Editorial

Vorwort

Nebenwort


 

Editorial

Am Anfang war nicht Marcos. Am Anfang flimmerten Bilder eines scheinbar schlecht bewaffneten und von Regierungsmilitärs eingekreisten Aufstands in unsere Wohnzimmer. Am Anfang stand eine Aussage, die basses Erstaunen auslöste: bei den interviewenden JournalistInnen und bei uns. Die Frage: "Was wollt ihr Aufständischen?" fand die knappe Beantwortung eines Capitáns: "Freiheit, Demokratie, Gerechtigkeit, Sozialismus." Ob sie denn nicht wüßten, daß der gerade überall zusammengebrochen sei? "Egal", war die Antwort, "in Mexiko ist alles anders."

Wir begaben uns auf die tastende Suche nach diesem Anderen und fielen immer wieder auf die Füße unserer traditionellen Erklärungsmuster. Und stolperten.

Über einen Aufstand, der mit seinem einfachen ¡Ya basta! so gar nicht in unsere komplizierten post-solidaritätsbewegten Diskussionen paßte, sich gegen unsere resignative Stimmung erhob.

Über eine Sprache in den politischen Erklärungen, die uns ahnen - oder hoffen - ließ, daß hier eine Bewegung entstanden ist, die neue Pfade, abseits abgeschmackter Theoriediskurse, beschreitet.

Über Marcos, den Subcomandante, der die meisten Kommuniqués verfaßte und mit seiner Lyrik und seinem Witz, den nicht nur Angela "einfach Klasse" findet, prägte.

Wir haben einige dieser Stolpersteine aufgesammelt. Es fand sich eine "ensalada mixta" zusammen. Das entspricht uns, der Redaktion, unterschiedlich und vielfältig in unserer politischen Geschichte und politischen Couleur. Schnell zeigten sich die thematischen Präferenzen: Äußerst Enthusiastische plädierten für ein reines "Kommuniqué-Buch" ("Sollen die Leute doch selber rausfinden, was die Zapatistas meinen..."), andere wollten eher ein profundes Werk über die profunde Geschichte Mexikos schreiben.

Doch einig wurden wir uns in einem Punkt: Ein Lesebuch sollte es sein. Material hatten wir für tausend Seiten, gesammelt im reinen Überschwang des Elans. (Falls sich also ein Sponsor findet, der einen Ergänzungsband finanzieren möchte... Das würde auch unser Gewissen denen gegenüber erleichtern, die uns geholfen, Texte zur Verfügung gestellt haben und nun doch nicht im Buch erscheinen). Ein Lesebuch, weil wir unsere produktive Verunsicherung nicht gleich wieder in die vertraute Form fester Theoretisierungen, Einschätzungen (bei denen die meisten "Schätze" verlorengehen) gießen wollten. Das Buch ist bewußt "offen" gehalten, sammelt Quellen und Dokumente (mit einer gewissen "Überrepräsentanz" des Sub...), ebenso wie Essays, Reportagen, Geschichten und Legenden. Außerdem haben wir einen Fotoessay aufgenommen.

Explizit danken möchten wir Tine für ihre Übersetzungskünste, den ÖlbergerInnen für ihren unermüdlichen kochenden Einsatz und allen anderen, die uns ihre Wohnungen, Betten und PCs zur Verfügung gestellt haben; allen KollegInnen (auch den krankenhausreifen), die uns - und die wir - ertragen haben (trotz ihres: "Ihr schafft das sowieso nicht..."); Helmut und dem FDCL sowie den Lateinamerika Nachrichten, dem ak und Juan Chicoy, dem Schwarzen Faden, Dieter Müller und vielen anderen für die Bereitstellung von Materialien; Uwe, dem unermüdlichen (& unerbittlichen) Lay-Outer, und last not least den DruckerInnen, die natürlich alles viel zu spät erreichte...

 

Postskriptum (1): Marcomania

Der Sub, ja der Sup, die Nächte sind bereits nicht mehr zu zählen, die wir über ihn diskutiert haben. Über die Poesie seiner Sprache und die Gefahr eines neuen Personenkults, über vermutete und unvermutete, vermeintliche und (un)vermeidliche Eifersüchteleien.

"The medium is the message"- nach dem Wahlspruch McLuhans inszenieren die Medien eine Wirklichkeit, hinter der der tatsächliche Alltag der Menschen kaum noch kenntlich ist. Und auch Marcos wurde längst von Vermarktungsstrategien erfaßt. Kleine bewaffnete Strohmännchen mit pasamontañas gehören mittlerweile fest zum folkloristischen Angebot, das den Touristen auf den Märkten von Chiapas feilgeboten wird. Vanity fair, eine US-amerikanische Zeit(geist)schrift, feiert Marcos neben dem neuesten Model wie einen Popstar, und die kommerzielle Phantasie macht selbst vor condones alzados (aufständischen Kondomen) nicht halt.

Resignativ wollen wir auf weitere kritische Anmerkungen verzichten. Sie wären ohnehin an dem vereinten und massiven Widerstand der Frauencombo der Redaktion gescheitert. Und über Ikonen läßt sich nicht streiten. Bei den Männern eignete sich der eine oder andere die ungeheure Nasenlänge des Sub (in Ermangelung sonstiger ähnlicher Merkmale) als positives Identifikationsobjekt an...

Für unsere geneigte LeserInnenschaft die ultimative Wahrheit über IHN, den Sub (oder sup?), den Subcomandante Insurgente Marcos - voilà:

"Mehrheit, die sich als nicht tolerierte Minderheit verkleidet

In bezug auf all das Gerede, ob Marcos schwul ist: Marcos ist ein Schwuler in San Francisco, Schwarzer in Südafrika, Asiat in Europa, Chicano in San Isidro, Anarchist in Spanien, Palästinenser in Israel, Indígena in den Straßen von San Cristóbal, Kinderbande in Nezahualcoyotl, Rocker in Ciudad Universitaria, Jude in Deutschland, Feministin in politischen Parteien, Kommunist in der Zeit nach dem Kalten Krieg, Gefangener in Cintalapa, Pazifist in Bosnien, Mapuche in den Anden, Lehrer in der CNTE, Künstler ohne Galerie noch Aufträge, Hausfrau an einem Samstagabend in irgendeinem Viertel irgendeiner Stadt irgendeines Mexikos, Guerillero im Mexiko des ausgehenden 20. Jahrhunderts, Streikender in der CTM, Journalist von Fülltexten für die Inlandsseite, Macho in der feministischen Bewegung, Frau, die alleine um zehn Uhr nachts in der Metro ist, Rentner als Wachposten auf dem Zócalo, Bauer ohne Land, verarmter Verleger (sic!), arbeitsloser Arbeiter, Mediziner ohne Arbeitsplatz, unzufriedener Student, Dissident im Neoliberalismus, Schriftsteller ohne Bücher und Leser - und ist sicherlich Zapatist im Südosten Mexikos. Letztendlich ist Marcos irgendein Mensch in dieser Welt. Marcos sind all die nicht tolerierten, unterdrückten Minderheiten, die nicht aufgeben, die explodierend Ya Basta schreien. All die, die in dem Moment Minderheit sind, wenn es darum geht, zu sprechen, und Mehrheit, wenn es darum geht, zu schweigen und zu ertragen. All die Nicht-Tolerierten, die nach Worten suchen, ihren Worten, die diese ewigen Fragmente zur Mehrheit machen, wir. Alles, was der Macht und den guten Gewissen unbequem ist, ist Marcos" (Postskriptum, 31.Mai 1994; Subcomandante Marcos).

 

Postskriptum (2): Topitas

Topo, zu deutsch: Maulwurf. Topitas: etwas kleiner, pl., weibliches Geschlecht (positive Diskriminierung). Sie leisten Wühlarbeit im Untergrund und schauen nach innen... Ein nützliches Tier, das den Boden locker hält, damit etwas sprießen kann...

 

 

Vorwort

Das unüberhörbare Ya Basta! vom 1. Januar 1994 löste nicht nur Alarm in der gesamten mexikanischen Gesellschaft aus, sondern fuhr auch wie ein Blitz durch die verkaterten Neujahrsköpfe mancher InternationalistInnen in Deutschland. Die ersten Fernsehberichte über die bewaffnete Erhebung von "Lacandonen, die sich in ihrem Organisationsnamen auf einen alten Indianerhäuptling, Emiliano Zapata, beziehen", klangen wenig überzeugend. Bald aber kristallisierte sich das Bild eines Aufstandes heraus, wie es ihn in jenem Land seit der mexikanischen Revolution nicht mehr gegeben hatte. Hatten wir geträumt? Waren da Selbstmörder am Werk? Wie konnte es geschehen, daß da mitten im Auflösungsprozeß der zentralamerikanischen Guerilla-Bewegungen eine indianische Befreiungsarmee auf den Plan trat, noch dazu in Mexiko, dem lateinamerikanischen Land, von dem in den letzten Jahren nur Jubelmeldungen über den erfolgreichen Modernisierungs- und Stabilisierungskurs seines Präsidenten Carlos Salinas de Gortari mit seiner seit 65 Jahren regierenden Partei PRI zu hören waren.

Selbst MexikanerInnen, die seit Jahren in Chiapas eng mit der dortigen unabhängigen Indígena- und Bauernbewegung verbunden sind, waren verblüfft von der Stärke und Wucht des Aufstands. Während die Regierung rasch die Erklärung parat hatte, daß es sich um eine von außen provozierte Aggression handele, grübelten Linke in Chiapas und der Hauptstadt darüber nach, ob Regierungskreise dahintersteckten, um angesichts der kurz bevorstehenden Präsidentschaftswahlen einen Vorwand zur Niederschlagung der linken Opposition zu finden. Beide Theorien mußten rasch verworfen werden, wurden eingeholt von der Realität und den Inhalten der Kommuniqués der Zapatistas. Die Zapatistas begründeten ihren Aufstand aus einem Alltag, der von Elend geprägt ist, von ökonomischer, sozialer und politischer Ausgrenzung. Die erschütternden (Über-)Lebensbedingungen der Indígenas von Chiapas waren bekannt, sind weder in Mexiko noch in Lateinamerika einzigartig - und wurden ignoriert. Erst mit ihrem bewaffneten Ya-Basta! erreichten diejenigen Aufmerksamkeit und Respekt, die mit alltäglicher struktureller Gewalt, Rassismus, halb-feudalen und modernen Ausbeutungsmethoden konfrontiert sind. Und dies zu einem Zeitpunkt, als sich die linke und nicht-linke Öffentlichkeit allerorten bereits daran gewöhnt hatte, daß die kapitalistische Marktwirtschaft den Globus bis in seine letzten Winkel beherrscht, Menschen privilegiert und ausschließt, Wohlstand mehrt und vorenthält. Daß den Begünstigten versichert wird, sie seien im Recht, den Ausgeschlossenen, daß sie selbst schuld sind, und allen zusammen, daß daran nichts zu ändern ist. Jedoch konnten weder Uno más Uno noch Financial Times, El País oder die Frankfurter Allgemeine den Aufständischen die moralische Legitimität ihrer Forderungen absprechen. Selten erfuhr eine bewaffnete Rebellion so viel mediale Aufmerksamkeit, selten waren Medienmacher in ihren Einschätzungen so vorsichtig.

Die mexikanische Regierung hatte die Absicht, am 1. Januar 1994 ihren Eintritt in den Kreis der Länder der "Ersten Welt" zu feiern. Das haben die Zapatistas mit einem Paukenschlag verhindert. In Mexiko traf ihre Botschaft auf eine linke Opposition, die seit 1988 nur Schläge erhalten hatte und in zunehmende Depression verfallen war. Ähnlich hilf- und wirkungslos wie gegenüber dem Wahlbetrug 1988 waren ihre Proteste gegen die Vereinbarungen des Freihandelsabkommens Mexikos mit den USA und Kanada geblieben. Diese stellten vor allem für die auf Land angewiesenen Campesinos und Indígenas katastrophale Auswirkungen in Aussicht. Die Ursache für die geringe Produktivität und "Rückständigkeit" der mexikanischen Landwirtschaft hatte die Regierung Salinas in dem ejido ausgemacht, den die mexikanische Revolution 1920 unter den Schutz der Verfassung gestellt hatte. Der ejido bezeichnet Staats-Land, das landlosen Bauern zur kollektiven, unbefristeten Nutzung übergeben wird. Das Land blieb stets Eigentum des Staates und war unverkäuflich. Daher wurde das ejido-System zu einem Hindernis für das Vordringen flächenhungriger agroindustrieller Betriebe und der "Modernisierung" der Landwirtschaft in Richtung Exportproduktion. Die Regierung änderte die Verfassung, erklärte die Landverteilung für beendet und eröffnete gleichzeitig die Möglichkeit, Gemeindeland zu verkaufen und es so dem Zugriff des Kapitals auszusetzen. Das bedeutete zum einen die faktische Zerstörung des ejido-Systems und damit die Vernichtung der Lebensgrundlagen zahlloser Bauern- und Indígenafamilien. Zum anderen kündigte es das Selbstverständnis der nachrevolutionären mexikanischen Gesellschaft auf, das den Schutz der Bauern als wichtiger Säule der Gesellschaft und des Bodens als Nationaleigentums zum zentralen Bestandteil hatte.

Erst vor diesem Hintergrund wird deutlich, warum die Zapatistas bei keiner öffentlichen Gelegenheit versäumen, die mexikanische Nationalflagge zu präsentieren. Sie haben sie der Regierungspartei PRI, die selbst aus der mexikanischen Revolution hervorgegangen ist, "weggenommen", weil diese spätestens mit der neoliberalen Politik der letzten Jahre die stets für sich reklamierte Tradition, das historische "mexikanische Projekt", aufgegeben hatte, als dessen Inkarnation die Staatspartei PRI bis vor wenigen Jahren anerkannt war.

Drei Monate lang erlebte die Opposition in Mexiko unter den Fahnen der Zapatistas "tiempos rosadas", rosige Zeiten. Die sozialen Bewegungen eroberten mit den Forderungen der EZLN die Straße zurück, stoppten die militärische Offensive gegen die Zapatistas, zwangen die Regierung innerhalb von nur zwölf Tagen zu Gesprächen mit der EZLN. Die politischen Parteien verabschiedeten eilig ein Fairnessabkommen für den Wahlkampf. Gesetzesreformen wurden mit Windeseile auf den Weg gebracht: zur Demokratisierung der Wahlkontrollorgane, zur Stärkung der Autonomie der Indígenagemeinden, zur Einleitung massiver Strukturhilfe für Chiapas. Der Aufstand der Zapatistas schien endlich die Türen weit aufgestoßen zu haben - sowohl für längst überfällige Reformen in Chiapas als auch für die Beendigung der Allmacht der Staatspartei PRI.

Doch dann wurde am 23. März Luis Donaldo Colosio, der Präsidentschaftskandidat der PRI, bei einer Wahlkampfveranstaltung ermordet. Niemand glaubte an die Version eines verrückten Einzeltäters. Viele waren und sind überzeugt, daß Colosio einem Komplott seiner eigenen Partei zum Opfer fiel. Die Schüsse auf Colosio hatten die Wirkung von Warnschüssen, gerichtet sowohl gegen die Zapatistas als auch gegen die gesamte parlamentarische und außerparlamentarische Opposition.

Die EZLN reagierte auf diesen rauhen Wind mit dem "Nein" zu den Vorschlägen, die die Regierung in den Friedensgesprächen unterbreitet hatte. Gleichzeitig unternahm sie den Versuch, die heterogene und zersplitterte Opposition zu einem Dialog zu versammeln und rief zu einem Demokratischen Nationalkonvent (Convención Nacional Democrática) auf. Auch wenn aus der Gründungsversammlung dieses Konvents kein griffiges Aktionsprogramm hervorging, war es ein zukunftsweisendes Ereignis: Es schuf noch vor den Wahlen den Keim für eine neue landesweite Struktur der Opposition, und damit die Voraussetzungen dafür, unabhängig von einem Wahlsieg der Oppositionspartei PRD weiter an einer gemeinsamen Strategie arbeiten zu können.

Am Abend des 21. August erklärte sich die PRI erneut zum Wahlsieger. Es ist klar und vielfältig dokumentiert, daß es massive Wahlbeeinflussung und vielfältige Betrügereien gab. Dennoch kann der Sieg der PRI kaum in Frage gestellt werden, sehr wohl jedoch ihr enormer Vorsprung vor der oppositionellen PRD und der rechtskonservativen Partei PAN. Die Schwäche der Linken zeigte sich dabei weniger in der Wahlniederlage als in dem Ausbleiben eines für den Fall des PRI-Sieges angekündigten Aufstandes. Anders stellt sich die Situation in Chiapas dar. Dort erzielte der Oppositionskandidat Amado Avendaño, der als Unabhängiger der Zivilgesellschaft auf der Liste der PRD kandidiert hatte, das beste Ergebnis der PRD in ganz Mexiko. Dies, obwohl die PRD in Chiapas bis dato kaum über nennenswerte Strukturen verfügte, da sie diesen Bundesstaat als sicheres Terrain der PRI abgeschrieben hatte. Die sozialen Organisationen und ihre Basis, die seit Januar hartnäckig für die Beendigung der Allmacht der dortigen Agrar- und PRI-Oligarchie kämpfen, haben sich den üblichen Wahlmanipulationen auf allen Ebenen entgegenzustellen versucht und das Wahlergebnis nicht akzeptiert. Mit verschiedensten Aktionsformen verlangen sie, daß der Wahlsieg von Avendaño anerkannt wird. Die Bewegung hat eine solche Kraft entwickelt, daß sogar die Bischöfe von Tapachula und Tuxtla Gutiérrez eine Annullierung der Wahlen vom August und eine erneute Stichwahl zwischen PRD und PRI forderten. In Chiapas ist die Verschränkung zwischen außerparlamentarischer sozialer Bewegung und parlamentarischem Wahlritus zu einem dynamischen Moment geworden, wie er so im Rest des Landes nicht anzutreffen ist. (In dem Augenblick, in dem dieses Buch erscheint, ist die Gefahr groß, daß die Regierung hier eine Machtprobe sucht und gegen die EZLN und die mit ihr verbündeten Basisbewegungen auf eine militärische Lösung setzt.)

Die EZLN trat als lokale Bauern- und Indígena-Bewegung an die Öffentlichkeit und bezog ihre enorme Stärke und Legitimitation aus ihrer offensichtlichen Basisverankerung. Die von ihr selbst genannten Gründe für den bewaffneten Aufstand waren leicht nachvollziehbar. Heute wird die EZLN in die Rolle einer Protagonistin der landesweiten Opposition gezwängt, eine Rolle, die sie sich nicht selbst ausgesucht hat, aber teilweise zu übernehmen bereit scheint. Sie macht damit einen weiten Spagat zwischen zwei Ebenen, auch wenn sie versucht, sich nicht von ihren Wurzeln abzuschneiden. Dies ist auch Ausdruck einer Leerstelle. Zehn Jahre erfolgreicher Basisarbeit in der Selva haben offenbar keine Entsprechung in einer ähnlichen Präsenz der linken und sozialen Bewegungen im Rest des Landes. Die Einberufung der CND war ein Versuch, diese Leerstelle auszufüllen. Noch steht sie allerdings auf wackeligen Beinen.

Das Selbstverständnis der EZLN geht aus ihren Forderungen hervor. Ein Teil dieser Forderungen bezieht sich konkret auf die Verbesserung der Lebensbedingungen: mehr Krankenhäuser, mehr Schulen, bessere Löhne, Hilfe für die Landwirtschaft. Sie fordert kommunale Autonomie und die Respektierung der Selbstbestimmung der Indígena-Gemeinden. Von Anfang an trat sie auch für nationale Forderungen ein, wie den Rücktritt der Salinas-Regierung, Durchführung sauberer Wahlen, Einrichtung einer Übergangsregierung, Demokratie, Freiheit, Gerechtigkeit. Für die Zapatistas und ihre UnterstützerInnen hängen alle diese Ebenen unlösbar zusammen. Deshalb gibt es für die EZLN keine wirkliche Demokratisierung, solange die PRI die Fäden in der Hand hält. Die Forderung nach Autonomie ist in diesem Zusammenhang der Versuch, wenigstens die Spitze der Krakenarme zu kappen. Die zapatistischen Gemeinden fordern keine Indígena-Reservate oder einen unabhängigen Maya-Staat. Vielmehr haben sie im Gegensatz zur Ladino-Bevölkerung eine lange Tradition der Gemeindeselbstverwaltung. Besonders bei den Gemeinden im Aufstandsgebiet - in der Selva Lacandona - wurde diese kommunale Tradition während der langen und harten Aufbaujahre wiederbelebt. Die Selva-Bevölkerung lebt erst in zweiter oder erster Generation dort. Sie hat ihre kleinen Gemeinwesen zunächst unabhängig und befreit von der Last der Kazikenherrschaft entwickelt. Sie mußte aber immer wieder erleben, wie die PRI ihre Führer korrumpierte oder versuchte, die Dorfgemeinschaften zu spalten.

Vor dem Hintergrund dieses zwar angegriffenen, aber sehr lebendigen sozialen Netzes der Indígena-Gemeinden wird verständlich, daß es kein Zufall ist, wenn der "erste Aufstand des 21. Jahrhunderts" von einer indianischen Bevölkerung getragen wird. Anders als die "modernisierten" und deshalb auf individuellen Überlebenskampf zurückgeworfenen Bevölkerungsgruppen blieben sie handlungsfähig.

Nicht Machteroberung und Diktatur des Proletariats, sondern Demokratie ist das Ziel des Kampfes der EZLN. Demokratie verstanden als Delegierung von Entscheidungsgewalt, die jederzeit durch die WählerInnen widerrufbar sein soll, wenn der Gewählte nicht den Willen seiner Basis erfüllt. Diese Zielvorstellungen sind nach Aussagen von Subcomandante Marcos das Ergebnis der Synthese zwischen dem Grüppchen mestizisch-urbaner Revolutionäre, das vor mehr als zehn Jahren in die Selva kam, und den dort bei der indianischen Bevölkerung vorgefundenen Politikvorstellungen. Erst als sich die EZLN den zivilen Repräsentanten der Gemeinden unterordnete, begann sie zu wachsen und zu einer wirklichen Armee zu werden. Die sozialen Kämpfe in Chiapas um konkrete Angelegenheiten wie kommunale Demokratie, Land, staatliche Leistungen haben eine enorme Dynamik entwickelt und werden von den zapatistischen Gemeinden mitgetragen und unterstützt. Sicherlich hat dies damit zu tun, daß die indianischen Männer und Frauen in der Tat eher an ihrer ganz konkreten Situation interessiert sind und weder Lust noch Zugang zu den politischen Ränkespielen auf nationaler Ebene haben. Die notwendige Vermittlung ihres politischen Selbstverständnisses und ihrer Forderungen gegenüber der übrigen Bevölkerung Mexikos wird im wesentlichen durch den Sprecher der EZLN geleistet. Sicher ist, daß die EZLN nicht die Wirkung entfaltet hätte, die sie bis heute hat, wenn nicht diese talentierte Person in die Selva gegangen wäre (und er nicht solche Standhaftigkeit und Verbundenheit mit den Menschen dort hätte). Umgekehrt gäbe es keinen charismatischen Marcos ohne die Basis, die er so gut vertritt.

Auch die wiederholte Frage, ob es sich nun um einen Indígena- oder einen Bauernaufstand handelt, eher die Selbstbehauptung gegen rassistische Unterdrückung oder das Klasseninteresse die Triebkraft sei, ist eher Ausdruck einer westlich sezierenden Beobachterrolle. Die Indígena-Kultur der chiapanekischen Maya kennt keine Trennung zwischen kulturellem, wirtschaftendem und religiösem Subjekt, sondern betrachtet sich und die anderen in der Gesamtheit dieser Lebensäußerungen. Die indigene Tradition wird von der EZLN allerdings nicht einfach verklärt. So sehr sie die Quelle der Widerstandskraft und von Vorstellungen einer anderen Gesellschaft ist, so sehr wird sie auch im Prozeß des Kampfes umgeschmolzen und überprüft. Am deutlichsten wird dies in bezug auf die gesellschaftliche Stellung der Frauen. Die EZLN ist nicht zuletzt die erste Befreiungsbewegung Zentralamerikas, die die Befreiung der Frauen - und das schon vor dem eigentlichen Aufstand - ins Zentrum ihrer Anliegen gestellt hat.

Der Aufstand der Zapatistas wurde nicht entfacht, um fertige Rezepte in die Tat umzusetzen, sondern um Raum dafür zu schaffen, die Einheitsküche von toter repräsentativer Demokratie, erbarmungsloser Marktwirtschaft und lamentierender, frustrierter und basisferner Linker zu überwinden. Er ist wie ein Ball, der der Gesellschaft zugeworfen wurde.

Wir möchten mit diesem Buch den Ball den LeserInnen zuwerfen, ihnen die Möglichkeit geben, die Stimme der "wahren Menschen" inmitten der Stimmenvielfalt hier zu hören, die zwar vielfältig, aber inhaltsleer geworden ist - bei den Linken genauso wie bei den Rechten an der Macht.

 

Nebenwort:

Wir müssen uns fragen, welche Nachrichten wann für uns Bedeutung erlangen. Gibt es Überraschungen außerhalb der Medien? Wir wissen, daß die Medien erst dann berichten, wenn Blut fließt - oder noch Schlimmeres in Aussicht steht, wenn die Sicherheit hierzulande oder auch unsere Ferienziele bedroht sind. Wir leben in der paradoxen Situation, daß wir all das kritisieren und gleichzeitig dennoch nach diesem Muster reagieren. Wir wissen, daß Informationen gemacht werden, und dennoch bauen wir sie als Realität in unser Denken und Schreiben ein. Statt dessen sollten wir versuchen, uns mit Neugier, Solidarität und Herzlichkeit einem Ereignis zu nähern, das wir aus unserer Sicht der Dinge nicht für möglich gehalten hätten.

Wir müssen uns fragen, ob die Erklärungsversuche unserer eigenen Geschichte bislang falsch, unzureichend und wenig hilfreich waren. Auch deshalb, weil in unseren eigenen Köpfen "Führer" Geschichte machen. Weil wir Menschen ob ihrer Lebenssituation aufklären und agitieren müssen. Weil Entscheidungen nur als Teil eines weltweiten ideologischen Kampfes gesehen werden können.

Vielleicht müssen wir uns umgekehrt einmal vorstellen, wie die Welt, die Geschichte und vor allem auch wir selbst den Menschen erscheinen, die nicht an e-mail angekoppelt sind, nicht jeden Tag die Tageszeitung und vierzehn verschiedene Sender haben.

Vielleicht sollten wir nicht darüber nachdenken, wie die inner-außer-nebenparlamentarische Opposition Mexikos in eine uns vertraute Erklärung zu packen ist.

Vielleicht sollten wir überhaupt dieses Buch zum Anlaß nehmen, über uns und unsere Geschichte nachzudenken, über unsere Art, Themen und Ideen solange theoretisch zu wälzen, zu zerreden, zu bezweifeln, bis es keinen Grund mehr gibt, praktisch zu werden, Ya basta zu sagen...

 

 

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Wed Apr  2 16:47:46 1997