesamte Region_, brauchen neue
Szenarien. Die kurdische Frage ist eine Querschnittsfrage, die seit
sieben Jahrzehnten die gesamte Region belastet, und deren positive,
politische Lösung die gesamte Region bereichern würde.
d) _Deutschland_ braucht ein neues Kurdenszenario: Seit mehr als 150
Jahren hat Deutschland die osmanisch-türkische Politik, folglich auch
die Antikurdenpolitik, mitgetragen und mitzuverantworten. Kurden wissen
dies genau. Der Reimport dieser deutschen Außenpolitik hat uns zunächst
nicht eine wirkliche Bindung der Türkei gebracht. Es täte den
Protagonisten dieser Art von deutsch-türkischer Freundschaft gut,
regelmäßig türkische Zeitungen zu lesen. Nicht nur Genscher (Waffenstop
1992) oder Schmalstieg (Rede aus Anlaß der Beerdigung eines jungen
Kurden in Hannover 1994) haben zu spüren bekommen, daß sich die Basis
dieser deutsch-türkischen Freundschaft nur dann als einigermaßen
stabil erweist, wenn die gesamtc Innen- und Außenpolitik vorbehaltlos
und uneingeschränkt unterstützt und mitgetragen wird. Hans ist noch
eher bei den Kemalisten als bei den Fundamentalisten der Inbegriff und
die Ursache allen Scheiterns. So soll neuerdings die PKK ein Produkt
mitteleuropäischer Politik sein.
- Kurden wiederum tragen die Last deutscher Verstrickung in die
türkische Antikurdenpolitik mit sich in einem unsichtbaren Rucksack,
wenn sie aus Kurdistan emigrieren. Sie werden damit in der Migration
sukzessive zu einem Sicherheitsproblem.
Unverkennbar nutzen die orientalischen Geheim- und Sicherheitsdienste
dieses aus. Mögen auch nach Gewaltakten 1993-1994 immer wieder
kurdische Einzeltäter gefaßt werden, so drängt sich doch die Frage
auf: Cui bono? Wem dient dies alles? Sicherlich nicht der Stärkung
der KNB in Westeuropa. Wohl aber dem Legitimationsinteresse der
Türkei. Wer finanziert und steuert die Hintermänner dieser Gewalt-
taten? So ist mir etwa der jüngste Kronzeuge gegen die PKK-Politik,
Cürükkaya (Die Verse des Apo), 1992/1993 sehr unangenehm als
ausgesprochen extremistischer Einpeitscher aufgefallen, als ein
besonderer Scharfmacher (Krieg gegen Deutschland). Nun soll
derselbe Scharfmacher Kronzeuge des PKK- Extremismus sein?
Die Verschmelzung einer gescheiterten und phantasielosen Außenpolitik
mit einer ausschließlich verbots- und polizelorientierten Innen-
politik (Katalysatorfunktion der Kurden) gebietet zwingend neue
Ansätze.
- Unerfreulich ist auch der Import türkischer Unwerte (Kemalismus,
Chauvinismus, nackte Gewalt) im Rucksack der türkischen Dispora, auch
ein praktisch unerforschtes und tabuisiertes Feld. Özgür gündem
belegt nicht nur in der Türkei die Realität von Presse-Unfreiheit
(Strafverfahren gegen Redakteure nach dem ATG, Ermordung von
Journalisten und Verkäufern, Beschlagnahmen und Sprengen von
Verkaufskiosken und das Sprengen der Redaktion in Istanbul am
2.12.1994), die türkische Diaspora hat auch in Deutschland Druck
ausgeübt, diese Zeitung nicht zu kaufen!
Die Migration von Kurden und Türken zwingt zu einem radikalen
Überdenken der deutschen Nahostpolitik der letzten 150 Jahre. Dreh- und
Angelpunkt hierfür ist ein neues Kurdenszenario.
4. Rahmenbedingungen/Prämissen/Eckpunkte eines neuen Szenarios
(Status quo nunc)
A. Die Region_
- Kurden, Türken, Perser, Araber - um nur einige orientalische Ethnien
zu nennen -: Sie sind dazu verurteilt, zusammen leben zu müssen.
Es gibt keine Alternative hierzu, auch nicht die immer intensivere
Emigration und Migration. Ein üuslagerungsszenario und eine
Emigrationsstrategie, sie sind unrealistisch (und
völkerrechtswidrig).
- Für dieses Üusammenleben haben sich in den vergangenen fünf
Jahrzehnten die normativen Grundlagen erheblich verschoben: Unter
Geltung der UN-Charta, der KSZE-Bestimmungen und weiterer völker-
rechtlicher Entwicklung ist das künftige Zusammenleben von Völkern
nur noch unter den Maximen von Gleichberechtigung, Selbstbestimmung
und ethnischer Emanzipation friedlich vorstellbar: Zwangsassimila-
tion, Genozid, Ökozid, Über- und Untereinander, sind überholte und
a priori unfriedliche gesellschaftliche Grundmuster.
- Daher kann auch im Zusammenleben von Ethnien auf Dauer nur die Lösung
funktionieren, das Szenario gelten, das wenigstens auf einen
Minimalkonsens unter den Beteiligten ausgerichtet ist. Konsens in der
Sache, im Ziel, setzt Verhandeln im Verfahren voraus. In den
fortlaufenden Verhandlungsforderungen und -angeboten der PKK kommt
ein systematischer Politikvorsprung der kurdischen Seite gegenüber
der Verweigerungshaltung der türkischen Generalität zum Ausdruck.
- Diese türkische spezifische Politikunfähigkeit ist nur ein Teilstück
von allgemeinerer Politikunfähigkeit der Teilungsstaaten. Die
politische Erstarrung der Region, die sich auch in Okkupation und
Annexion, externem Krieg und interner Unterdrückung ausdrückt, wird
an der kurdischen Frage deutlich, geht in ihren Auswirkungen aber
viel weiter.
- Kein Teilungsstaat hat zur Zeit eine einigermaßen überzeugende,
geschweige denn akzeptable Kurdenpolitik. Das Überalterungssyndrom
der Politikmuster (Kemalismus; Militärdiktatur u.v.m.) löst
widerspruchsvolle und a priori unfriedliche Einzelpolitiken,
Einzelstrategien aus. Dies gilt sowohl im Verhältnis untereinander
wie auch in ihrer jeweiligen Binnenpolitik u.a. gegenüber der
kurdischen Ethnie.
- Damit hängt zusammen, daß der gesamte Nahe Osten (schen wir einmal
von Israel ab) schlecht im Kurs steht. Dieser schlechte Kurswert
der regionalen Politik insgesamt und der Einzelpolitiken im
besonderen kontrastiert auffällig zu der geostrategischen Bedeutung
der Region und den darauf gegründeten Einwirkungsinteressen des
Westens.
Mit anderen Worten: Der regionale Status quo ist insgesamt weder
überzeugend noch erfreulich.
B. Der Westen
- Deutschland. Europa, die USA (der Westen) haben _in der Region_
_vitale Interessen:_ Sicherheit und Versorgung. Angesichts der realen
Kräfteverhältnisse wird es keine Lösung ohne den Westen geben.
(Interessenprämisse).
- Traditionell hält es der Westen mit dem, der, mit welcher
Legitimation auch immer, wie auch immer, wozu auch immer, vor Ort die
Macht innehat. Das Einwirkungsinteresse des Westens manifestiert sich
als Beharrungsprämisse.
- Anders ausgedrückt wird der Westen auch dann nichts riskieren, wenn
die Verhältnisse eigentlich untragbar sind, er bleibt letztlich auf
Distanz (äistanzprämisse). Das wirkt enttäuschend, wenn Hoffnungen
geweckt werden (Kuweit-Krise), gibt jedoch den regionalen Kräften
mehr Bewegungsraum (und damit auch mehr Verantwortung), als offen
zugestanden wird.
- Deutschland_ ist durch die Entwicklung in der Türkei und in
Kurdistan -besonders betroffen_, weil Kurden in der Migration die
deutsche, kurdenfeindliche Außenpolitik reimportieren, weil die
türkische Migration die kemalistischen und fundamentalistischen
Wertemuster der Türkei importiert, und weil angesichts der zwei
Millionen Migranten aus der Türkei jede dortige Entwicklung sich
unmittelbar innenpolitisch in Deutschland auswirkt
(Betroffenheitsprämisse).
- Die gebotene Erneuerung der deutschen Türkeipolitik wird indessen
durch das tradierte Paradigma der deutsch-türkischen Freundschaft
verhindert. Diese mehr als 160 Jahre alte, immer wieder durch neue
Einzelparadigmen erneuerte Politikmaxime bedeutet in praxi eine
besondere Unbeweglichkeit der deutschen Politik.
- Statt dessen beobachten wir eine zunehmende Reduktion deutscher
Kurdenpolitik auf polizeiliche Lösungsstrategien.
C. Die Türkei
- Alle Teilungsstaaten haben extrem zentralstaatliche Strukturen (mit
der früher formal geltenden Ausnahme des Kurdenstatus im Irak). Diese
_Zentralismusstruktur_ wirkt traditionell extrem
_minderheitenfeindlich, peripheriefeindlich_, kooperationsfeindlich
und friedensfeindlich.
- Ungebrochcn sind _praktisch alle Teilungsstaaten_ jenseits ihrer
politisch wechsel haftcn Etiketten _despotisch, diktatorisch_, nicht
demokratisch im westlichen Sinne.
- Alle Teilungsstaaten sind _militärisch geprägt_. Die
Machtverhältnisse sind seit Jahrzehnten, in der Türkei seit Gründung
der Republik Türkei, von den Militärs geprägt; die Militäranteile am
jeweiligen Bruttosozialprodukt übersteigen in der Regel um das
Zehnfache den Anteil in wohlhabenden Industriestaaten.
- Die zivile Gesellschaft ist in allen Teilungsstaaten deutlich
unterentwickelt; wegen der hohen Militärausgaben sind auch die
endogenen Entwicklungskräfte schwach entwickelt.
- Alle Teilungsstaaten haben aus diesen und weiteren Gründen
(Multiethnizität) einen besonders ausgeprägten _Chauvinismus_, der
den Identitätsproblemen dieser überwiegend neuen, bzw. neu
strukturierten Staaten entspricht.
- Diese Gemeinsamkeiten weisen die politischen und gesellschaftlichen
Strukturen der Teilungsstaaten als veraltet aus; in dieser Veraltung
der staatlichen Maximen liegt zugleich eine strukturelle
Politikunfähigkeit begründet.
- Im Verhältnis zur kurdischen Minderheit ist eine antikurdische
Politik praktisch die einzige kontinuierliche politische
Gemeinsamkeit der Teilungsstaaten; im übrigen ist ihr Verhältnis
zueinander von zum Teil Jahrhunderte, bzw. Jahrtausende alten
Antagonismen geprägt.
- Der türkisch-kurdische Konflikt hat mittlerweile eine Dimension
erreicht, die auf türkischer Seite militärisch nicht zu gewinnen
ist.
- Der antikurdische Krieg der Türkei hat die türkische Gesellschaft in
mehrfachem Sinne traumatisiert, das erschwert den Abschied von den
alten Maximen.
- Zugleich wird der Eindruck immer stärker, daß die türkische Armee und
die zahllosen Sicherheitskräfte den Krieg gegen die kurdische
Bevölkerung _möglicherweise auch nicht gewinnen wollen_; für diese
Deutung spricht die Tatsache, daß der dramatisch überbesetzte
Sicherheitsapparat der Türkei praktisch nur im Konflikt mit der
kurdischen Bevölkerung seine Legitimation findet. Dann wäre der
permanente Krieg das eigentliche Kriegsziel, sozusagen der ständige
Beweis für die Notwendigkeit undUnentbehrlichkeit des
Militärapparats.
- Andererscits ist in keinem Teilungsstaat der Widerspruch zwischen
westlicher und orientalischer Option so ausgeprägt wie in der
Türkei, die sich politisch janusköpfig präsentiert.
- Die Prolongation des Status quo in der Kurdenfrage verhindert
innertürkische Entwicklungen und wirkt sich selbstzerstörerisch für
das gesamte Land aus.
- Die Gegenwart weist die Türkei als ein durch die staatliche
Kurdenpolitik zweigeteiltes Land aus: Die Separation ist längst von
Ankara betrieben und in Kurdistan handgreiflich. Weil die
kemalistische Türkei die Zweiteilung des Landes - die Separation -
selbst herbeigeführt hat, sie zugleich aber als Tatbestand
tabuisiert, wird jede Form von Separatismus stark denunziert.
D. Die Kurdische Nationalbewegung
- Die Kurdische Nationalbewegung (KNB) innerhalb der Türkei ist seit
dem 3. Militärputsch 1980 zunehmend durch die PKK repräsentiert; im
Exil sind weitere Segmente der KNB aktiv. Seit jeher ist die
kurdische Nationalbewegung in der Republik Türkei illegal, in welcher
Form sie auch immer auftritt. Die Radikalität der PKK ist ein
Resultat und zugleich ein Spiegel der Intensität staatlicher
Unterdrückung der Kurden.
- Nach wir vor äußert sich der kurdische Widerstand schwerpunktmäßig
_in zahlreichen zivilen Formen_; traditionell werden diese
friedlichen Formen kurdischen Widerstands in der kemalistischen
Türkei als Krieg verstanden. Auf sie ist bisher nie politisch
reagiert worden. Im Westen wird dieser Schwerpunkt des kurdischen
Widerstandes traditionell totgeschwiegen.
- Um so mehr Beachtung findet der bewaffnete kurdische Befreiungskampf,
der vorschnell allgemein als Terror denunziert wird. Wie immer dieser
Kampf völkerrechtlich zu bewerten ist, er ist nach wie vor ein eher
symbolischer Kampf.
- Die beiden Formen des kurdischen Widerstandes haben der PKK einen
enormen Rückhalt in der kurdischen Bevölkerung in Kurdistan, in der
Emigration in der westlichen Türkei und im Exil in Deutschland
verschafft.
- Die PKK verkörpert wohl für die Mehrheit der Kurden - anders als die
politische Einschätzung im Westen - eine Hoffnung auf nationale
Emanzipation.
- Die PKK ist nach wie vor handlungsfähig; die Zunahme der
militärischen Besetzung Kurdistans könnte den Kampf um die kurdische
Emanzipation aber noch mehr als bisher in den Westen der Türkei
verlagern.
- Eine Lösung der kurdischen Frage gegen eine kurdische Mehrheit kann
keine politische Lösung und von daher auch keine friedliche Lösung
sein.
E. Nochmals: Die Region
- Trotz allen regionalen Konflikten: Alle Teilungsstaaten haben
_dominante kulturelle und geschichtliche Gemeinsamkeiten_ als
denkbares Substrat einer politischen Gemeinsamkeit.
- Die Teilungsstaaten sind durch die _Schlüsselressource Wasser vital_
_miteinander verkoppelt_. Dies gilt auch für Logistik und Transport.
Der eklatante Mangel an Kooperation trotz diesen Abhängigkeiten,
weder auf diesen noch auf anderen, etwa industriellen Feldern, legt
nahe, daß diese Gemeinsamkeit langfristig politische Folgen zeitigen
könnte.
- Dem stehen die Traditionen regionaler Auseinandersetzungen und
antikurdischer Politiken gegenüber.
- Die Probleme aus durchgängig multiethnischen Strukturen der
Teilungsstaaten drängen zu einer Lösung.
F. Allgemeine Rahmenbedingungen einer Lösung
- Lösungen durch neue Gesellschaftsstrukturen, etwa Sozialismus oder
andere gesellschaftliche Bilder, sind nicht realistisch, sie haben
sich im Ansatz überholt. Aus den Spannungen der Teilungsstaaten
untereinander und jedes einzelnen mit dem jeweiligen regionalen
Segment der Kurdischen Nationalbewegung folgt die
_Wahrscheinlichkeit der Veränderung_ des Status quo.
- Eine aus heutiger Sicht nur für die Türkei denkbare und auch für
diese allein unwahrscheinliche _Lösung durch Integration in die_
_Europäische Union_ ist weder praktikabel noch geeignet, regionalen
Frieden zu stiften.
- Geht man davon aus, daß alle Teilungsstaaten das Problem einer
entwicklungshemmenden Zentralisierung haben, werden neue
Lösungsansätze eher in dezentralen, regionalen Fragestellungen
liegen, liegen müssen.
- Es macht daher Sinn, das Modell Europa zu evaluieren, weil
zahlreiche, den Nahen Osten prägende Problemfelder bis 1945 auch den
Westen Europas geprägt hatten; dagegen liegt heute die Stärke Europas
gerade in der Nutzung der _Ressource regionale Kooperation_.
- Aus heutiger Sicht lassen sich sowohl kleinkurdische als auch
großkurdische Lösungen vorstellen; auch eine schrittweise
Emanzipation der kurdischen Nation ist vorstellbar.
5. Szenario Orientalische Union
Die geschilderten spezifisch kurdischen, teilungsstaatlichen,
regionalen und außerregionalen Rahmenbedingungen und Lösungsvorbilder
legen nahe, daß eine Lösung der kurdischen Frage in der Türkei
sinnvollerweise im Zusammenhang mit folgenden Einzelzielen vorgestellt
und avisiert werden sollte:
- Maximum an regionaler Kooperation (Sicherheit, Handel und Industrie,
Versorgung mit Schlüsselressourcen).
- Erstarken der Region insgesamt, um gegenüber außerregionalen Zentren
(Europa, Nordamerika, Ostasien, Südostasien) gleichberechtigter als
bisher kooperieren zu können.
- Maximum an Demilitarisierung, um Ressourcen für die Weiterentwicklung
der Region zu erhalten: Nicht nur die kurdische Frage enthält neben
dem Anliegen nationaler Emanzipation eine starke soziale Komponente.
- Maximum an Dezentralisierung.
- Maximum an Demokratisierung: Nur dezentrale, regionale Lösungen
machen Demokratie glaubhaft, weil minoritäre Ethnien im
zentralstaatlichen Maßstab nie durchsetzungsfähig sein können, wohl
aber, sozusagen zur Kompensation, im regionalen Maßstab
(Katalonienmodell).
- Maximum an Grenzöffnung und freiem Personen-, Güter- und
Dienstleistungsverkehr.
All diese (und weitere) Effekte bietet das Modell der Europäischen
Union.
Es liegt daher nahe, die Lösung der kurdischen Frage in eine
_Orientalische Union_ hineinzudenken und jede Teillösung in diesen
größeren Zusammenhang zustellen. Diese Orientalische Union sollte, wie
die Entstehung der Europäischen Union ab 1945 aus elementaren Einsichten
in die Notwendigkeit des Friedens und der wirtschaftlich sinnvollen
Kooperation, unprätentiös angedacht und legitimiert werden. Weder bietet
die Vergangenheit des nahöstlichen Raums noch die triste Gegenwart Anlaß
zu irgendeinem Glorienschein Orient. Andererseits hat der Orient in
Gestalt des Islam - ähnlich wie das Christentum - ein hohes Maß an
kultureller Gemeinsamkeit und einen eklatanten Bedarf an einem neuen,
friedens- und wohlfahrtsfördernden Szenario.
Ich erwarte mehrere Einwände:
- Das Modell Europa habe sich durch seine Außenpolitik
_diskreditiert_. In der Tat ist die Außenpolitik der EU kein
Ruhmesblatt. Aber hier wird das Modell Europa um seiner positiven
Binnenwirkungen willen zum Vorbild genommen. So sollten etwa aus
kurdischer Sicht nicht die antikurdischen Politiken einzelner
EU-Migliedsstaaten betrachtet werden, sondern ob die EU innerhalb
ihrer eigenen Grenzen friedens- und wohlfahrtsfördernd _und_ zugleich
identitätswahrend gewirkt hat. Diese Fragen sind mit einem
unbedingten Ja zu beantworten, gleich wie andere Aspekte der EU
gewertet werden.
- Hier wolle wieder jemand _in den Orient hineinwirken_. Es sollte
beachtet werden, daß politische Kämpfe häufig nicht von Insidern und
Kombattanten gelöst werden, sondern einer Moderation bedürfen
(Israel-Palästina-Lösung), also einer vermittelnden Einschaltung
Dritter.
- Damit werde die Türkei auf besonders geschickte Weise _aus Europa_
_herausgeworfen_. In der Tat: Eine Orientalische Union ist ein
Modell für ein regionales Zusammenleben. Demgegenüber bemerken wir
heute einen für alle Teilungsstaaten verhängnisvollen Prozeß. Anstatt
das ohnehin notwendige und unvermeidliche Zusammenleben nach Kräften
erträglich, besser produktiv, und zwar durch ein Kooperationskonzept,
zu gestalten, verhalten sich alle Teilungsstaaten, unbeachtet ihrer
Orientalität, zentrifugal: Die _Türkei_ strebt im Zustand der
Auflösung wenigstens verbal einem Westen zu, den sie ausweislich
ihrer Massenpresse zugleich auf das härteste attackiert. Der _Iran_
orientiert sich bisweilen aggressiv westlich, östlich, südlich oder
nördlich. Der _Irak_ verhält sich so, als gebe es kein Völkerrecht.
_Syrien_ ist gleichfalls bisher wenig durch friedliche Kooperation
mit den Nachbarn aufgefallen. Also: Ein möglichst friedlicher,
ziviler Orient ist auch für die Türkei unumgänglich. Es gibt für die
Türkei keine Flucht aus dem Orient. Der Kemalismus ist längst
vielfältig widerlegt und daher kann die entscheidende Alternative
nicht lauten: Europa oder Naher Osten, sondern nur gemeinsamer oder
unfriedlicher Orient, denn nur ein friedlicher Orient kann auf Dauer
mit anderen Kulturzentren dieser Welt kooperieren.
- Bisher seien alle Teitungsstaaten für sich _antikurdisch_; um wieviel
mehr gelte dies für eine stärkere orientalische Kooperation. Das ist
in der Tat eine schwierige Frage. Es ist klar, daß ohne die kurdische
Emanzipation kein Frieden im Nahen Osten einkehren wird. Klar ist
aber auch, daß die bisherigen Instrumentalisierungspolitiken der
Teilungsstaaten zu Lasten der jeweils ortsansässigen Kurden der
Kurdischen Nationalbewegung nur geschadet und die kurdische
Emanzipation gerade nicht vorangetrieben haben. Hier gilt es in der
Tat, in der Moderation des schwierigen Prozesses der Bildung einer
derartigen Kooperation den notwendigen Gedanken der Dezentralisierung
fest zu verankern. _In diesem Prozeß kann die EU kein Vorbild sein_,
weil sie dieses Problem nur marginal hatte (Nordirland, Basken) und
weil alle Beteiligten einen klaren nationalstaatlichen Ausgangspunkt
hatten. In der Verbindung zwischen dem Gedanken der regionalen
Kooperation und der umfassenden Emanzipation des kurdischen Volkes
könnte die Orientalische Union Geschichte machen. So schwer diese
Erkenntnis auch ist: Es gibt hierzu keine ernsthafte Alternative.
- Weg und Ziel seien _utopisch_. Zugegeben: Geschichte und Status quo
des Nahen Ostens sprechen nicht unbedingt dafür. Aber bis 1945 galten
auch die Vertreter Europas in Europa als Utopisten; und Europa wurde
dennoch wahr. Dreh- und Angelpunkt ist die Verifizierung oder
Falsifizierung von denkbaren Alternativen. Hier fehlt der Raum für
eine vertiefte Beschäftigung mit alternativen Lösungswürfen. Klar ist
aber, daß weder der Status quo nunc noch die einzelteilungsstaatliche
Option der Vernichtung und Zwangsassimilierung unter
Aufrechterhaltung von Hochrüstung und zentralstaalichem Militarismus
ernsthaft akzeptable Optionen darstellen. Daher scheint mir diese,
keinesfalls originelle Plagiierung eines erfolgreichen Modells
mutatis mutandis realistischer zu sein als heutige Realpolitiken der
Teilungsstaaten und ihrer Verbündeten. Im übrigen hat sich mit Israel
kürzlich der erste nahöstliche Staat in diesem Sinne vernehmlich
gemeldet.
Offenbar ein im Ergebnis vernünftiges Modell, ein im Wege schwieriges
Verfahren, aber eine Option ohne ernsthaft akzeptable Alternativen.
Für die kurdische Frage würde dieses Szenario bedeuten, daß es wohl
nicht so sehr darauf ankäme, in welcher Form die kurdische Emanzipation
in diesem Kontext realisiert würde, ob als Einzelstaat mit umfangreichem
Souveränitätsverlust unter Gemeinschaftsvorzeichen, oder als Föderation
im jeweiligen Teilungsstaat bzw. Autonomie, weil das Ergebnis eine
Intensivierung der grenzüberschreitenden Kooperation wäre, also eine
Umkehr von der jeweils peripheren Situation der Kurden für jeden
Teilungsstaat zum verbindenden Glied dieser Union.
Für eine derart zentrale Rolle sind die Kurden, ist ihre
Nationalbewegung, so schlecht nicht gerüstet. Die bikulturelle, oft
multikulturelle Vorbildung zahlreicher Kurden machen sie geradezu zum
idealen Transmissionsriemen zwischen den zentrifugalen Kräften des Nahen
Ostens.
6. Strategische Notwendigkeiten zur Verwirklichung dieses Szenarios
A. Kurdische Nationalbewegung
- Die KNB braucht ein modernes Konzept der Wirtschaftspolitik: Wenn
ihre Interessen besser in einem demilitarisierten Regionalkonzept
aufgehoben sind und sich dieses primär um der positiven ökonomischen
Wirkungen willen legitimiert, dann braucht die KNB ein
Wirtschaftskonzept, das Zukunft hat. Sie muß Abschied von alten
Worthülsen nehmen und ein international anerkennungsfähiges _Konzept_
_der sozialen Marktwirtschaft_ vertreten.
- Dies bedeutet zugleich die Anerkennung der für die soziale
Marktwirtschaft unverzichtbaren Werte wie Demokratie, Rechtsstaat,
Menschenrechte etc.
- In einem _konkretisierten Szenario_ müssen die Visionen und
Einzelschritte für die vitalen gemeinschaftlichen Interessen der
Teilungsstaaten und ihrer Anrainer enthalten sein, zuvörderst der
_Wasserfrage_.
- Aber auch in allen weiteren Fragen, die das Konzept des
Zusammenlebens und Zusammenwirkens der regionalen Ethnien betreiben,
müssen _deutliche Konkretisierungen_ erfolgen, etwa in der Frage, wie
zunächst und auf längere Sicht abstrakte Formeln wie Föderalismus,
üutonomie, Einzelstaatlichkeit, Orientalische Union verstanden
werden sollen.
- Dieses kurdische Szenario ist gleichsam das Drehbuch für eine
notwendige Dauereinrichtung, die Kurdische Friedenskonferenz, als
gemeinsame Aufgabe der Regionalstaaten, der KNB und der dort
vertretenen außerorientalischen Staaten einschließlich des
Moderators. Wer Frieden durch Verhandeln will, braucht ein
überzeugendes, zukunftsorientiertes und transparentes
_Verhandlungskonzept_.
- Durchaus denkbar als ein so noch nicht durchsetzbares Konzept. Dann
aber muß eine Strategie der Mindestforderungen, der Beweglichkeit
durchdacht werden.
- Auf diesem Wege wird eine _phantasievolle Vermehrung der friedlichen_
_Methoden der Auseinandersetzungen_ in den Teilungsstaaten notwendig
sein, dann aber mit einer deutlich verbesserten Darstellung dieser
politischen Arbeit in der und durch die Diaspora im Westen.
- Nur die überfällige Erneuerung der Programmatik und der
Einzelstrategien wird auf Dauer die kurdische Diaspora in Europa in
den Kampf der KNB in den Teilungsstaaten einbinden können. Zugleich
aber bieten gerade die beschriebenen Aktivitäten der kurdischen
Diaspora vielfältige Ansatzpunkte, die Emanzipation des kurdischen
Volkes kräftig zu fördern.
- Für den öag X des Beginns der Verhandlungen bzw. der sukzessiven
Übernahme von praktischer Regierungsverantwortung, auf welchem Niveau
auch immer, muß eine _Strategie systematischer Qualifizierung für_
_Sachaufgaben_ entwickelt werden. Zur Zeit bestehen Zweifel, ob die
KNB für den Frieden genauso gut gerüstet ist wie für den Widerstand.
- Bis zum Beginn der Verhandlungen ist unter strikter Einhaltung der
Regeln des Völkerrechts der bewaffnete Widerstand in strikte
Unterordnung unter den Primat der Politik fortzusetzen.
- Zu den strategischen Überlegungen der KNB gehört auch die
systematische Gewinnung von Verbündeten und Gesprächspartnern; hierin
ist die KNB in der Türkei weiter als in der Diaspora, wo sie
zunehmend nur noch _mit marginalisierten Kräften kooperiert_.
Speziell für die kurdische Diaspora in Europa
- gilt, daß ausschließlich eine Strategie absolut friedlicher Schritte
der KNB den notwendigen Durchbruch zum Verhandlungstisch bringcn kann
(PLO-Konzept). Mit Phantasie, Regelmäßigkeit und Ausdauer lassen
sich mehr Erfolge erzielen als mit dem derzeitigen _Wirrwarr von_
_heterogenen Maßnahmen_.
- gilt, daß sie im Bildungsbereich besondere Verantwortung für die
Ausbildung der benötigten Experten trägt.
- gilt, daß sie als konzeptionelle Instanz den Zugang zu entsprechenden
Fachleuten schaffen kann und muß.
Die Gesamtbewertung der kurdischen Strategien belegt, daß ein
strategischer Wechsel, wo er denn angezeigt ist, _möglich_ ist, und daß
die notwendigen Einsichten hierfür auch bereits punktuell vertreten
werden. Der KNB, die etwas will, sollte der Wandel möglich sein.
B. Republik Türkei
Die türkische Politik ist, wie wir gesehen haben, am weitesten von
jedem Ansatz zu friedlichen Lösungen entfernt. Aber auch dort besteht
durch die regressive Entwicklung des Landes und die staatlich forcierte
Zweiteilung in einen herrschenden Westen und einen subkolonialen Osten
erheblicher Handlungsbedarf.
- In erster Linie muß die kurdische Frage _enttabuisiert_ werden und
als eine Frage anerkannt werden, die _nicht nach kemalistischen_
Maximen der systematischen Verfassungslüge_, sondern auf der
Grundlage international geltender Emanzipationsstandards gelöst
werden muß und im Interesse der Türkei auch gelöst werden kann.
- Dazu gehört in erster Linie eine _Strategie der Wahrheit_ in bezug
auf die kurdische Frage. Das beginnt bei der Anerkennung der
kurdischen Identität, auch in seiner wahrhaften quantitativen
Bedeutung, und geht über eine systematische Neuorientierung der
türkischen Bildungs- und Kulturpolitik bis hin zum Angebot
emanzipierender Maßnahmen.
- Dazu gehört eine bewußte _Rückholung_ der kurdischen Frage _in die_
_Politik_ aus der militärischen Ebene.
- Dies setzt eine deutliche _Demilitarisierung der Türkei_ voraus, also
ein Erstarken der zivilen Seite des Landes; nur diese Seite hat ein
Interesse an Deeskalierung des Konflikts.
- Dazu gehört auch das Eingeständnis, daß die kemalistische Politik
Verantwortung für das unendliche Leiden der kurdischen Bevölkerung
trägt, m. a. W. eine Politik der _Wiedergutmachung_.
Schon dieser kurze Blick auf elementare Notwendigkeiten eines
türkischen Kurswechsels zeigt, daß die Türkei heute genauso weit von
friedlichen Schritten entfernt ist wie zur Zeit der früheren drei
Militärputsche. Dies belegt, daß eine Einwirkung von außen als
Initialzündung nötig ist.
C. Der Westen
- Der Westen muß in der Einschätzung der Emanzipation von unterdrückten
Ethnien Abschied nehmen von der negativen Prädikatisierung des
Separatismus und für die Ethnien des Orients dieselben Maßstäbe
gelten lassen wie für die Völker Europas. Die _grundsätzliche_
_Anerkennung des Selbstbestimmungsrechts_ des kurdischen Volkes ist
der Dreh- und Angelpunkt für eine Erneuerung der westlichen
Nahostpolitik; immerhin haben wir am Beispiel Israel-Palästina
gesehen, daß dies denkbar ist.
- Die kurdische Frage muß durch längerfristig angelegte Bündnispolitik
der kurdischen Diaspora konsensfähiger werden. Die Unterstützung
durch Medien, und das ist der Schlüssel zum politischen Erfolg, setzt
die Gewinnung bürgerlicher Bündnispartner voraus.
- Die kurdische Frage muß in die Politik zurückgeholt werden. Sie
kann nicht durch eine Steigerung der Aktivitäten von
Verfassungsschutzämtern und Landeskriminalämtem gelöst werden,
sondern _nur politisch_, und das heißt durch die grundsätzliche
Anerkennung des kurdischen Selbstbestimmungsrechts, d.h. durch die
Akzeptanz, daß der Status quo nunc im Orient zu verändern sei.
- Deutschland muß _Abschied von dem Paradigma der deutsch-türkischen_
_Freundschaft_ nehmen. Freunde gibt es ohnehin in der Politik
nicht, sondern wohl eher Interessen. Und es ist das legitime
Interesse des Westens, daß der Orient die kurdische Frage
emanzipatorisch und friedlich löst. Da ist die 160 Jahre alte
Waffenbrüderschaft ein gewaltiges Hindernis.
- Deutliche und rasche politische Gesten müssen der KNB diesen
Kurswechsel signalisieren: So ist die absurde Mitfinanzierung des
türkischen Vernichtungskrieges gegen das kurdische Volk in
vielfältigen Formen (Waffen, Geld, Logistik, Ausbildung) sofort und
bedingungslos einzustellen.
- Auf die Türkei (und andere Teilungsstaaten) ist _friedlicher Druck_
auszuüben, neue Konzepte für die Lösung der kurdischen Frage
vorzulegen. Wenn die europäische Bevölkerung nicht durch massiven
Tourismus-, Investitions- und Handelsboykott in einer Art
Mandela-Strategie den beschriebenen Kurswechsel in der Türkei
ermöglicht, dann wird die KNB dort zu völkerrechtswidrig
gewalttätigen Boykottmaßnahmen greifen müssen. Friedlichkeit der
Auseinandersetzungen in der Türkei: Das ist auch von hier aus
möglich.
- Vor allem aber ist eine deutliche Abkehr von dem Europäisierungs-
konzept der Türkei im tradierten Sinne nötig, in dem Sinne, daß die
Türkei als hochgerüstetes Bollwerk und Glacis die Vorhut des Westens
nach Osten bilden solle und könne, also den Orient zweiteilen soll:
in einen prowestlichen Teil, eben die Türkei, und in einen
orientalischen Teil. Die Sicherheit des Westens, ein legitimes Gut,
kann nur durch ein _gesamtorientalisches Kooperations- und
Sicherheitskonzept_ befördert werden, und dieses setzt einen auch
wirtschaftlich starken Orient voraus. Die wirtschaftliche Stärke
wiederum setzt die Beendigung von militärischen Konflikten und damit
die emanzipatorische Lösung der ethnischen Konfliktherde voraus.
- Ein _Moderatorenstaat_ (Österreich, die Schweiz?) muß gefunden
werden, um aus der Blockade und der Eskalation herauszukommen.
Der Weg zur friedlichen Lösung der kurdischen Frage ist steinig, aber
eine friedliche Lösung ist konzeptionell möglich, und hierfür stehen
auch geeignete friedliche Strategien zur Verfügung.
Prof. Dr h.c. Mönch
Hochschule Bremen
Neustadtswall 30
28199 Bremen
(Abgedruckt in: "kurdistan aktuell", Nr. 34, 24.2.1995)