Der Fluß führt Hochwasser

Der Aufstand


Erklärung aus der Selva Lacandona

Die Rebellion der Gehenkten

Unter dem Stern von Pancho Villa

Mindestens einer von uns wird überleben

Wer muß um Vergebung bitten und wer kann sie gewähren?

Episode von pasamontañas und anderen Masken

Laßt uns nicht allein!

Marcos zur "Moderne"

Die wahren Gesichter

Wer zum Teufel ist dieser Zapata?

Viva Zapata!

Anmerkungen


Ich möchte eine dieser vielen Anekdoten vom 1. Januar 1994 erzählen, die frei in unseren Köpfen herumschwirren:

Als es Nacht wurde, zogen sich die meisten Leute, die durch das, was sie gesehen hatten, nämlich uns im Bürgermeisteramt von San Cristóbal de las Casas, entweder neugierig oder empört waren, in ihre Häuser oder Hotels zurück. Sie waren von dem hartnäckigen Gerücht eingeschüchtert, daß die Armee in der Dunkelheit unsere Positionen angreifen würde.

Auf jeden Fall kam der eine oder andere Betrunkene vorbei, für den sich Silvester um 24 Stunden verlängert hatte. Mit einiger Schwierigkeit hielten sie sich aufrecht und richteten die Frage an uns, um welche religiöse Prozession es sich denn handele, denn sie sähen ja hier im Zentralpark so viele "Indianer". Nachdem wir sie darüber informiert hatten, worum es sich handelte, luden sie uns auf einen unnützen Schluck ein, denn ihre Flaschen waren bereits leer. Sie gingen, sich wechselseitig stützend, und diskutierten, ob die Prozession zu Ehren der Jungfrau von Guadalupe oder zur Feier der Heiligen Lucia veranstaltet wurde.

(Kommuniqué vom 11. Februar)


Erklärung aus der Selva Lacandona

Heute sagen wir: Basta! Es reicht!

An das Volk von Mexiko:

Mexikanische Brüder und Schwestern:

 

Wir sind das Produkt von 500 Jahren Kampf:

zuerst gegen die Sklaverei in dem von Aufständischen angeführten Unabhängigkeitskrieg gegen Spanien; danach, um die Einverleibung durch den nordamerikanischen Expansionismus zu verhindern; alsdann, um unsere Verfassung auszurufen und das Französische Imperium von unserem Boden zu verjagen; danach verweigerte uns die porfiristische Diktatur1 die gerechte Anwendung der Reformgesetze und das Volk rebellierte und stellte seine eigenen Führer auf. Es traten Villa und Zapata hervor, arme Menschen wie wir, denen sie, wie uns, die elementarste Ausbildung verweigerten, um sie so wie uns als Kanonenfutter zu verwenden und die Reichtümer unserer Heimat ausplünderen zu können, ohne daß sie es interessiert, wenn wir an Hunger und heilbaren Krankheiten sterben, ohne daß es sie interessiert, wenn wir nichts haben, absolut nichts, weder ein menschenwürdiges Haus noch Land, noch Arbeit, noch Gesundheit, noch Ernährung, noch Erziehung, nicht einmal das Recht, frei und demokratisch unsere Vertreter zu wählen, keine Unabhängigkeit vom Ausland, keinen Frieden und Gerechtigkeit für uns und unsere Kinder.

Aber heute sagen wir: Basta!

Wir sind die Erben der wahren Gründer unserer Nation, wir Besitzlosen sind Millionen und fordern alle unsere Brüder und Schwestern auf, sich diesem Aufruf anzuschließen, als einzigem Weg, nicht vor Hunger zu sterben, angesichts der unersättlichen Herrschsucht einer mehr als 70jährigen Diktatur, die von einer Verräterclique angeführt wird, die die konservativsten Kreise und vendepatrias (Vaterlandsverkäufer) repräsentiert. Es sind dieselben, die sich Hidalgo und Morelos entgegenstellten, die Vincente Guerrero2 verrieten, es sind dieselben, die mehr als die Hälfte unseres Territoriums an ausländische Eindringlinge verkauften, es sind dieselben, die einen europäischen Fürsten anschleppten3, um uns zu regieren, es sind dieselben, die die Diktatur der porfiristischen Technokraten bildeten, es sind dieselben, die sich der Enteignung der Erdölgesellschaften widersetzten, es sind dieselben, die die Eisenbahnarbeiter 1958 und die Studenten 1968 massakrierten, es sind dieselben, die uns heute alles wegnehmen, absolut alles.

Um das zu verhindern und als unsere letzte Hoffnung, nachdem wir alles versucht haben, um dem Gesetz unserer Magna Charta zum Recht zu verhelfen, beziehen wir uns auf sie und wenden den Artikel der Verfassung an, in dem es wörtlich heißt: "Die nationale Souveränität liegt wesentlich und ursprünglich beim Volk. Alle Staatsgewalt geht vom Volke aus und wird zum Wohl desselben eingesetzt. Das Volk hat zu jeder Zeit das unveräußerliche Recht, die Form seiner Regierung zu verändern oder zu modifizieren."

Daher, in Verbundenheit mit unserer Verfassung, richten wir die folgende Kriegserklärung an die mexikanische Bundesarmee, den Grundpfeiler der Diktatur, unter der wir leiden. Die machthabende Partei hat sie ihrem Monopol unterstellt, die Zentralregierung führt sie an. Diese Zentralregierung befindet sich heute in der Hand ihres obersten und unrechtmäßigen Chefs, Carlos Salinas de Gortari.

In Übereinstimmung mit dieser Kriegserklärung bitten wir die anderen Gewalten der Nation, sich dafür einzusetzen, daß die Legalität und die Stabilität der Nation durch die Absetzung des Diktators wiederhergestellt wird.

Ebenso bitten wir die Internationalen Organisationen und das Internationale Rote Kreuz darum, die Kampfhandlungen, die unsere Streitkräfte führen, zu beobachten und zu regeln und den Schutz der Zivilbevölkerung zu garantieren, denn wir erklären jetzt und für immer, daß wir uns den Bestimmungen der Genfer Konvention unterordnen, wobei wir die EZLN als kriegführende Partei unseres Befreiungskampfes aufstellen. Das mexikanische Volk steht auf unserer Seite, wir haben ein Vaterland und eine dreifarbige Fahne, die von den aufständischen Kämpfern geliebt und respektiert wird. Wir verwenden die Farben rot und schwarz für unsere Uniformen, die Symbole des arbeitenden Volkes in seinen Streikkämpfen. Unsere Fahne trägt die Buchstaben "EZLN", Zapatistische Armee der Nationalen Befreiung, und mit ihr werden wir immer in die Gefechte ziehen. Von vornherein weisen wir jeden Versuch zurück, die gerechten Beweggründe unseres Kampfes abzustreiten, indem man sie mit Drogenhandel, Narcoguerilla, Banditentum in Verbindung bringt oder sie mit anderen Bezeichnungen belegt, die unsere Feinde benutzen könnten. Unser Kampf hält sich an das Verfassungsrecht und steht unter dem Banner von Gerechtigkeit und Gleichheit.

Volk von Mexiko!

Wir, ehrenhafte und freie Männer und Frauen, sind uns bewußt, daß der Krieg, den wir erklärt haben, ein letztes Mittel ist, aber ein gerechtes. Die Diktatoren führen seit vielen Jahren einen nicht erklärten Ausrottungskrieg gegen unsere Völker, weshalb wir Dich um Deine entschiedene Teilnahme bitten, diesen Plan des mexikanischen Volkes, das für Arbeit, Land, Wohnung, Ernährung, Gesundheit, Erziehung, Unabhängigkeit, Freiheit, Demokratie, Gerechtigkeit und Frieden kämpft, zu unterstützen. Wir erklären, daß wir nicht aufhören werden zu kämpfen, bis wir die Erfüllung dieser Grundforderungen unseres Volkes erreicht haben werden und eine Regierung in unserem freien und demokratischen Land bilden können.

Tritt ein in die Aufständischen Streitkräfte der Zapatistischen Armee der Nationalen Befreiung.

 

Generalkommandantur der EZLN im Jahr 1993

 


Die Rebellion der Gehenkten

Herby Sachs

Basta - es reicht! Damit beginnt das Manifest der Rebellion in Chiapas/Mexiko.

Das am alten, im Kolonialstil erbauten Rathaus von San Cristóbal de las Casas angeschlagene Stück Papier spricht eine eigene und deutliche Sprache: Wir stehen auf im Kampf um Arbeit, Land und Nahrung, im Kampf gegen Rassismus und fünfhundertjährige Kolonisation.

Ich traue meinen Augen nicht, als ich nach durchfeierter Silvesternacht am 1. Januar frühmorgens die Plaza Mayor in San Cristóbal betrete. Mehr als vierhundert bewaffnete Frauen und Männer der Zapatistischen Armee der Nationalen Befreiung (EZLN) haben in den frühen Morgenstunden die Stadt und den "Palacio Municipal" besetzt. Mein mexikanischer Freund staunt ebenfalls nicht schlecht. Doch er findet schnell die Sprache wieder. "Erst die Stille, jetzt der Sturm. Endlich platzt die Bombe. Die Friedhofsruhe war unerträglich." Schon im Sommer erzählte er mir von Unruhen in Chiapas, willkürlichen Verhaftungen, Morden an Campesinos - einem Krieg zwischen Großgrundbesitz und Landlosen.

Nur wenige Menschen bevölkern zu dieser Stunde die Innenstadt von San Cristóbal. Der sonst rege Autoverkehr kann die Plaza nicht umfahren, da die Straßen von allen Seiten mit Büromöbeln aus dem Rathaus blockiert und von bewaffneten Guerilleros bewacht werden. Vor dem Rathaus liegen Papierberge verstreut. Akten, die die Zapatistas aus den oberen Stockwerken geworfen haben. Darunter läßt sich bestimmt so manches im Geheimen angefertigte Schreiben finden, daß dem Vorwurf der Korruption nicht standhalten wird. Einige Anwesende stöbern denn auch intensiv im Papiermüll. Vielleicht hoffen sie auch, Polizeiberichte oder Pläne zur Modernisierung der Stadt zu finden.

An die alten Säulen des Kolonialbaus gelehnt, stehen die Zapatistas, in ihrer Mehrheit Nachfahren der Maya-Völker, und bewachen einen unter den Arkaden angehäuften Berg von Medikamenten. Die in einer Apotheke entwendeten Arzneimittel verteilen sie später unter sich. Die Medien reden in den folgenden Tagen von Plünderung.

Der Kampfruf aus der mexikanischen Revolution, "Viva Zapata", und die Forderung nach "Land und Freiheit" scheinen wiederbelebt. Die EZLN knüpft mit ihrer Befreiungsbewegung ganz offensichtlich an die bäuerlichen Protestformen der Revolution an. Die Befreiungsbewegung von Emiliano Zapata führte einen ausgesprochen populistischen und antirassistischen Befreiungskampf, dem sich von Anfang an viele Indígenas anschlossen. Sie kämpften damals wie heute um Freiheit, ihre Kultur und menschliche Würde ebenso wie um Land, um das nackte Überleben.

Einer der Guerillakommandanten, Marcos, verkündet die Besetzung weiterer Orte wie Ocosingo, Las Margaritas, Altamirano und Chanal. Er berichtet von der Verteilung erbeuteter Lebensmittel, der Befreiung von Gefangenen aus den örtlichen Gefängnissen und von in Gemeindehäusern versteckten Waffen. Später gibt er die Gefangennahme des ehemaligen und besonders verhaßten Gouverneurs von Chiapas, Absalón Castellanos, bekannt. Teils sprachlos, teils bis über alle Maßen erregt, hören anwesende Bürger aus San Cristóbal die Verlautbarungen der Guerilla. Während Marcos den inzwischen aufgetauchten Pressevertretern Rede und Antwort steht, machen es sich die anderen Guerilleros im Rathaus bequemer. Sie diskutieren mit den Umstehenden, andere liegen auf dem Boden, benutzen ihre Rucksäcke als Kopfstütze und dösen vor sich hin. Auf der Rückseite des Rathauses nehmen Guerilleras eine Mahlzeit zu sich und amüsieren sich mit einem männlichen Compañero über dessen schiefsitzende, das eine Auge fast verdeckende Mützenmaske.

Nur wenige der Guerilleros besitzen Maschinenpistolen. Die meisten sind mit einfachen Gewehren, Macheten und Holzstöcken bewaffnet. Sie alle tragen einfache Uniformen: blaue Hose, neue Hemden, Gummi- oder schwere Stiefel. Mit dem rotgemusterten Halstuch der mexikanischen Campesinos sind entweder ihre Gesichter maskiert oder ihr Hals geschmückt. Ein weit sichtbares Wahrzeichen - und Erkennungsmerkmal.

Zwischen ihnen bewegt sich interessiert und ohne Scheu ein schaulustiges Publikum aus Touristen und Einheimischen. Doch eine richtige Volksfeststimmung kommt nicht auf. Während der Mittagszeit tauchen zum ersten Mal Militärflugzeuge am Himmel San Cristóbals auf. Sie ziehen in großer Höhe einige Schleifen und verschwinden zwischen den umliegenden Bergzügen. Die Guerilleros beobachten aufmerksam das Treiben der in der Sonne blinkenden Flugzeuge. Manche wechseln besorgte Blicke.

Für den Nachmittag kündigt Subcomandante Marcos eine öffentliche Versammlung an. Um ihn ranken sich in den folgenden Tagen viele Mythen. Als einer der wenigen Ladinos unter einer großen Mehrheit von Indígenas steht er für den angeblich vom Ausland gesteuerten Aufstand. Für viele MexikanerInnen scheint ein Indígena-Aufstand, eine politisch-soziale und bewaffnete Rebellion der ewig Marginalisierten undenkbar. Die entsprechende Antwort auf diese Vorwürfe fand vor einigen Tagen Wilfried F. Schoeller in der Frankfurter Rundschau: "Die Indianer und Mestizen in diesem unglaublich schönen Land Chiapas haben allen Grund, die Gewehre in die Hand zu nehmen. Es ist unerheblich, ob dabei auch Auswärtige, Phantome mit grünen Augen und vier Sprachen auf der Zunge mitreden, ... die Bauern von Chiapas haben jedes Recht zu schießen: Soziale Verteidigung ist ein Naturrecht. Und wer von Menschenrechten spricht, kann die Revolte nicht verurteilen" (FR, 12. Jan. 1994).

Der Aufstand der Indígenas kommt nicht überraschend, wie Presse und Regierung von Anfang an behaupten. Spätestens nach den bewaffneten Auseinandersetzungen zwischen landlosen Campesinos und Großgrundbesitzern um Ocosingo im letzten Frühjahr ist bekannt, daß Guerilleros verborgen im unwegsamen Hochland operieren. Landlose, ihres ehemaligen Gemeinschaftslandes beraubt, wehren sich schon seit Jahren gegen die Privatisierung des Bodens und die damit verbundene Zurückdrängung ihrer auf Selbstversorgung orientierten Produktionsweise.

Selbst der CIA hatte Monate zuvor die Regierung vor geheimen Guerillagruppen in Chiapas gewarnt. Seit mehr als fünf Jahren findet in Chiapas eine von der USA mitfinanzierte Militarisierung statt, die sich scheinbar gegen den Drogenhandel, in Wirklichkeit aber gegen Flüchtlinge aus Mittel- und Südamerika richtet. Mexiko soll eine stabile Pufferzone zur USA hin bilden. US-Präsident Clinton schickt schon am zweiten Tag des Aufstands mehrere Beobachter nach Chiapas. Der Schreck der Regierenden scheint entsprechend tief zu sitzen, denn niemals seit der mexikanischen Revolution vor mehr als siebzig Jahren ist eine Guerillabewegung in Mexiko so massiv aufgetreten.

Viele Campesinos schließen sich in den ersten Tagen der zapatistischen Befreiungsarmee an. Vermutlich gibt es inzwischen mehr als zweitausend Aufständische. Während der gut organisierten Besetzung der Stadt werden nicht nur die Einfall- und Ausfallstraßen mit quergestellten Bussen und Bäumen blockiert, sondern auch das vor dem Stadtkern gelegene Polizei- und Justizgebäude gestürmt und die dort residierende Bundespolizei entwaffnet.

In den Räumen kokeln Aktenberge vor sich hin: Die Guerilla verbrennt ganz gezielt das Archiv der Anklagen gegen die Bevölkerung. Einige Feuerwehrleute versuchen das munter vor sich hinglimmende Feuer zu löschen. Am Eingangsportal verstreut, liegen von der Guerilla hinterlassene Farbfotos gefolterter und getöteter Campesinos. Parolen sind an die Wände gemalt: Weg mit den paramilitärischen Todesschwadronen!

Jedes Jahr werden in Chiapas Dutzende von Bäuerinnen und Bauern von den bewaffneten Banden der Großgrundbesitzer von ihrem Land vertrieben und ermordet - von Mördern, die bis heute unbehelligt ihren Besitz und Reichtum vergrößern. In seiner Rede am Nachmittag erklärt Subcomandante Marcos nicht nur Regierung und Militär den Krieg, sondern auch den Großgrund- und Plantagenbesitzern, die vor keinem gewaltsamen Mittel zurückschrecken, um die politische und ökonomische Macht in ihren Händen zu behalten.

Seit der Kolonialzeit hat sich im Süden Mexikos die Agraroligarchie gehalten. Die Landfrage ist eine der Ursachen für die seit Jahren wiederkehrenden Unruhen im scheinbar armen Bundesstaat Chiapas. Tatsache ist, daß die ca. 3,5 Millionen Einwohner sich bestens selbst ernähren könnten. Chiapas hat den Boden für eine ausreichende Maisproduktion, doch die Familien können sich selbst nicht mehr versorgen. Der Mais geht in andere Landesteile oder ins Ausland. Mehr als 70% der Kinder sind unterernährt. Wenige Viehzüchter besitzen große Rinderherden. Die unersättliche Gier der MacDonalds nach ständig wachsender Fleischproduktion zerstört fruchtbares Land. Die Vergrößerung der Viehherden zieht ökologische Zerstörung und weitere Vertreibung von Bauernfamilien nach sich. Nicht zuletzt gibt es in Chiapas große Kaffeefincas, deren Besitzer oftmals deutscher Herkunft sind. Sie benötigen zur Erntezeit billige Arbeitskräfte und beschäftigen viele Landlose kurzzeitig, um sie später wieder in unfruchtbare Hochland- oder auch Regenwaldregionen zu entlassen. Besonders die Mayagemeinden sind davon betroffen. Die ehemals vielgerühmte mexikanische Agrarreform hatte sie schon früher mit mageren und steinigen Böden des Hochlandes abgespeist.

Und nicht zuletzt beginnt der Aufstand an dem Tag des Inkrafttretens des nordamerikanischen Freihandelsabkommens (NAFTA) zwischen USA, Kanada und Mexiko, das den ungehinderten und freien Warenaustausch zwischen diesen Ländern vorsieht. Die Zapatistas sprechen vom Todesurteil für die indianische Bevölkerung. Sie wissen aus eigener Erfahrung, daß die internationalen Konzerne sich goldene Nasen verdienen und alle ihre friedlichen Bemühungen, sich Gehör für die Verbesserung ihrer Lebensgrundlagen zu verschaffen, dem Modernisierungsprozeß zum Opfer gefallen sind.

Die Zapatistas erhalten viel Beifall auf der Plaza Mayor in San Cristóbal de las Casas an diesem Neujahrsnachmittag, einen Tag bevor das Militär angreift und die Bilder von Toten und Hinrichtungen, von Bombardements und von fadenscheinigen Erklärungen durch die Welt flimmern.

(Übersetzung: Annette Massmann)


Unter dem Stern von Pancho Villa

Es war wie eine Neuinszenierung von Pancho Villa in den Bergen von Corralchén. Ein cineastisches set in Hollywood-Manier. Mit Steinen wurden vier Straßen - mitsamt der dazugehörenden Straßenschilder - markiert, aus Bambus und Lehm Häuserfassaden und ein virtueller Regierungspalast errichtet. Aus Holz wurde ein kleiner Bus gebastelt, der die Beschilderung "Regiment 82" erhielt, und sie schleppten sogar ein echtes Motorrad heran, einzig mit dem Ziel, dem Szenario einen realistischen Anstrich zu geben. In diesem Arrangement wurde die Januaroffensive 1994 geprobt. Als das Militär ein halbes Jahr früher, im Mai 1993, auf dieses Lager stieß, schlußfolgerten die Generäle des Heeres: "Dies ist der Plan für einen Angriff auf Ocosingo." In Wirklichkeit ging es um viel mehr.

"Wenn du darauf achtest", sagt uns Subcomandante Marcos im Rückblick auf die Ereignisse, "wirst du feststellen, daß die Fassaden der Regierungspaläste von San Cristóbal, Margaritas, Ocosingo und anderen Orten identisch sind." So übte die EZLN die Einnahme dieser Ortschaften.

Der Urheber der Strategie erhebt Anspruch auf seine Originalität: "Ich habe nicht die FMLN-Offensive in San Salvador kopiert, sondern den Angriff Pancho Villas auf Ciudad Juárez."

In den zwölf Tagen des Kampfes verliefen die Dinge nicht immer nach dem Plan des Strategen der EZLN. In Ocosingo kam es zu einem nicht beabsichtigten Kampf. Das Heer umzingelte sie von zwei Seiten, und die Zivilbevölkerung steckte mittendrin. "In diesem Fall", erzählt Marcos, "tat unsere Truppe das, was sie tun mußte: Sie starb für die Bevölkerung."

Marcos verschweigt nicht, daß es Verluste gab. "Wie wir zu Anfang sagten, wir leben auf Pump. Ich muß den Menschen gegenüber ehrlich sein und ihnen sagen: Wenn ich euch jetzt schreibe, ist es vielleicht das letzte Mal. Das ist die Wahrheit. Es geht weder um Krebs noch um AIDS, es geht darum, daß sie uns töten wollen. Entweder die Nationalarmee erschießt uns oder die Journalisten aus Unvorsichtigkeit.

Wir sind am 1. Januar nicht in den Krieg gezogen, um zu töten oder getötet zu werden. Wir sind vielmehr ausgezogen, uns Gehör zu verschaffen. In diesem Sinne ist klar, was gemeint ist, wenn die Genossen vom Komitee sagen 'ya basta'. Es war weder Selbstmord noch Abenteuer.

Wir haben in der Januar-Offensive gezeigt, daß mutige militärische Aktionen möglich sind. Für diese militärische Weisheit braucht man nicht auf die traditionellen oder zentralamerikanischen Guerillas zu schauen, sondern nur in die Geschichte unseres eigenen Landes zu blicken.

Was wir jedoch aus der zentralamerikanischen Revolution gelernt haben, ist, der Abgabe der Waffen wie in El Salvador oder - wie im Falle der Sandinisten - dem alleinigen Vertrauen in den Wahlprozeß zu mißtrauen. Aber unsere militärischen Ideen stammen hauptsächlich von Pancho Villa, auch von Zapata. Was man nicht machen sollte, entstammt den Erfahrungen der Guerrilla der siebziger Jahre. Diese haben eine bewaffnete und lokal beschränkte Gruppe gegründet und auf die zunehmende Unterstützung der Basis gewartet, die durch diesen Guerillafocus 'erleuchtet' würde. Ebenso falsch war es, sich auf Sektoren zu beziehen, die einen niemals unterstützen würden. Wir denken, daß dies Fehlinterpretationen der Guerrilla der siebziger Jahre waren, die wir entsprechend verarbeitet haben. Ich glaube nicht, daß man uns auf militärischem Gebiet bisher viele Fehler nachweisen kann. Klar, wir haben uns nicht der Gesamtmacht des Bundesherres entgegengestellt, aber in taktischen oder strategischen Fragen gibt es keine Beziehung mit ausländischen Gruppen.

Ein Intellektueller, der Herausgeber einer Zeitschrift ist, führt zum Beweis eines zentralamerikanischen Einflusses auf die EZLN an, daß wir zum einen unsere Toten oder Verwundeteten zurückzögen - das hätten wir von der FMLN. Zum anderen, daß wir die Städte angreifen - das stamme von der FSLN. Aber beide Dinge haben wir von Francisco Villa; dieser hatte drei Züge, um seine Verwundeten zu evakuieren. Was wir gemacht haben, war LKWs zu requirieren, um unsere Toten und Verwundeten herauszuholen und zu unseren Lagern bzw. Feldlazaretten zu bringen."

Ihre Vorbilder in strategischer Hinsicht sind also "Pancho Villa in bezug auf das reguläre Heer, Emiliano Zapata in bezug auf die Verwandlung des Bauern in den Guerrillero und umgekehrt". Das andere, sagt er, während eine Einheit trainiert, "haben wir aus einem Handbuch der mexikanischen Armee, das uns in die Hände fiel, aus einer kleinen Anleitung des Pentagons und schließlich aus einigen Schriften eines französischen Generals, dessen Namen ich schon nicht mehr weiß."

Etwas ernsthafter erklärt er seine Vision des Guerrilla-Krieges: "Wir betrachten den bewaffneten Kampf nicht im klassischen Sinne vorausgegangener Guerrillas, d.h. den bewaffneten Kampf als einzigen Weg, als die einzige und allmächtige Wahrheit, um die herum sich alles andere gruppiert. Wir haben vielmehr von Anfang an den bewaffneten Kampf als nur einen Bestandteil einer ganzen Reihe von Kampfformen bzw. -prozessen gesehen, die in ihrer Bedeutung dem Wechsel unterworfen sind. Manchmal ist die eine wichtiger, manchmal die andere."

(Aus einem Interview von Blanche Petrich und Elio Henríquez, erschienen in "La Jornada", 4.-7. Febr. 94, Übersetzung: Paula Villa)


 

Mindestens einer von uns wird überleben

 

Am 13. Januar ließ die EZLN den beiden landesweiten mexikanischen Zeitungen "La Jornada" und "El Financiero" sowie der Lokalzeitung "El Tiempo" von San Cristóbal de las Casas eine Auflistung ihrer politischen Forderungen zukommen. Subcomandante Marcos verfaßte dazu folgendes Begleitschreiben.

 

Meine Damen und Herren!

Jetzt wende ich mich an Sie. Das Geheime Revolutionäre Indígena-Komitee, Generalkommandantur (CCRI-CG) der EZLN hat eine Reihe von Dokumenten und Kommuniqués herausgegeben, die für die nationale und internationale Presse von Interesse sein könnten. Deswegen richten wir uns an Sie, um zu sehen, ob die Dokumente durch Ihre journalistischen Medien öffentlich zugänglich gemacht werden können.

Diese Papiere enthalten unsere Position über die Geschehnisse im Zeitraum zwischen dem 7. und 13. Januar 1994. Ich betone dies ausdrücklich, da das Paket mit den Dokumenten, um zu Ihnen zu gelangen, wahrscheinlich einen tagelangen Weg zurücklegen muß: Es muß Landstraßen, Schneisen im Urwald, Trampelpfade, Berge und Täler durchqueren, Panzer, Militärfahrzeuge und Tausende olivgrüne Uniformen umgehen - kurz gesagt, dieses ganze Kriegsarsenal, mit dem sie uns einschüchtern wollen. Dabei vergessen sie, daß Krieg nicht eine Frage von Waffen und einer großen Anzahl von Bewaffneten ist, sondern ein politisches Problem.

Bei uns läuft alles gut. In diesen Dokumenten wiederholen wir unsere Bereitschaft zum Dialog, um eine gerechte Konfliktlösung zu finden. Andererseits läßt uns dieser ganze militärische Aufwand ziemlich kalt, mit dem die Regierung versucht, die riesige Kloake aus Ungerechtigkeit und Korruption wieder zuzustopfen, die wir aufgedeckt haben. Der Frieden, den einige jetzt fordern, hat für uns immer Krieg bedeutet. Es scheint so, als fühlten die großen Herren über Ländereien, Handel, Industrie und Kapital sich belästigt, weil die Indígenas heutzutage zum Sterben in die Städte gehen und dabei die Straßen beflecken, die vorher nur von weggeworfenen Verpackungen von Importprodukten verdreckt waren. Die Herren zögen es vor, wenn die Indígenas weiterhin in den Bergen sterben würden, fernab vom guten Gewissen und vom Tourismus.

Das wird nicht so bleiben: Man kann nicht das Wohlbefinden einer Minderheit auf den Entbehrungen der Mehrheit aufbauen. Jetzt werden sie unser Schicksal teilen müssen, im Guten wie im Schlechten. Vorher hatten sie die Möglichkeit, ihren Blick von dem gigantischen historischen Unrecht abzuwenden, das die Nation gegenüber ihren Ureinwohnern beging. Sie sahen diese lediglich als anthropologische Objekte, touristische Kuriosität oder Teile eines "Jurassic Park" (schreibt man das so?), der glücklicherweise mit dem Abschluß des NAFTA zu verschwinden hätte, welcher für sie lediglich Wegwerf-Totenscheine vorsah, denn in den Bergen wird der Tod nicht mehr gezählt.

Alle sind schuldig, von den hohen Funktionären der Bundesregierung bis hin zum letzten korrupten Indígena-Führer, ebenso der Gouverneur, den die Chiapaneken nicht rechtmäßig und nach freiem Willen bestimmen konnten, die Bürgermeister, die mehr um repräsentative Werke besorgt waren und die Kontakte zu hohen Herren ausweiten wollten, anstatt im Sinne ihrer Leute zu regieren. Funktionäre der unterschiedlichsten Ränge - sie alle verweigerten denjenigen Respekt und Würde, die noch vor ihnen dieses Land bewohnt hatten. Sie vergaßen, daß die Menschenwürde nicht nur das Eigentum derjenigen ist, deren elementare Versorgung gewährleistet ist, sondern auch derjenigen, die zwar nichts Materielles besitzen, aber etwas anderes, was uns von Gegenständen und von Tieren unterscheidet: die Würde.

Gleichzeitig muß man anerkennen, daß es inmitten dieses Meeres von Gleichgültigkeit auch Stimmen gab und gibt, die angesichts der Folgen dieser Ungerechtigkeiten alarmiert waren. Unter diesen Stimmen war und ist auch die des aufrechten Journalismus, den es immer noch gibt, sowohl auf lokaler als auch auf nationaler Ebene. Schließlich scheint es so - um Sie nicht weiter zu langweilen - als hätten Sie bereits genügend Probleme, die Armee dazu zu bringen, daß Sie Ihre journalistische Arbeit machen können.

Die Panzer, Flugzeuge, Hubschrauber, ihre Tausende Soldaten schüchtern uns nicht ein. Genau die Ungerechtigkeit, die uns ohne ausgebaute Straßen, Wege und elementare Dienstleistungen ließ, wendet sich jetzt gegen sie. Wir brauchen keine Landstraßen, da wir uns immer auf Urwaldpfaden und kleinen Wegen fortbewegt haben. Nicht einmal alle Soldaten der Bundesarmee würden ausreichen, um all diese Wege dicht zu machen, auf denen früher unser Elend wandelte und auf denen jetzt unsere Rebellion ihren Lauf nimmt.

Auch die Lügen von Presse und Fernsehen treffen uns nicht. Haben die vielleicht den realen Prozentsatz von Analphabeten, den es im Staat Chiapas gibt, vergessen? Wie viele Wohnungen in dieser Region haben kein elektrisches Licht und von daher auch keinen Fernseher?

Auch falls die Nation sich von neuem durch diese Lügen einlullen läßt, wird mindestens einer von uns übrigbleiben und bereit sein, sie von neuem aufzuwecken. Die Geheimen Revolutionären Indígena-Komitees sind unzerstörbar. Sie müßten uns alle, absolut alle eliminieren, um uns auf militärischem Weg aufzuhalten. Und immer bliebe ihnen der Zweifel, ob nicht doch einer hier übriggeblieben ist, um das Ganze von vorn zu beginnen.

Ich werde Sie nicht weiter ablenken. Ich hoffe, daß die "ungefähre Personenbeschreibung" des "Comandante Marcos" nicht weiteren "Unschuldigen" Unannehmlichkeiten bringen wird (mit dieser "ungefähren Personenbeschreibung" werden sie schließlich denjenigen festnehmen, der in der Telenovela "Wildes Herz" im Kanal, but of course, der Superstars den "Juan Diablo" spielt).

Eine Frage: Wird dies alles vielleicht wenigstens dazu dienen, daß die "Mexikaner" lernen, richtig "Chiapas" zu sagen, statt "Chapas" und "Tzeltales" statt "Setsales"?

Grüße und eine Umarmung, falls es dafür noch Zeit und Möglichkeiten gibt.

 

(Übersetzung: Bettina Bremme, Lateinamerika Nachrichten 236,

Februar 1994)


Wer muß um Vergebung bitten und wer kann sie gewähren?

Presseerklärung der EZLN zum Amnestieangebot der Regierung

 

Ich wende mich an Sie, um Sie höflich um die Verbreitung der beigelegten Kommuniqués des Geheimen Revolutionären Indígena-Komitees - Generalkommandantur (CCRI-CG) zu bitten. Diese beziehen sich auf die wiederholten Verletzungen der Feuerpause durch die Regierungstruppen, die Initiative des Amnestiegesetzes des Präsidenten und auf die Rolle von Herrn Camacho Solís als Abgesandter für Frieden und Versöhnung in Chiapas. Ich glaube, daß die von uns am 13. Januar abgesandten Dokumente bereits in Ihre Hände gekommen sein müssen. Ich weiß nicht, welche Reaktionen diese Dokumente hervorrufen werden, noch, welche die Antwort der Regierung auf unsere Vorschläge sein wird. Darum beziehe ich mich nicht auf sie. Bis heute, 18. Januar 1994, haben wir nur Kenntnis von der Formalisierung der "Vergebung" bekommen, die die Regierung unseren Streitkräften anbietet.

Für was müssen wir um Vergebung bitten? Was werden sie uns vergeben? Daß wir nicht vor Hunger sterben? Daß wir in unserem Elend nicht schweigen? Daß wir nicht demütig die gigantische historische Last von Verachtung und Im-Stich-Gelassensein akzeptiert haben? Daß wir uns mit Waffen erhoben haben, als wir alle anderen Wege verschlossen fanden? Daß wir uns nicht an das Strafgesetzbuch von Chiapas gehalten haben, das absurdeste und unterdrückerischste, das man sich denken kann? Daß wir dem Rest des Landes und der ganzen Welt gezeigt haben, daß die menschliche Würde noch lebt und sich bei ihren am meisten verarmten BewohnerInnen findet? Daß wir uns gut und bewußt vorbereitet haben, bevor wir anfingen? Daß wir Gewehre zum Kampf mitgebracht haben, anstatt Pfeile und Bogen? Daß wir gelernt haben zu kämpfen, bevor wir es taten? Daß wir alle MexikanerInnen sind? Daß wir mehrheitlich Indígenas sind? Daß wir das ganze mexikanische Volk aufrufen zu kämpfen, mit allen möglichen Formen, für das, was ihm gehört? Daß wir für Freiheit, Demokratie und Gerechtigkeit kämpfen? Daß wir nicht den Wegen der vorherigen Guerillas folgen? Daß wir uns nicht ergeben? Daß wir uns nicht verkaufen? Daß wir uns nicht verraten?

Wer muß um Vergebung bitten und wer kann sie gewähren?

Die, die sich Jahr für Jahr an einen vollgedeckten Tisch setzten und sich satt aßen, während über uns das Todesurteil gesprochen wurde, so alltäglich, so vertraut, daß wir aufhörten, davor Angst zu haben? Die, die unsere Taschen und Seelen mit Erklärungen und Versprechungen füllten? Die Toten, unsere Toten, die eines "natürlichen" Todes starben, das heißt, an Masern, an Husten, an Grippe, an Cholera, an Typhus, an Drüsenfieber, an Tetanus, an Lungenentzündung, an Malaria und an anderen Nettigkeiten des Magens und der Lunge? Unsere Toten, die daran umgekommen sind, daß niemand etwas machte? All unsere Toten, die einfach so gehen mußten, ohne daß jemand die Rechnung aufgestellt, ohne daß jemand gesagt hätte: "Es reicht", und damit ihrem unnützen Tod einen Sinn gegeben hätte? Die, die uns das Recht und die Fähigkeit unserer Leute verweigerten, zu regieren und uns zu regieren? Die, die uns den Respekt vor unserem Brauch, unserer Farbe, unserer Sprache verweigerten? Die, die uns als AusländerInnen in unserem eigenen Heimatland behandeln, von uns Papiere und Gehorsam gegenüber einem Gesetz fordern, dessen Existenz und Gerechtigkeit wir nicht kennen? Die, die uns folterten, verhafteten, ermordeten und verschwinden ließen - wegen des schweren "Verbrechens", ein Stückchen Land zu erbitten, nicht ein großes Stück, nicht einmal ein kleines Stück, sondern ein Stückchen, dem man etwas abringen könnte, um den Magen zu füllen?

Wer muß um Vergebung bitten und wer kann sie gewähren? Der Präsident der Republik? Die Minister? Die SenatorInnen? Die Abgeordneten? Die Gouverneure? Die GemeindepräsidentInnen? Die Polizei? Die Streitkräfte? Die großen Herren der Banken, der Industrie, des Handels und des Grundbesitzes? Die politischen Parteien? Die Intellektuellen? Galio und Nexos?4 Die Kommunikationsmedien? Die StudentInnen? Die LehrerInnen? Die Colonos?5 Die ArbeiterInnen? Die Campesinos? Die Indígenas? Die Toten eines unnützen Todes?

Wer muß um Vergebung bitten und wer kann sie gewähren?

Soweit ist das alles für den Moment. Einen Gruß und eine Umarmung, bei dieser Kälte werden beide sicher dankbar angenommen (glaube ich), obwohl sie von einem "Berufstätigen der Gewalt" kommen.

 

Subcomandante Marcos

(aus: ila, Nr. 172, Februar 1994)

 


Episode von pasamontañas und anderen Masken

Warum wird so viel Aufhebens wegen der pasamontañas gemacht? Ist nicht die mexikanische Kultur überhaupt eine "Kultur der Tarnung"? Nun denn, um die wachsende Furcht derer zu bremsen, die fürchten (oder hoffen), daß hinter der pasamontaña und der "ausgeprägten Nase" (wie die "Jornada" sagt) des "sup" (wie die Compañeros sagen) ein "kamarrada" oder "boggie el aceitoso" (öliger Typ) auftaucht, schlage ich folgendes vor: Ich bin bereit, die Mützenmaske abzunehmen, wenn die mexikanische Gesellschaft sich die Maske abnimmt, die die auf ein benachbartes Land gerichteten Sehnsüchte ihr schon vor vielen Jahren übergestülpt haben. Was würde passieren? Das Vorhersehbare: Die mexikanische Zivilgesellschaft (außer den Zapatisten, die sein Aussehen, Denken, sein Wort und seine Taten sehr gut kennen) würde - nicht ohne Desillusionierung - feststellen, daß der "sup" kein Ausländer ist und auch nicht so hübsch, wie es der Generalstaatsanwaltschaft nahestehende Kreise verbreiten. Aber nicht nur das. Hinter ihrer eigenen Maske würde die mexikanische Zivilgesellschaft entdecken, mit ungleich stärkerer Wirkung, daß das Bild, das man ihr von sich selbst VERKAUFT hat, falsch ist und die Wirklichkeit noch viel niederschmetternder, als sie vermutet hat. Wir würden uns einander ins Gesicht sehen, aber mit dem großen Unterschied, daß der "sup-Marcos" schon immer gewußt hat, wie er in Wirklichkeit aussieht, und die mexikanische Gesellschaft würde endlich aus dem langen und trägen Traum aufwachen, in den die "Moderne" sie auf Kosten von allem und jedem versetzt hat. Der "sup-Marcos" ist bereit, die pasamontaña abzunehmen. Ist die mexikanische Gesellschaft bereit, IHRE Maske abzulegen? Versäumt nicht die nächste Episode dieser Geschichte von Masken und Antlitzen, die sich bewahrheiten oder der Lüge überführt werden (falls die Flugzeuge und Hubschrauber über uns und die olivgrünen Masken eine Fortsetzung erlauben).

 

Subcomandante Marcos, 20. Januar 1994

(Übersetzung: Danuta Sacher)


Laßt uns nicht allein!

An den Consejo Guerrerense 500 Años de Resistencia Indígena, A.C., Chilpancingo, Guerrero, Mexiko.

 

Brüder und Schwestern:

Wir wollen Euch sagen, daß wir den Brief erhalten haben, den Ihr uns am 24. Januar 1994 geschickt habt. Wir sind froh zu wissen, daß unsere Indígena-Brüder und -Schwestern der Amuzgos, Mixtecos, Náhuatls und Tlapanecos unseren gerechten Kampf für die Würde und Freiheit der Indígenas und aller Mexikaner kennen.

Unser Herz wird stark durch Eure Worte, die von so weit herrühren und die aus der ganzen Geschichte der Unterdrückung, des Todes und des Elends herrühren, welche die schlechten Regierenden unseren Völkern und unseren Leuten diktiert haben. Unser Herz wird groß mit Eurer Botschaft, die uns erreicht hat, indem sie Berge und Flüße, Städte und Landstraßen, Mißtrauen und Herabwürdigungen übersprungen hat.

In unserem Namen, in Eurem Namen, im Namen aller mexikanischen Indígenas und Nicht-Indígenas, im Namen aller Menschen, die gut sind und den richtigen Weg gehen, haben wir die Worte von Euch Brüdern und Schwestern empfangen, Brüder und Schwestern gestern in der Ausbeutung und im Elend, heute und morgen im würdigen und wahren Kampf.

Heute ist es einen vollen Monat her, daß das zapatistische Licht zum ersten Mal aufschien, die Nacht unsrer Leute zu erhellen.

In unserem Herzen, Brüder und Schwestern, gab es so viel Schmerz, so sehr waren Tod und Leid unser, daß es nicht mehr in diese Welt paßte, die uns unsere Großväter gaben, um weiter zu leben und zu kämpfen. So groß war der Schmerz und das Leid, daß sie nicht mehr ins Herz einiger weniger paßten und es überfloß und sich andere Herzen mit Schmerz und Leid füllten. Und es füllten sich die Herzen der Ältesten und Weisesten unserer Völker, und es füllten sich die Herzen junger Männer und Frauen, allesamt mutig, und es füllten sich die Herzen der Kinder, selbst der allerkleinsten. Und es füllten sich von Leid und Schmerz die Herzen der Tiere und der Pflanzen, es füllte sich das Herz der Steine, und unsere ganze Welt füllte sich mit Leid und Schmerz, und es fühlten Leid und Schmerz der Wind und die Sonne, die Erde fühlte Leid und Schmerz. Alles war Leid und Schmerz, alles war Stille.

Endlich brachte uns dieser Schmerz, der uns einte, zum Sprechen, und wir erkannten, daß in unseren Worten Wahrheit war, wir verstanden, daß nicht nur Leid und Schmerz in unserer Sprache wohnen, wir bemerkten, daß es in unserer Brust noch Hoffnung gibt. Wir sprachen miteinander, wir schauten in uns hinein, und wir schauten unsere Geschichte an: Wir sahen unsere größten Väter leiden und kämpfen, wir sahen unsere Großväter kämpfen, wir sahen unsere Väter mit der Wut in den Händen. Wir sahen, daß uns nicht alles weggenommen worden war, daß wir das Wertvollste besitzen, das, was uns leben läßt, was bewirkt, daß sich unser Schritt über Pflanzen und Tiere erhebt, was bewirkt, daß der Stein unter unseren Füßen ist, und wir sahen, daß die Würde alles war, was wir hatten. Und wir sahen, daß die Schande groß ist, sie verloren zu haben, und wir sahen, daß die Würde gut ist dafür, daß die Menschen wieder Menschen sind. Und es kehrte die Würde wieder zurück, um in unseren Herzen zu wohnen, und wir wurden durch sie erneuert, und die Toten, unsere Toten, sahen, daß wir nun andere waren, und sie riefen uns noch einmal zur Würde auf, zum Kampf.

Und da war unser Herz nicht mehr nur Leid und Schmerz. Es kam der Zorn, der Mut kam zu uns durch den Mund unserer Alten, die schon tot sind, aber noch einmal lebendig in unserer Würde, die sie uns gegeben haben. Und so sahen wir, daß es schlecht ist, an Leid und Schmerz zu sterben. Wir sahen, daß es schlecht ist, zu sterben, ohne gekämpft zu haben. Wir sahen, daß wir einen würdigen Tod erlangen müssen, damit eines Tages alle leben, in Wohlergehen und Weisheit. Da suchten unsere Hände die Freiheit und die Gerechtigkeit. Da füllten sich unsere von Hoffnung entleerten Hände mit Feuer, um zu fordern und unsere Qualen, unseren Kampf hinauszuschreien. Da erhoben wir uns aufs neue zum Gehen, unser Schritt wurde noch einmal fest, unsere Hände und unser Herz waren gerüstet. "Für alle", sagt unser Herz, nicht nur für einige, nicht für ein paar wenige. "Für alle", sagt unser Schritt. "Für alle", schreit unser vergossenes Blut, das in den Straßen der Städte aufblüht, wo die Lüge und der Raub regieren.

Wir ließen unsere Felder zurück, unsere Häuser sind weit weg, wir ließen alle alles zurück. Wir streiften uns die Haut ab, um uns mit Krieg und Tod zu kleiden, um zu leben, sterben wir. "Nichts für uns, für alle alles", was an und für sich uns und unseren Kindern gehört. Wir haben alle alles zurückgelassen.

Jetzt sollen wir alleine gelassen werden, Brüder und Schwestern, soll unser Tod vergeblich sein, soll unser Blut zwischen Steinen und Dung vergessen werden, soll unsere Stimme verstummen, sollen wir wieder einmal unser Auftreten beenden.

Laßt uns nicht im Stich, Brüder und Schwestern, nehmt unser Blut als Nahrung, füllt Euer Herz und das aller guten Menschen dieser Lande, Indígenas und Nicht-Indígenas, Männer und Frauen, Alte und Kinder. Laßt uns nicht allein. Damit nicht alles vergebens ist.

Daß die Stimme des Blutes, das uns einte, als die Erde und die Himmel nicht Eigentum der großen Herren waren, uns noch einmal rufe, daß unsere Herzen ihre Schritte zusammenschließen, daß die Mächtigen erzittern, daß sich das Herz des Kleinen und Elendigen erfreue, daß die Toten von immer Leben haben.

Laßt uns nicht im Stich, laßt uns nicht alleine sterben, überlaßt unseren Kampf nicht den Lügen der Mächtigen.

Brüder und Schwestern, daß unser Weg der gleiche für alle sei: Freiheit, Demokratie, Gerechtigkeit.

 

Hochachtungsvoll.

Aus den Bergen des Südostens Mexikos: CCRI-CG-EZLN, 24. Januar 1994.

(Übersetzung: Etienne Largend)


"Marcos zur "Moderne"

Die Forderung nach einem Ende der neoliberalen Politik wird im ganzen Land erhoben. Sie kommt auch in unserem Forderungskatalog zum Ausdruck, aber keiner hat diesen Teil beachtet, auch Camacho nicht. Wir fordern würdige Arbeit und gerechte Löhne für die Arbeiter auf dem Land und in der Stadt, mit einem Wort: eine Änderung der Wirtschaftspolitik insgesamt. Dazu wurde uns gesagt, das sei schlimmer als ein Überfall auf den Himmel, das sei eine Marihuana-Idee bekiffter Indígenas. Sie boten uns mehr Ausbildung an, aber was wir fordern ist eine Neuordnung der Wirtschaftspolitik. Hier wird auf zwei Wellenlängen aneinander vorbeigeredet, ebenso wie bei der Autonomie-Frage: Die Regierung denkt bei Autonomie an die Balkanisierung des Landes und daß wir uns mit indianischen Regierenden absondern wollen. Darum geht es uns aber nicht. Die Compañeros würden jeden in der Regierung akzeptieren, Mestize oder Indígena, nur wahrhaftig muß er sein und absetzbar, wenn er nichts taugt. Aber was erwidern sie uns: daß sie einige pure Indígena-Gemeinden einrichten wollen und einen besonderen Bundesstaat. So etwas wollen wir nicht.

Was die Landproblematik betrifft, geht es uns nicht um die Größe des zuzuteilenden Landes oder Besitzverhältnisse im engen Sinne, denn hierbei spielt eine Rolle, ob es sich um guten oder schlechten Boden handelt. Nicht einmal die Enteignung von Großgrundbesitz ist uns das wichtigste, wenigstens solange die Forderung nach Land auf andere Weise befriedigt werden kann. Außerdem wurde deutlich gemacht, daß die ökologischen Reserven nicht angetastet, daß bewaldete Gebiete nicht überschrieben werden sollen, weil nicht noch mehr gerodet werden darf. Unser eigentliches Problem ist die Produktivität. Was notwendig ist, ist eben nicht nur eine Umverteilung des Bodens, sondern die notwendige Infrastruktur, damit das Land mehr hergibt als den jetzigen Durchschnitt, der gegenwärtig in der Selva bei einer halben Tonne Mais pro Hektar liegt. Der nationale Durchschnitt lag demgegenüber vor einigen Jahren bereits bei acht Tonnen. Die Indígenas säen mit dem Pflanzstock, Löchlein für Löchlein, nicht einmal mit dem Pflug wird gearbeitet. In Chiapas den Ochsenpflug einzuführen hieße hundert Jahre in einem Satz zu überspringen, und ich spreche vom Pflug, nicht von Traktoren, Dünger, Insektiziden oder so etwas.

 

(aus: Guiomar Rovira: Zapata vive, Barcelona 1994, S. 301.

Übersetzung: Danuta Sacher)


Die wahren Gesichter

Hermann Bellinghausen

 

Trügerische Ruhe

 

Gerüchte kursierten im Gebiet der Zapatistas, daß die in Ocosingo stationierten Militärs am 29. März einen Angriff gegen die EZLN planen würden. Das war für zahlreiche Familien Grund genug, ihre Farmen zu verlassen, vor allem solche, die der ARIC angehörten. Ihre Tiere ließen sie angebunden zurück. Seit dem Vorabend waren die Flüge des kleinen Flugzeuges suspendiert worden, während sich das Gerücht bestätigte, daß einige Tage zuvor "etwas" über einer Farm in Altamirano aus einem Flugzeug abgeworfen worden war, die mutmaßliche Zapatistas besetzt hatten. Etwas, das explodierte.

Auch wenn die Polizei- und Militärposten in der Provinzhauptstadt Ocosingo verstärkt wurden, blieb das in der Umgebung stationierte Militär in seinen Stellungen, und die geringere Zahl der Flüge über der Selva konnte dem schlechten Wetter zuzuschreiben sein. Tatsache ist, daß zur Abwechslung nichts geschah. In den ersten Ansiedlungen auf EZLN-Gebiet scheint das Leben friedlicher als zu Friedenszeiten. Aber man soll nicht glauben, daß es viel Spielraum gibt. Er ist eingeschränkter als zuvor.

In der ersten Ansiedlung nach der Grenze zur "Schwarzen Zone" gibt es seit Dezember, als der Lehrer floh, keinen Unterricht. Die Karwoche und all die übrigen Wochen werden zu Sonderfeiertagen, so daß die Kinder sich untätig und neugierig herumtummeln. Vier Hunde verfolgen und ärgern ein Schwein, das schreit, als würde ihm die Haut abgezogen, während ein Bauer Steine nach ihm wirft. Erst als es zum Haus seiner Besitzer kommt und den Schuppen durchquert hat, findet das Schwein zu seinem üblichen "Oink Oink" zurück. Es hatte auf fremden Feldern stibitzt.

Die Männer arbeiten auf den Maisfeldern, sie roden. Ein paar Jugendliche spielen unendliche Basketballpartien, mit mehr Kraft als Technik. Eine vielköpfige Familie (zusammen zehn Kinder und Erwachsene) bewegt sich in Richtung der inneren Zone, das heißt nach unten. Sie tragen Lebensmittel und Treibstoff.

Sie werden zusammen mit einem abgemagerten grauen Pferd den ganzen Tag bis zu ihrer Farm laufen. Sie gehen schweißgebadet, eilig und schweigsam, und haben Stunden vor sich, die lang sein werden. Der Mann an der Spitze trägt ein eingeschaltetes Radiogerät, das Nachrichten auf Tzeltal und Spanisch sendet, worin sich wiederholt die Worte "Partei der Institutionellen Revolution" ausmachen lassen, im Anschluß an Werbespots von Schuh- und Kurzwarengeschäften.

Für die Zapatistas hing die unmittelbare Zukunft ihres Friedens oder ihres Krieges zum Teil von der Ernennung des neuen PRI-Kandidaten ab. Der Name Ernesto Zedillo sagt ihnen, daß die Dinge sich vorerst weder zum Besseren noch zum Schlechteren wenden werden.

Immer wieder kommen Familien mit ihren bescheidenen Einkäufen vorbei, auf dem Weg zu ihren Dörfern oder Gehöften. Die Frauen tragen Taschen und ihre Tücher voller Pakete auf dem Kopf oder mit einem Kind darin auf dem Rücken. Die Männer verzerren die Gesichter unter der Last enormer weißer Säcke.

Panchito und Luis (zwei und drei Jahre alt) spielen vor dem Haus, während ihre junge Mutter auf dem Feuer Kaffee kocht. Ein flauschiger Bimbobär, der einmal weiß war, dient ihnen als Fußball, Puppe, Wurfgeschoß und Taschentuch für die Rotznasen. Sie wissen es nicht, aber sie sind vergnügt.

Ein paar Schwalben fliegen vor dem grünen Hintergrund. Einige hohe Turalzweige blühen weiß und rosa, als breche der Frühling aus. Tage erfrischender Ruhe. Oder trügerischer Ruhe?

Tiefer im Inneren dieser Region, die heute zapatistisch ist, tauchen die Zeichen des Aufstandes auf - Waffen, die Disziplin der Miliz, es herrscht "Alarmstufe rot". Hier trifft man auf eine Überzeugung, die unverhältnismäßig erscheinen mag: Menschen, die sich entschieden haben zu kämpfen, auch wenn der Krieg kurzfristig erst einmal eher Todesgefahr als ein anderes Leben bedeutet. Wenn man mit den Mitgliedern der aufständischen Kräfte gesprochen hat, wie sie sich selber nennen, bleibt ein Nachhall extremer Gefühle: Jugendliche, die bereit sind, zu kämpfen, vielleicht zu sterben, mit Zustimmung, sogar Zuspruch ihrer eigenen Eltern.

Laura, Adolfo, Freddy, Heriberto und viele andere, an die dreißig sind es, trainieren unter Anleitung von Subcomandante Marcos und Mayor Rolando in einer abgelegenen Ansiedlung im Dschungel mit ihren verschiedenen Feuerwaffen in den Händen. Am Vorabend hatten sie noch eine halbe Stunde trainiert und sich vorbereitet und dann zum Abschluß die zapatistische Hymne gesungen, auf die Melodie von Carabina 30-306, mit dem Ausdruck derselben ernsten Freude, mit der sie Tamales kochen oder ihren Wachturnus übernehmen, und mit einer Überzeugung, die jenseits von Zweifeln oder Schmerz ist.

Es ist man selbst, der mit den Zweifeln der Stadt kommt und Fragen stellt, die sie, die Aufständischen, schon vor langer Zeit für sich beantwortet haben. Die "Aufständischen", bewaffnet und hinter ihren typischen Mützenmasken verborgen, bewachten vorgestern abend das dürftige Hospital und die großzügige Küche, wohin wir in der Dunkelheit gebracht wurden. Sie zu sehen erfüllt einen mit Zärtlichkeit, die man normalerweise nicht "Gewalttätigen" gegenüber empfindet, wie manche da draußen sie nennen.

Marcos, "professioneller Gewalttäter, zu Diensten", ein Chef, der etwas von einem gutmütigen Patriarchen hat, stellt ein Paradoxon dar: Er ist der bescheidene Diener dieser Campesinos und gleichzeitig ihr Führer. Sie sind alle so jung. Wer könnte so einen Ort bombardieren, der voll fröhlicher Lebenslust ist?

Da sind die Wachhabenden - Amalia, Laura, Heriberto und dann die armen Leute des Dorfes. Sehr arm, wie María, die man, wenn es nach ihr ginge, auch Candelaria ("Lichtmeß") nennen könnte. Kämpfen sie für ihre Befreiung oder bereiten sie ein Grab für neue Opfer der Repression? Die Gefahr scheint hier so unwirklich. Wird man ihnen die Unerhörtheit ihrer Herausforderung und Rebellion vergeben? Diese angestaute Ruhe kann nicht ewig dauern. Wo gab es das jemals in der Welt, daß sich ein Rebellenheer erhebt, nicht siegt, aber auch nicht vernichtet wird? Worin besteht das Neue dieses Aufstands? Sicherlich, da ist diese Entschlossenheit, nicht weiter mit sich so umspringen zu lassen wie zuvor. Aber ihre Alternative: Siegen oder Sterben, ist das ein Fortschritt? Um uns sind 30.000 Berufssoldaten, die bereit sind, das herrschende System zu verteidigen, und das Land ist aufgebracht. Wird wieder die Grausamkeit, dieselbe wie immer, gegen sie losschlagen, jetzt geschürt durch die Empörung und die Staatsräson? Oder wird dieser ländliche Aufstand die Kräfteverhältnisse gegenüber den Armen verändern?

All das sind vorläufige Fragen. Das Leben selbst ist immer vorläufig, aber eins ist für diese Leute klar: Wenn die Situation so bleibt wie vorher, wenn ihre Forderungen nicht erfüllt werden, müssen die "Sicherheitskräfte" kommen und sie töten. Auch die Verwundeten drücken sich klar aus: Sie ziehen es vor, nicht zu leben, als so zu leben wie vorher. Wie Luis Miguel mit seinem zertrümmerten Arm sagt: Nicht der Schmerz ist es, der am meisten schmerzt.

 

Kriegsverletzte

Einer dieser Tage ist heraufgezogen, an denen die Sonne sich bitten läßt. Ein Tag, den Benito "traurig" nennt wegen der Wolken, aber der ihn nicht daran hindert, ganz selbstverständlich zu lachen und Witze zu machen.

Mayor Benito hat bei den Kämpfen von Ocosingo das rechte Auge verloren, aber weder die Lebenslust noch seine Entschlossenheit. Und tatsächlich ist er weiter in seiner Funktion tätig, manchmal mit dunkler Brille, manchmal mit offenliegender Augenhöhle.

Andere Kämpfer, wie Capitán Luis Miguel, 21 Jahre alt, müssen erst einmal kürzer treten. Er hatte an der Spitze einer Einheit an der Besetzung von Altamirano teilgenommen, dann waren sie über Oxchuc und Huistán vorgedrungen, mit dem Auftrag nach Rancho Nuevo zu gelangen und das Vorrücken der Mexikanischen Armee aufzuhalten. Ein Schuß zertrümmerte ihm völlig den rechten Arm. Er ist bis heute noch nicht wieder in Ordnung.

"Meine Aufgabe war es, die Bundestruppen aufzuhalten. Andere griffen das Cereso (Centro de Readaptación Social), das Gefängnis an. Wir sicherten diesen Angriff mit der Milizeinheit, die ich leitete."

Vor dem Hintergrund von Bananenstauden und steilen Berge anstatt eines Horizontes erzählt er in aller Ruhe seine Erfahrungen. Er wird begleitet von Subteniente Sergio, 22 Jahre alt, Mitglied derselben Einheit, im gleichen Gefecht am linken Knöchel verwundet. Beide wiederholen unter ihren marineblauen pasamontañas die Geschichte, die andere schon vor uns gehört haben. Luis Miguel fährt fort:

"Wir waren Teil der Vorhut. Seine Stellung lag ein bißchen weiter zurück. Ein Lastwagen der Armee kam vorbei und gab Schießbefehl. Sie ignorierten unseren Kontrollposten. Da sind zwei Soldaten gefallen. Später kam ein Lastwagen, einer ihrer Sechs-Tonner. Sie schossen Salven aus ihren Maschinengewehren, und dabei haben sie mich erwischt. Ich war der erste Verwundete und verlor das Bewußtsein, als die Compañeros mich über Oxchuc nach hinten brachten. Als ich aufwachte, wurde ich bereits von den Sanitäterinnen versorgt. Wenig später haben sie mich hierhergebracht. Ich habe viel Blut verloren und hing am Tropf."

Luis Miguel verbringt seine Zeit erzwungener Tatenlosigkeit damit, "Zeitung zu studieren", und beklagt sich nicht über sein Schicksal. Er ist seit fünf Jahren bei der EZLN. Sergio seit drei Jahren. Beide kommen aus dem Hochland, aus Tzotzil-Familien:

"Wir haben ein Bewußtsein, das wir revolutionär nennen, und sind davon überzeugt, daß es besser ist zu kämpfen oder zu sterben als weiterzuleben wie bisher. Wir haben keine Angst vor dem Tod."

Sein Vater hatte ihn und seine Brüder zu den Zapatistas gebracht. Sergios Geschichte ist nahezu identisch. Eltern und Geschwister sind bei der Miliz. Sie sind in den Dörfern geblieben, leben keinen militärischen Alltag. Sie sind bereit zu kämpfen, aber nur wenn es die Situation verlangt. Auf ihre Initiative hin sind Luis Miguel und Sergio vor zwei Jahren in den Dschungel gekommen, um sich militärisch auszubilden. Ihre Familien wogen die Situation ab, und da sie ledig waren, entschieden sie, sie zu Kämpfern zu machen. Ihre Geschwister, die Kinder hatten, blieben im Dorf und wurden Teil der Miliz. Sie glauben, daß sie in der Lage sind, das Bundesheer zu besiegen, denn, so sagt Luis Miguel, "wir haben die Bevölkerung hinter uns", und "es ist richtig, was wir fordern".

"Ich bin darauf eingestellt, weiterzumachen, sobald es mir besser geht", sagt er.

"Wir waren bei der PRI, weil es notwendig war. Nicht bei der CNC oder einer anderen Organisation. Sie haben uns das Parteibuch gegeben, aber wir haben nie gewählt. Es gibt viele, die in die Partei eintraten. Einer meiner Onkel war der erste, der Zapatist wurde. Meine Familie ist nicht dagegen. Mein Vater weiß, daß ich kein Geld verdiene, aber er akzeptiert es, denn er weiß, daß ich es für uns alle tue."

Luis Miguel wurde am 2. Januar verwundet, aber er hat nicht den Eindruck, daß er seine Zeit vergeudet. Er langweilt sich nicht.

"Meine Familie hat kein eigenes Land. Wir pachten es von einem Grundbesitzer. Manchmal arbeiten wir auf dem Land des Patrons, aber er behält die Hälfte des Mais und der Bohnen."

Was aus denen geworden ist, die sie aus dem Cereso, dem Gefängnis von San Cristóbal, befreit haben, weiß er nicht:

"Sie haben gemacht, was sie wollten. Wir haben sie befreit, weil sie keine Schuld haben. Es waren politische Gefangene. Viele von ihnen hatten sich für andere Campesinos eingesetzt."

Nach dem Krieg im Januar sind viele Leute Zapatistas geworden. Jetzt sind, soweit er weiß, die Versammlungen in seinem Dorf nicht mehr geheim. Das ist nicht mehr nötig.

"Während der Kämpfe im Mai vorigen Jahres dachten wir, der Krieg würde gleich beginnen. Aber da wir die Bevölkerung nicht befragt hatten, konnten wir diese Entscheidung nicht treffen."

Vor einem Monat haben sie ihm den Gips abgenommen, jetzt hat er nur noch eine Verbandsschiene, aber es geht ihm noch nicht wieder gut. Sergio ist schon wieder in der Lage zu kämpfen, aber er bleibt ruhig, "bis der Befehl kommt". Er arbeitet in der Küche. Weder Sergio noch Luis Miguel kennen jemanden, der während der Kämpfe umgekommen ist. Die Einheit von letzterem wird jetzt von einem anderen geleitet, und er weiß derzeit nur, daß sie irgendwo unterwegs sind und daß es ihnen gut geht.

Er hat ständig Schmerzen und nimmt Schmerzmittel. Die Sanitäter sehen jeden dritten Tag nach ihm. "Ich bin in Behandlung", sagt er. Der Schmerz bedrückt ihn nicht. Ihm gefällt dieses Leben.

"Wir machen unseren Wachdienst, wo es sein muß."

Er denkt, daß die Probleme längst nicht gelöst sind: "Ich sage, es wird wieder Kämpfe geben. Wir haben uns an den Waffenstillstand gehalten, aber sie haben uns erneut bombardiert. Wir waren bereit zu kämpfen, nicht Verhandlungen zu führen, aber wir geben auch anderen Leuten im Land eine Chance. Wenn das Problem weitergeht, können wir sie wieder tanzen lassen mit den Waffen, die wir haben. Die Soldaten kämpfen nicht wegen ihres Bewußtseins, sie kämpfen für Geld, ihnen fehlt unsere Überzeugung. Sie sollten aber nur gegen die von uns kämpfen, die Uniform tragen und zum Kampf bereit sind. Sie dürfen die Zivilbevölkerung nicht angreifen. Deshalb haben wir die Regierung aufgefordert, uns als kriegführende Partei anzuerkennen, damit sie die anderen in Ruhe lassen und nicht bedrohen oder verhaften."

Sergio ist wortkarger. Er sagt, daß seine Geschichte der von Luis Miguel ähnelt. Sie haben parallele Leben. Die Stimme des einen könnte die des anderen sein. Luis Miguel ist der Mitteilsamere.

"Mein Dorf ist immer noch gespalten, aber wir werden die, die nicht zu den Waffen greifen wie wir, nicht dazu zwingen. Wenn sie neutral bleiben, ist es in Ordnung. Niemand kämpft aufgrund von Zwang, wohl aber aus Überzeugung. Wir kämpfen aus freien Stücken, niemand zwingt uns. Sergio und ich kannten uns nicht, aber wir wissen, daß wir gemeinsam sterben werden. Ich werde nicht mit meinem Vater sterben, vielleicht werde ich nirgendwo begraben. Wir wissen, daß es so ist. Wir sind bereit, unser Blut zu vergießen."

Über das Sterben und Töten erzählt Luis Miguel folgende Gedanken: "Es ist nicht gerecht, daß Colosio ermordet wurde. Er hat nichts getan, und er hat gesagt, er werde die Vereinbarungen einhalten. Wir wissen nicht viel, aber das ist unrecht, was sie mit ihm gemacht haben."

Er sagt, daß er nur auf die schießt, die auf ihn schießen. Und im Vergleich seiner Heimat im Hochland mit diesen Ansiedlungen in der Selva stellt er fest:

"Hier sind die Leute ärmer. Sie haben keinen Strom und keine Straßen. Auf den Ländereien dort schlägt dich der Vorarbeiter. Du arbeitest Tag und Nacht, er teilt dir Fußtritte aus. Das hat uns zu verstehen gegeben, daß sich das Land eines Tages ändern muß. Wir kennen die Patrones und die Großgrundbesitzer gut. Es sind Schweine, aber wir haben Achtung vor ihrem Leben. Wir hätten sie gleich am ersten Januar töten können, aber sie sind nicht unser Hauptfeind."

Luis Miguel und Sergio haben als Maurer-Hilfsarbeiter in San Cristóbal gearbeitet (Sergio auch in Comitán):

"Sie bezahlen dich nur, wenn du dich bei der Arbeit umbringst. Sechstausend Pesos in der Woche, von Montag bis Samstag, von sechs Uhr morgens bis elf Uhr in der Nacht. Sonst würde der Lohn nicht reichen."

Luis Miguel weiß, daß man in der Stadt mehr verdient, aber das ist kein Leben.

"Wir wollen nicht mehr so arbeiten. Wir wollen lieber studieren und Lehrer oder Ärzte werden - oder im Kampf sterben."

Skeptisch, was den Fortgang der Verhandlungen angeht, stehen die beiden unerschütterlich zu ihrer Überzeugung. Die Angst haben sie längst vergessen.

Später bricht die Nacht herein, dunkel und von Glühwürmchen bevölkert. Stille kann nicht einkehren wegen des durchdringenden Zirpens der Grillen. Es ist das Szenario der Hoffnung.

 

Amalias Kampf

Die Generationen wechseln. Die Subteniente Amalia spricht von ihrem Vater mit einer Bewunderung, die sie nicht zu verbergen versucht:

"Mein Vater ist spitze, er ist Campesino, mehr nicht, aber er hat gelernt, Spanisch zu sprechen. Er hatte die Dinge schon als Jugendlicher klar, als er noch nicht verheiratet war. Er hat gesehen, daß Streiks kein Ergebnis bringen. In seinem Kampf ist er geschlagen worden. Seine Genossen aus der Organisation wurden gefoltert und ermordet." Die Erfahrung ihres Vaters, eines Chol-Bauern und Aktivisten im Norden von Chiapas, endete nach Einschätzung seiner Tochter, die in diesen Zeiten den Namen Amalia trägt, in einer Sackgasse.

Im Schatten einer halbzerfallenen, unbewohnten Hütte stützt sich Amalia, weder stehend noch sitzend, auf eine alte Holzbank. Durch die Öffnungen im Lehm, der halbwegs die Mauern bildet, kann man die Berge des Nordens sehen, die eines chinesischen Landschaftsmalers würdig wären, steil, waldig und in Nebel gehüllt. Eine durchsichtig schimmernde Wirklichkeit, die den Träumenden träumt, Einzelheiten für ihn erfindet; sie entblößt ihn und hüllt ihn schützend ein, streckt ihr Dach über ihm aus. Draußen gehen hin und wieder andere junge Zapatisten vorbei, mit Gewehren, Uniformen und einer Unschuld, die, wie Amalia bekräftigt, ganz das Gegenteil bedeutet.

"Die ganze Familie war im Untergrund, aber sie haben es mir nicht gesagt. Ich habe sie gefragt, was sie machen, und sie fragten, warum ich das wissen will. Später haben sie mir davon erzählt, daß es eine bewaffnete Organisation gebe. Ich war 15 Jahre alt, ich habe gesehen, wie die Dinge lagen, und gesagt, daß ich gehen möchte. Es gibt eine Form der Miliz in deinem eigenen Dorf, aber es gibt auch die, die in die Berge gehen und sich dort ausbilden. Ich ziehe es vor, von meiner Familie entfernt zu kämpfen, aber ich besuche sie. Als ich 17 war, vor sieben Jahren, konnte ich schreiben und lesen, aber ich konnte nicht Spanisch sprechen. Als ich mich dem Heer anschloß, habe ich es gelernt. Als wir das ein bißchen konnten, haben wir die Geschichte Mexikos studiert, und die anderer Länder, wo es Krieg gegeben hat. Und später haben sie uns Kampftaktiken beigebracht."

Auch wenn einige der Frauen der EZLN einen harten, geradezu wilden Gesichtsausdruck haben (und erschreckende Biographien), lachen die meisten gern und viel. Aber wenige lachen so viel wie Amalia, deren großer Mund dafür gemacht scheint, die Zähne blitzen zu lassen und Lachfalten um die Augen zu werfen. Auch wenn sie über Dinge spricht, von denen zu sprechen anderen keine Freude machen würde.

"Das Training ist hart, aber ein Campesino-Kind ist es gewohnt, mit zehn Jahren Holzlasten zu tragen und zu arbeiten. Da wird die Sache einfacher. All die handwerklichen Arbeiten fallen mir nicht schwer. Was ein bißchen härter ist, ist die Disziplin, die mußt du erst lernen. Früher habe ich Mitglieder der Miliz unterrichtet, später habe ich die Arbeit gewechselt, denn sie lassen dich auswählen, welche Arbeit du tun willst, und ich habe die Gesundheit gewählt, darum bin ich Sanitäterin."

Es kostet ein ganzes Stück Vorstellungskraft, sich auszumalen, wie diese jungen Frauen das tun, was wir Intellektuelle "gewalttätige Aktionen" nennen.

"Schießen macht Spaß, denn ich hatte nie in meinem Leben einen Schuß abgefeuert. Das Schöne ist der Mut, es zu tun. Wenn du schießt und siehst, daß der Feind fällt, wirst du mutiger. Mein erster Kampf war in Ocosingo. Ich hatte gar nicht so viel Angst. Wir wußten, daß der Feind zurückschießen würde. Wir haben Waffen, aber keine schweren. Die Bundesarmee kam mit ihren Mörsergranaten und Artillerie und Scharfschützen, die verteufelt gut zielen. Wir haben keine Angst. Das feindliche Feuer ist sehr mächtig, und wir haben keine guten Waffen, keine Panzer und keine Flugzeuge, aber Bewußtsein haben wir. Wir müssen die Waffe einsetzen, die wir haben."

Amalia ist aus den Gefechten von Ocosingo durch die Kanalisation entkommen, so wie etliche ihrer Compañeros. Natürlich ist es eine Mystifizierung, aber ich halte Amalia für unzerstörbar. Genau wie Efraín.

 

Efraíns Dorf

Zufälligerweise gehörte Efraín zu der Einheit der Aufständischen, die in sein eigenes Dorf abkommandiert wurde. Sonst ist hier kein anderer zapatistischer Kämpfer in seiner Herkunftsgemeinde. Er ist siebzehn Jahre alt, seit sieben Jahren bei der EZLN. Und seit sieben Monaten bewaffneter Kämpfer. Er hat an der Besetzung von Ocosingo teilgenommen, aber da er bei der Miliz war, unbewaffnet. Heute hat er einen automatischen Karabiner. Er erinnert sich:

"Fast hätte ich Angst bekommen, als der erste Schuß fiel. Ungefähr drei Minuten lang hatte ich Angst. Dann habe ich sie vergessen."

Genau genommen ist auch er nicht in seinem eigentlichen Heimatdorf. Er ist vor vier Jahren mit seiner Familie als einer der Vertriebenen hierhergekommen.7

"Die Leute hier sind gebildet. Sie behandeln einen gut. Und sie haben uns Land gegeben. Wir sind geblieben."

Die "Bildung", auf die er sich bezieht, ist keine Schulbildung. Die Einschulungsquote, schon im allgemeinen niedrig, ist hier in der Ansiedlung gleich null.

"Es gibt keine Schule mehr", sagt Efraín, "weil sie die Lehrer nicht mehr bezahlt haben und die nicht mehr kommen."

Die Schule, auf die er sich bezieht, ist ein Holzschuppen, der inzwischen anderen Zwecken dient. Efraín, der sagt, er kenne den Subcomandante Marcos "seit seiner Kindheit", hat trotzdem einiges gelernt.

"Bei mir zu Hause habe ich nicht in der Küche gearbeitet, das war keine Männersache. Ich habe darauf gewartet, daß man mir etwas zu essen gab. Als Zapatist habe ich gelernt zu kochen und abzuwaschen. Das macht mir jetzt nichts mehr aus."

Während wir die wilden Pinienhecken durchqueren und durch die Niederungen der Siedlung laufen, antwortet er, daß er sehr wohl katholisch sei, und auch wieder nicht. Früher ging er zur Messe, heute betet er nicht einmal. Und das, was man im Dorf ißt, hat er rasch aufgezählt:

"Manchmal nichts, nicht einmal Bohnen, bloß Tortilla. Sonst Orangen, Kaffee, Zuckerrohr und Bananen, aber nur wenig. Sonst nur Mais und Bohnen."

Wir gehen zwischen den Häusern entlang. Die Hunde sind träge und abgemagert. Sie bellen nicht. Federlose Hennen und manchmal ein buschiger Hahn. Schweine, die sich an keinerlei Abgrenzungen halten. Als wenn eine Erklärung nötig sei, sagt Efraín:

"Die Häuser sind aus Lehm."

Aus Lehm die Wände, die Öfen, sogar ein Taubenschlag (der einzige im Dorf). Die Rohstoffe hier sind Lehm und Mais, wie in einer Dritte-Welt-Illustration des Popol Vuh, den Efraín nicht einmal kennt. Ich frage ihn, ob die Regierung irgend etwas im Dorf gemacht hat. Er sagt nein, dann doch, und wir gehen zu einer Elektrizitätsstation, auf deren eine Wand 'Solidaridad'8 gemalt ist. Sie wurde im vorigen Jahr errichtet, hat aber nie funktioniert, bis vor einer Woche:

"Ein Compañero hat es gerichtet."

Ebenso gibt es eine Maismühle, neu und nicht in Gebrauch.

"Sie kann noch nicht angeschlossen werden."

Im Fluß baden in aller Ruhe Kinder und Frauen.

Am Nachmittag des Karfreitag haben sie den Judas heruntergetragen, der vorher am Turm der Kirche hing, mit einer Richard-Nixon-Maske, und ihn verbrannt. Er ist zwischen den Sträuchern in Flammen aufgegangen. Die Kinder haben ihn gesteinigt.

"Sie haben sich kaputtgelacht", erinnert sich Efraín.

"Warum haben sie ihn gesteinigt?"

"Weiß ich nicht."

Wenn sie nicht wollen, wissen diese Leute nichts, soviel man sie auch fragt.

"Dies ist das Haus meines Bruders", zeigt er auf ein Stück Land mit neuen Holzhäusern und grüßt einen Mann, der herausschaut.

Er beeilt sich. Er hat Hausarbeiten in der Kaserne zu verrichten, oder wie auch immer sie heißt, wo die Zapatistas ihre Gemeinschaftsküche haben.

Efraín glaubt, daß nur sie selbst die Welt verändern können. Gut, den kleinen Teil der Welt, der sie betrifft. An seinem kriegerischen Auftrag hat er wenig Zweifel, wenn überhaupt:

"Ich werde weitermachen, mal sehn, bis wohin wir kommen."

Ihm fehlt das kleinbürgerliche Privileg des Zweifels.

 

Vor lauter Dschungel sterben

Der Tod hat viele Gesichter und kommt auf vielfältige Weise. Ist er etwa nicht immer gewalttätig? Manuel geht am Rand des Dorfes entlang. Schon nach wenigen Schritten ringt er nach Atem, und obwohl er noch nicht einmal 30 Jahre alt ist, trägt er den Tod schon in seiner pergamentenen Haut, in seinem geschwollenen Hals und seiner enormen Atemnot. Man muß sich nicht sehr gut auskennen, um zu merken, daß er ein todkranker Mann ist, für den, sollte es überhaupt jemals Heilungsaussicht gegeben haben, jetzt jede Hilfe zu spät kommt. Der Hodenkrebs, ein besonders aggressiver, hatte niemals die Chance, rechtzeitig in den Operationssaal zu kommen, und heute verbreitet er sich in den Lungen, und vielleicht hat Manuel keinen einzigen gesunden Lymphknoten mehr.

"Ich kann nicht atmen", sagt er mit angstvollen Augen und einem Seufzer und hält an. Er kann keine hundert Schritte gehen, ohne anzuhalten. Was könnte ihm gut tun? Behandlungen, Schmerzmittel, Kräutertee. Nichts davon gibt es hier. In der Unzugänglichkeit dieses Dschungels gab es für ihn und für immer keine Rettung. Es gab kein Transportmittel. Und selbst wenn es es gegeben hätte: Das Krankenhaus war etliche Tagesreisen entfernt und hätte ihn mehrere Monatslöhne gekostet. Auch wenn sie ihn noch so billig behandelt hätten.

Krebs und Metastasen erwecken eine Empörung, die sich eher gegen das Schicksal als gegen die soziale Ungerechtigkeit wendet, aber sie zwingen auch zum Nachdenken.

Die hundert Kriegstoten vom Januar, die mehr waren, sind nicht mehr als der Schwanz eines riesigen Monsters, das, Pathos hin oder her, mit Schritten, die eher lang als langsam sind, über die Lichtungen des Dschungels schreitet und das den Alten und den flachbrüstigen Stillenden dasselbe pergamentene Gesicht malt, das Manuel trägt, auf der Suche nach etwas, das ihn atmen läßt.

Chiapas hat dem guten Gewissen der Nation schon lange eine Rechnung über Vernachlässigung, Korruptionsallerlei und verstockte Geisteshaltungen präsentiert, seit Januar erst recht. Die sozialen Investitionen wachsen zwar mit Vorwahlzeit-Geschwindigkeit, aber die Angst ist ein schlechter Ratgeber und garantiert keine Effizienz.

Ein Beispiel: Von den etwas mehr als 500 Plätzen des Sozialdienstes für junge Ärzte (die einzige, weil billige Möglichkeit für indianische Gemeinden in Mexiko, zu einem Arzt zu kommen) sind jetzt, 1994 und inmitten der zapatistischen Revolte, weniger als 50 besetzt. Nicht einer findet sich im Innern des Dschungels. Gäbe es nicht das sporadische Erscheinen des Roten Kreuzes und der Seuchenbekämpfung, gäbe es in einem großen Teil dieser Gegenden keinerlei Betreuung.

Man geht von Dorf zu Dorf und trifft auf keine angemessene Einrichtungen oder Medikamente oder auf jemanden, der sie verwalten würde. Man soll nicht glauben, dies sei durch den Krieg schlimmer geworden. Die verrückten, zurückgebliebenen und verwurmten Kinder gab es genauso vor Januar, und es sind viel mehr, als die Statistiken ertragen könnten.

Die slums im Dschungel sind unser wirklicher Abgrund: Ohne jeglichen Heroismus hat der Dschungel seine Bewohner verschlungen - so wie er selbst von den Geschäftemachern des Fortschritts verschlungen wird.

In den Büros der internationalen Banken gehen alle Rechnungen auf. In diesen indianischen Orten mit biblischen Namen haben mehrere tausend Jugendliche selbst nachgerechnet und sich entschieden zu sterben, wenn es sein muß, vergiftet von Blei und Feuer, aber nicht durch vorhersehbare und vermeidbare Gifte.

Wer erdreistet sich, nach soviel "unsichtbarer" Agonie von Verhandlungen und Sechsjahresplänen zu reden. Wie viele Jahrhunderte "revolutionären Erbes" bedarf es noch, um diesen Frauen zu erklären, daß es keine Eile hat, daß sie die frohe Botschaft des Wohlstands noch vor der Beerdigung ihres fünften oder sechsten Kindes erreichen wird. Wenn es aus der Sicht des Zentrums etwas im Überfluß gibt - dann Zeit.

Wieviel Solidarität (was für ein gutes Wort) ist nötig, und nicht nur die der Regierung (die viel 'Solidaridad' ins Rollen gebracht hat, wer weiß wo, hier jedenfalls nicht), damit das tausendjährige Elend des ländlichen Mexiko (das auch tausendjährig ist, nicht nur die exportfähige Kultur der mittelamerikanischen Maya-Route) sein Schicksal wendet und erleben kann, was an dem berühmten Fortschritt gut sein soll.

Ordnung und Fortschritt, sagten die Porfiristas aprés Comte und Gabino Barreda. Zuerst haben sie Ordnung gemacht. Ein Jahrhundert später ist diese Ordnung noch immer unser Problem.

Im Dschungel und in den Bergen zeigt der Tod sein Gesicht, auch wenn er im Krieg hinter pasamontañas steckt (zur Förderung der öffentlichen Wirkung) und im Karneval verkleidet und mit Maske dargestellt wird (zur Förderung des Tourismus).

Krieg oder Frieden, Provokation oder Delirium, Verrücktheit oder Hoffnung, kein Tod ist entschuldbar. Er ist der einzige wirkliche Feind, und sein Gesicht ist immer das gleiche. In der indianischen Region von Chiapas ist der Tod normalerweise extreme Gewalt. Tatsächlich, so haben alle seit Januar anerkannt, sind hierher im Unterschied zu großen Teilen des Landes nie ausreichende soziale Betreuung und praktische Hilfen gekommen.

Während des 20. Jahrhunderts wurde das mexikanische Sozialsystem eingeführt, erblühte und verschwindet heute unter neoliberalem Pauken- und Trompetenklang, ohne daß diese Dorfgemeinschaften es überhaupt bemerkt hätten. Auch wenn man davon ausgehen kann, daß sie die Ausnahme sind (und in gewisser Weise sind sie es), sind diese Gemeinschaften jenseits davon gewachsen ... und trotz allem lebendig geblieben.

Sie sind gewachsen, sie sind so 'modern', wie sie können, und im Unterschied zu anderen ihrem Schicksal überlassenen indianischen Regionen haben sie keine unwiederbringliche Aushöhlung ihrer Kultur erlebt. Es genügt, die Stärke ihrer Gemeindeorganisation zu sehen, dieses Meisterwerks der mittelamerikanischen Zivilisation.

Wird das "Vaterland" (was auch immer das sein mag) ein einziges Mal in seinem Leben goßzügig sein mit diesen Völkern, die, wie Fernando Benítez vor 25 Jahren anerkannte, die besten Lehrer Mexikos sind? Von ihnen ist sehr viel zu lernen, auch wenn sie die "Unwissenden" sind.

 

Druckwellen von Chinameca

Alle im Dorf wissen es schon. Seit Tagen erwarten sie diesen Tag. Alles ist bereit. Nachmittags treffen sie sich vor der Bühne, die die schwarz-rote Fahne der EZLN ziert. Die Frauen haben sich schön gemacht und stehen mit den Kindern links von der Wegkreuzung. Auf der anderen Seite stehen die Männer, mit hellen Hemden und meist dunklen Hosen, wie Millionen von Campesinos an diesem Tag im ganzen Land. Die zehnjährigen Kinder tragen geflickte Kleidung. Die meisten der Männer sind älter, aber es gibt auch ein paar Jugendliche. Ein besonderes Fest in einer ganz besonderen Stimmung.

Die staatlichen Feiertage sind lebendig, werden mal lauter oder leiser begangen, verändern den Charakter, werden aufgeteilt oder verbrauchen sich. Manche werden alt, andere bleiben ewig jung. Letztere sind selten. Manche erblühen wieder, besonders in Zeiten historischer Turbulenzen wie dieser.

Früher bedeutete ein 2. Oktober Überstunden für die Polizei, die Armee und das Innenministerium.9 Heute bringt er ihre Routine kaum aus dem Gleichgewicht. Der 10. April hat auch seine Geschichte, eine des Todes (wie das bei den nationalen Feiertagen und religiösen Festen in Mexiko üblich ist): den Mord an Emiliano Zapata, der schon Teil der Kneipen-Witze, der epischen Dichtkunst der Corridos, der nationalen und internationalen Filmwelt und der Schulbücher geworden ist. Er erzählt auch eine Geschichte des Lebens, die von Zeit zu Zeit neu aufersteht: Die Druckwellen von Chinameca dehnen sich seit 75 Jahren ins Yaqui-Tal aus, in die Gebiete südlich von Veracruz, nach Guerrero und Michoacán. Davon abgesehen ist er ein von den PRI-Regierungen jahrzehntelang kultivierter und gutgeheißener Feiertag.

Wie lange ist es her, daß Mexiko auf einen so bewegten 10. April zugegangen ist, verbunden mit so viel Erwartungen und Aufsehen? Während in verschiedenen Teilen von Chiapas und im ganzen Land, einschließlich auf dem Zócalo, dem Hauptplatz von Mexiko-Stadt, zapatistisch geprägte Demonstrationen erwartet werden, angespornt durch die Ereignisse von 1994, dem Jahr, das heute 100 Tage alt wird, wird hier in diesem kleinen Dörfchen im hintersten Winkel der Welt ein fröhliches Volksfest gefeiert, das zugleich Militärparade ist, auch die Bestätigung einer Kriegserklärung und ein Zeichen von Entschlossenheit, die dem Land seit dem ersten Januar den Atem nimmt. Ein vom Vaterland vergessener Winkel.

Am späten Nachmittag beginnt die Parade. Den Weg entlang marschieren die Männer und Frauen des Dritten Regiments. "Wächter und Herz des Volkes" heißt es auf dem Transparent, das sie vor sich hertragen, mit einer Axt, einer Machete und einem Hammer als Insignien. Es folgt das Regiment der "aufständischen Kämpfer". Ein langer Zug von Männern, deren Gesichter hinter pasamontañas verborgen sind und die Waffen verschiedenen Kalibers tragen. Jetzt kommen die aufständischen Frauen, deren Gesichter jedem, der sie ansieht, kriegerischen Ernst zeigen. Die "Mexikanische Miliz" (Fuerza Miliciana Mexicana), wie die Zapatisten ihre nichtregulären Streitkräfte nennen, ist durch die "Brigada Hacha", die Axt-Brigade, vertreten, etwa 200 bis auf Ausnahmen bewaffnete Jugendliche. Die Mehrheit trägt Uniformen, einige ihre Alltagskleidung. Am Ende des Zuges grüßen einige Jugendliche, die keine Waffe haben, mit der leeren linken Hand. Sie zeigen, daß sie sie bereit halten. Alle haben das Gesicht hinter Tüchern verborgen, bis auf einige, die sich selbstsicher zu erkennen geben.

So viele einheitliche und kriegerische Schritte auf nicht asphaltierter Straße hören sich seltsam an. Sie konkurrieren mit dem wachsenden Murmeln des Dschungels, dem Zirpen der Grillen und anderer kleiner Tiere. Was wir, eine halbe Hundertschaft von Journalisten, hier sehen, ist die zahlenmäßig größte öffentliche Demonstration der selbsternannten Bauern-"Armee" seit der Besetzung von San Cristóbal am ersten Januar. Eine große Nationalflagge weht an einer Seite der Bühne, wo Mitglieder des CCRI, der militärischen Führung der EZLN und die Musiker, die die Veranstaltung begleiten, alle mit pasamontañas, dem Festakt vorsitzen.

Menschenansammlungen auf dem Land sind einerseits sehr klein vor der natürlichen Umgebung (die Berge, der Wald, die Täler), andererseits beeindruckend durch ihr schlichtes Dasein und ihre Zahl. Aber bis jetzt waren diese Ansammlungen niemals bewaffnete Militärparaden gewesen. Die dreihundert oder vierhundert Zapatisten drehen mit der Kavallerie am Schluß eine Runde durchs Dorf und kehren wieder zurück. Sie nehmen die Ecke des Landes ein, in der das Volk und der Staub aufgewirbelt sind. Eine Gruppe von Zehn- bis Zwölfjährigen - die Gesichter so verhüllt wie alle anderen - geht zur Bühne. Subcomandante Marcos, der die Parade abgenommen hat, nimmt von den Kindern eine zusammengefaltete Fahne entgegen und übergibt sie dem CCRI.

Unter den Zuschauern gibt es Mütter mit Säuglingen auf dem Rücken, in Kinder-pasamontañas gehüllt, und Gruppen von Mädchen und Jungen, die sich ausschütten vor Lachen.

Die Versammlung singt die Nationalhymne, "Mexicanos al grito de Guerra" (Mexikaner, es ruft der Krieg), die sich wie ein weiteres Murmeln des Dschungels anhört, und dann stimmen sie die Hymne der Zapatisten an, die vom Akkordeon begleitet wird und vom Ram-tam-tam-tam geschlagener Baß- und Gitarren-Saiten. Mehr als eine Hymne ist es ein ländliches Volkslied, die sanfte Version des Carabina 30-30. "Schon sieht man den Horizont/ zapatistischer Kämpfer/ der Weg wird die leiten, die nach uns kommen/ auf geht's, auf geht's, vorwärts/ damit der Kampf vorankommt/ denn unser Vaterland ruft und braucht/ die ganze Kraft der Zapatisten."

Wie andere indianische Kulturen auch, die Huicholes zum Beispiel, gehen diese Dschungelbewohner davon aus, daß sie die Verantwortung für die Welt auf ihren Schultern tragen. Nur haben sie diesem Glauben im Unterschied zu anderen keine rituellen Formen gegeben, sondern die eines bewaffneten Aufstandes, der sich als Opfer darbietet. Fest oder Vorhof des Schlachthauses?

Werden nationale Regierung und Armee es fertigbringen, gegen diese Jugendlichen loszuschlagen wie bei einer Art Riesen-Tlatelolco, wie auf einem ländlich-mexikanischen Tienanmen-Platz? Reicht die Tatsache, daß sie die Waffen erhoben haben, aus, sie in Feinde zu verwandeln und des Mordes anzuklagen, wie in den alten Zeiten des paranoiden Leviathan? Könnten sie nicht Gesprächspartner werden? Das ist es, was sie wollen. Aber sie gehen davon aus, daß das, was sie zu sagen haben, nur auf Grundlage ihres Opfers gehört und ernst genommen werden wird. Sie selbst nennen sich auch "Samen": "Männer, Kinder und Frauen/ wir werden nie nachlassen.../ Wir müssen Beispiel geben/ und ein Zeichen setzen/ was es heißt, für das Vaterland zu leben/ oder für seine Freiheit zu sterben/ auf geht's, auf geht's, vorwärts..."

In anderen Dörfern des Dschungels werden gleichzeitig ähnliche Feste gefeiert: Vielleicht ist dies das feierlichste, jedenfalls das einzige öffentliche. Eine Demonstration der Stärke.

Saúl ist mit achtzig weiteren Milizionären einen ganzen Tag gelaufen, um hierherzukommen, und nimmt als erstes gerne eine Zigarette an. Seit Wochen hat er keine gesehen.

In der Ferne ist ein Flugzeug zu hören. Keiner, der nicht hinhört. Drei Redner, Mitglieder des CCRI, sprechen zur Zivilbevölkerung und den Kämpfern in Maya-Sprachen. Einige Worte in Spanisch sind auszumachen: "Emiliano Zapata, einzigartig tapfer, der Frieden kämpft, mero lec ist das Volk", grobe Worte gegen die Regierung. Auf Tzotzil spricht ein anderer Redner von den Zusammenstößen des Januar und der Bereitschaft der EZLN, erneut zu den Waffen zu greifen. (Keine Frage, die Waffen sind bereits ergriffen. Das bestätigt der hiesige Festakt.)

Ein dritter Redner erwähnt die Forderungen, die die EZLN aufstellt.

Anschließend verliest Subcomandante Marcos drei Kommuniqués, eins davon ist an die Demonstrationsteilnehmerinnen und -teilnehmer gerichtet, die in diesem selben Augenblick auf dem Zócalo der Hauptstadt zusammenkommen. Sich eine so kriegerische Rede mitten auf dem Zócalo vorzustellen, macht ein klein wenig Gänsehaut. Eine andere Botschaft, die an die Völker Mexikos und der Welt und an die Presse gerichtet ist, erklärt lyrisch die Motive des zapatistischen Aufstands.

Ein drittes Kommuniqué, das der Sprache und Vorstellungswelt der Maya folgt, richtet sich an dieselben Empfänger und zeigt ihnen, wer hinter ihnen steht: "Brüder, wir möchten, daß ihr wißt, wer hinter uns steht, wer uns führt, wer mit unseren Füßen geht, wer unser Herz beherrscht, wer mit unseren Worten spricht, wer in unseren Toten lebt. Wir möchten, daß ihr jetzt die Wahrheit erkennt und das ist sie: Votán Zapata, Wächter und Herz des Volkes."

Aha. Jetzt wissen wir also, wie derjenige heißt, der all dies hier inspiriert hat. So ein Votán Zapata von zweifelhafter Identität und Herkunft, der aber für die zapatistische Armee mero lec (gut) ist, die Fahne, die der Stimme Namen gibt: "Das ist die Wahrheit, Brüder und Schwestern. Von dorther kommen wir. Und dorthin gehen wir. Seiend kommt er. Den Tod sterbend lebt er. Votán Zapata, Vater und Mutter, Bruder und Schwester, Sohn und Tochter, groß und klein, wir, kommend sind auch wir..."

Der Streit um Zapata hat plötzlich nicht mehr nur symbolischen Wert. An diesem Ort des Dschungels ratifiziert das CCRI die Aussetzung des Friedensverhandlungsprozesses. Vor ein paar Tagen ermordete ein Großgrundbesitzer einen Repräsentanten der Zapatisten und verwundete einen weiteren im Gebiet von Altamirano. Solange die Situation sich nicht ändert, bleiben die Zapatistas in höchster Alarmbereitschaft. "Niemals der einzige Stern; nur einer mehr, der kleinste."

Die Berge werfen die Hochrufe zurück. Mayor Benito, der bei der Besetzung von Ocosingo ein Auge verloren hat, verliest eine Botschaft an die Kämpfer. Wie 1919, bestätigt er, gehört das Land nicht denen, die es bearbeiten.

Eine Stück Stoff, ein kleines Museum voller Fotokopien, stellt Bilder von Zapata aus, in guten wie in schlechten Zeiten, im Nationalpalast an der Seite von Pancho Villa und als blutigen Leichnam in Chinameca. Bilder von der Besetzung von San Cristóbal, von den Kommandanten und der Truppe, vom Sub Marcos.

Die Wirklichkeit ist weniger eindeutig. Als der "kulturelle" Teil des Programms beginnt, lösen die Kämpferinnen und Kämpfer diskret die Reihen auf, um Liedern und Gedichten zuzuhören. Es wird Abend. Eine Mauer aus altem Holz und eine Tür rahmen vier Milizionäre ein, die bequem, mit nach oben gerichteten Karabinern, auf den Stufen sitzen. Es sieht aus wie ein Foto aus dem Casasola-Archiv. Die kleinen Kinder spielen auf dem Boden, ein paar größere spielen sehr ernst auf einer Bank Karten.

Heriberto und Emiliano singen von der Gruppe begleitet. Auch sie tragen pasamontañas. Emiliano hält mit der linken Hand den Lauf seines Gewehrs und mit der rechten eine Taschenlampe, während Heriberto den Text und das Mikrofon hält.

Es wird Nacht, und vermummte Kinder verteilen Wasser an die Milizionäre, die am Weg sitzen: "Wasser, Compa?" fragen sie leise. Es gab nicht einen Milizionär, der keinen Durst gehabt hätte.

Als die Reihen ganz aufgelöst werden, teilen die Gastgeber mit der Bevölkerung und den auswärtigen Gästen Rindfleischbrühe und Tortillas.Für einen Moment stockt die Benzinpumpe des Generators, und die elektrische Beleuchtung wird schwächer. Nach den Gedichten, in denen oft Zapata und irgendwann Marcos erwähnt wird, ersetzt der Plattenspieler die Livemusik. Eine Schallplatte mit 33 Umdrehungen ertönt unter einer Nadel, die eher ein Nagel zu sein scheint. Zapatistische Corridos, die irgendwann in Cumbia-Rhythmen übergehen. Am Fuße eines beleuchteten Stofftransparents, auf dem Zapata zu Pferde und ein Campesino mit seiner Machete nach vorne schauen, beginnen die Mädchen miteinander zu tanzen. Wenig später kommen die Milizionäre, die Karabiner auf dem Rücken, und fordern die Auserwählte zum Tanz auf, die nickt oder den Kopf schüttelt, mit ihren Schleifen im Haar, mit neuer oder frisch gewaschener Schürze.

Die kleinsten Kinder fallen vor Müdigkeit um und schlafen auf Tüchern am Fuß eines Lichtmastes, während die Familie sich beim Tanz vergnügt, auf die eigentümliche und langsame Art der Indígenas. Auch die Kinder tanzen paarweise, mit der verborgenen Freude dieser Feste, und es scheint, daß alle sich amüsieren, als plötzlich das Fest beendet wird. Auf ein Signal hin verstreuen sich die Leute, und die Milizionäre sammeln sich. Mehrere Einheiten, auch eine von Frauen, verlassen eilig das Dorf. Irgendein Alarm hat sie in Bewegung gesetzt. Die Organisatoren bauen blitzschnell die Bühne ab. Man erinnert sich auf einmal, daß Kriegszustand ist. Auch wenn die Galanterien des Tanzes in einer Atmosphäre des "Sterbens für das Vaterland" ausgetauscht wurden, waren die Paare nicht melancholisch gestimmt. Ein abruptes Ende.

Beim Verlassen der von der EZLN kontrollierten Zone, am ersten Kontrollposten des Mexikanischen Heeres, tragen die Soldaten kugelsichere Westen und sind nervös und wachsam, wie sie selbst zugeben. Es gibt Gerüchte in Ocosingo, daß die Zapatistas angreifen werden, während die gerade zu verstehen geben, daß sie einen Angriff des Mexikanischen Heeres fürchten. Der Konflikt in Chiapas liegt an einer Zündschnur, das ist bekannt. Und drumherum fliegen Funken. Wie die Stauer in den Häfen wissen, gibt es Ladungen, auf denen steht "Vorsicht - Explosionsgefahr". Chiapas ist ein solcher Fall.

 

(Übersetzung: Annette von Schönfeld)


Wer zum Teufel ist dieser Zapata?

Manuela Rimmek

Während der dreißigjährigen diktatorischen Präsidentschaft von Porfirio Díaz hatte sich die wirtschaftliche und soziale Situation weiter Teile vor allem der ländlichen Bevölkerung zunehmend verschlechtert. Der jahrhundertealte Landkonflikt zwischen den am kapitalistischen Markt orientierten Plantagenbesitzern und den traditionellen Dorfgemeinschaften hatte sich durch die forcierte Industrialisierungspolitik, verbunden mit dem wirtschaftlichen Aufschwung Mexikos, während der Diktatur des Porfirio Díaz enorm zugespitzt.

Der südliche Bundesstaat Morelos, die Heimat Emiliano Zapatas, war 1908, nach Hawai und Puerto Rico, der drittgrößte Zuckerlieferant der Welt. Ein im Jahre 1909 in der Hauptstadt Morelos erlassenes Gesetz zur Regelung des Grundbesitzes hatte zur Folge, daß verstärkt weiteres ejido-Land wie private Parzellen ihren angestammten Besitzern entrissen wurden. Weiterhin wurden die Steuer- und Rechtstitel neu geordnet. Dieses machte die rechtliche Verteidigung der Dorfgemeinden oder deren Verhandlungen mit Verwaltern und Aufsehern der Haciendas nur noch schwieriger. Die Expansion der Plantagen wurde so zu einer existentiellen Bedrohung der traditionellen Dorfgemeinschaften: Ganze Dörfer verschwanden von der Bildfläche. Viele Familien besaßen schließlich nur noch das Land, auf dem ihre Häuser standen. Unter den ca. hundert verbliebenen Dörfern Morelos gab es 1910 wahrscheinlich keines, das nicht in einen neuen Rechtsstreit mit einer Nachbarhacienda verwickelt gewesen wäre. Im Gegensatz dazu befanden sich im gleichen Jahr alle guten Ländereien des ganzen Staates Morelos im Besitz von siebzehn Großgrundbesitzern, die die beraubten Bauern zusätzlich als billige Lohnarbeiter ausbeuteten.

 

Aufstand in Morelos

In dieser Situation bricht die Dorfgemeinde Anenecuilco in Morelos mit einer jahrhundertealten Tradition: Der Ältestenrat, das bis dato oberste Gremium des Dorfes tritt zurück und wählt den dreißigjährigen Emiliano Zapata zum neuen Vertreter ihres Dorfes. Als Grund für ihren Rücktritt nannten die Dorfältesten die für sie nicht mehr zu bewältigenden Aufgaben, die die Verteidigung ihrer Boden- und Wasserrechte gegenüber den Großgrundbesitzern mit sich brachte. Zapata, der neue Repräsentant des vierhundert Seelen zählenden Dorfes, war im Süden Mexikos als bester Zureiter und Verfechter bäuerlicher Interessen bekannt. Das Erbe von etwas Land und einiger Stück Vieh ermöglichte ihm zwar eine vergleichbar bessere Position, schmälerte seine Popularität und Zugehörigkeit zur Dorfgemeinde jedoch in keinster Weise.

Im gleichen Jahr kam es in Puebla und Chihuahua zu Aufständen gegen das politisch korrupte Díaz-Regime. Diese waren von Francisco I. Madero, Sohn einer reichen Gutsbesitzer- und Industriellenfamilie, vorbereitetet worden und bildeten den Auftakt der mexikanischen Revolution. Madero erklärte die Wiederwahl von Díaz für ungültig. Er forderte: "Freie Wahlen und keine Wiederwahl (des Präsidenten)". Mit diesen Forderungen gewann er nicht nur die Unterstützung der im Klima der Unterdrückung lebenden Bauern, sondern auch von Teilen der mexikanischen Bourgeoisie und der Intellektuellen, deren bürgerliche Freiheiten unter der Diktatur beschnitten waren. Unter dem innen- wie außenpolitischen Druck - der US-amerikanische Präsident Taft läßt 20.000 Soldaten an der mexikanischen Grenze aufziehen und stationiert Marineeinheiten im Pazifik und im Golf von Mexiko - tritt Díaz im Mai 1911 zurück. Francisco Madero kommt im Zuge der sich ausweitenden revolutionären Bewegungen an die Macht. Versprechungen zur Durchführung einer Agrarreform verflüchtigten sich jedoch schnell in einer Nebelwolke verfassungsrechtlicher Diskussionen.

Daraufhin veröffentlichte Zapata den "Plan von Ayala", in dem Madero die Präsidentschaft aberkannt und die Verteilung eines Drittels des Großgrundbesitzes gefordert wird. Zapata beklagt, daß "die erdrückende Mehrheit der Dorfgemeinden und der Bürger Mexikos nur über den Boden verfügen, auf dem ihre Fußsohle ruht". Er fordert weiter, den Dörfern ihre angestammten Ländereien wieder zurückzugeben. Die auf den Plan von Ayala hin entstandene Agrarista-Bewegung, die damaligen Zapatistas, bezeichnen sich in ihrem Kampf gegen die "revolutionäre" Regierung als Konterrevolution. Sie standen anarchistischem Gedankengut nahe. Ihre Losung war: "Reform, Freiheit, Gerechtigkeit und Gesetz", die sie später in "Land und Freiheit" verkürzten.

1913 putscht der Chefkommandant der Regierungstruppen, General Huerta, gegen Madero. Durch brutale Repression versucht Huerta als erstes, die revolutionären Bauernarmeen Zapatas zu zerschlagen. Morelos verliert während dieser Zeit ein Fünftel seiner Bevölkerung.

Auch im Norden Mexikos wächst der Widerstand gegen das selbstherrliche Regime Huertas. Zwei verschiedene Strömungen entwickeln sich: zum einen die "Constitucionalistas" unter der Führung des Gouverneurs des Bundesstaates Coahuila, Venustiano Carranza, deren Hauptziel die Einsetzung eines rechtmäßigen Nachfolger für Madero ist. Zum anderen die "División del Norte" unter Pancho Villa, den Carranza als unberechenbaren Banditen bezeichnet. Anders als Carranza verfolgt er die Ziele der Agrarista-Bewegung im Süden. Während also im Norden in den Jahren 1913-14 diese beiden Strömungen den Armeen Huertas immer stärker zusetzen und sich untereinander um die Macht streiten, kämpfen die revolutionären Bauern unter Zapata im Süden weiter gegen die Truppen Huertas sowie um ihre soziale Existenz. Bei der Befreiungsarmee Zapatas handelt es sich nicht wie im Norden um Berufsarmeen, sondern um bewaffnete Bauern und Bäuerinnen, die neben dem bewaffneten Kampf ihre Felder weiter bestellen müssen. Dieser guerillaähnliche Widerstand versetzt die Zapatistas in die Lage, sich gegenüber den zahlenmäßig überlegenen Regierungstruppen zu behaupten. Unter diesem Druck der drei Lager und dem Eingreifen der USA ist die Niederlage Huertas nicht mehr aufzuhalten.

Auf einem Konvent der jetzt vier Parteien (Carranza, Villa, Zapata und dazugekommen Obregón) wird der Plan von Ayala als politisch-soziales Programm übernommen. Zum ersten Mal seit Beginn der Revolution wird das Agrarproblem für ganz Mexiko zur vorrangig zu lösenden Aufgabe erklärt. Carranza ernennt sich zum Präsidenten. Der Konvent erkennt ihn nicht an, und Zapata und Villa marschieren mit ihren Bauernarmeen in Mexiko-Stadt ein. Der Präsident flieht. Doch Zapata und Villa hatten kein politisches Projekt für die Machtübernahme und keine Vorstellungen über die Organisation einer nationalen Wirtschaft, die auch die Bedürfnisse der städtischen Bevölkerung berücksichtigt hätte. Außerdem gab es zwischen beiden Meinungsverschiedenheiten. Sie ziehen sich auf das Land zurück und überlassen die Stadt Obregón und Carranza. Im Juli 1917 wird die neue, bis heute gültige Verfassung Mexikos verabschiedet. Einige Forderungen Zapatas sind im Artikel 27 der neuen Verfassung enthalten.

Im April 1919 wird Emiliano Zapata auf Anweisung Carranzas in einen Hinterhalt gelockt und ermordet. 1920 wird Carranza auf Veranlassung seines Nachfolgers Alvaro Obregón auf der Flucht "erschossen", 1923 Pancho Villa von Unbekannten ermordet.

 

Zapatas Agrarreform

Während einer Atempause des Friedens 1914/15, als die Kampfhandlungen sich in den Norden verlagerten (wo Carranza versucht, die Truppen Villas zu schlagen), führte Zapata in Morelos eine radikale Agrarreform durch. Haciendas und Zuckerplantagen wurden enteignet und das Land an landlose Bauernfamilien verteilt. Es entwickelten sich, alten Traditionen folgend, Dorfgemeinschaften und basisdemokratische Regierungsformen, die sich bis hinauf zur Distrikts- und bundesstaatlichen Ebene fortsetzten. Diese nach dem Plan von Ayala entstandenen "Comunas de Morelos", sich selbst regierende und verwaltende Dorfgemeinschaften, konnten weder durch den Tod Zapatas noch durch legale politische Mittel zerstört werden.

Erst mit der von staatlicher Seite in den späten zwanziger Jahren durchgeführten Agrarreform wurden diese "Comunas de Morelos" geschwächt. Entgegen den Vorstellungen der Agraristas bekamen die Bauern das ihnen zugeteilte Land nicht als Eigentum, sondern lediglich zur Nutzung überschrieben. Es blieb Eigentum des Staates und unterstand der Zuständigkeit des nationalen Agrarministeriums. Die daraufhin einsetzende Korruption und Erpressung zerstörte die wiedergewonnene Autonomie und den sozialen Zusammenhalt der Dorfgemeinschaften.

 

(aus: ila, Nr. 175, Mai 1994)


Viva Zapata!

Luis Sepúlveda

Im De-Ef, Distrito Federal, dem Bundesdistrikt, wie die Hauptstadt von Mexiko heißt, im "De-Ef" also lebt und arbeitet ein einäugiger Privatdetektiv. Er ist Pepsi-Cola-süchtig und erzählt, was er so treibt, meinem Freund Paco Ignacio Taibo II, der Schriftsteller ist und Paco Ignacio Taibo II heißt, um sich von seinem Vater zu unterscheiden, Paco Ignacio Taibo I, ebenfalls mein Freund, auch ein Schriftsteller, der seinerseits so heißt, um sich von seinem Vater Paco Ignacio Taibo Null zu unterscheiden. Wenn man das liest, möchte man meinen, wir Mexikaner seien kompliziert oder phantasielos. Nichts dergleichen. Die Wiederholung der Namen ist ein guter Trick, um den Tod zu täuschen. Und ich habe geschrieben "wir", obwohl ich in Chile geboren wurde. Aber heute fühle ich mich mexikanischer denn je, und wir freien Menschen haben die Pflicht, uns dort hingehörig zu fühlen, wo wir uns am wohlsten fühlen.

Der Detektiv heißt Hector Belascoarán Shayne, und eines Tages traf er einen alten Mann, der ihm bekannt vorkam. "Donnerwetter", sagte er sich, "der sieht aus wie Emiliano Zapata, mit sechzig Jahren mehr auf dem Buckel und einem Bündel weniger Hoffnungen."

1920 schrieb John Reed, ein nordamerikanischer Journalist, der nicht weit von der Mumie Lenins in Moskau begraben liegt: "Ist Zapata gestorben? Ich habe mit einigen Bewohnern von Chinameca gesprochen, im Bundesland Morelos, die behaupten das Gegenteil. Einer sagt: Die Kugeln haben ihn nicht getroffen, und als die Schüsse aufhörten, da rief er sein Pferd mit einem Pfiff herbei und galoppierte davon. Eines Tages wird er zurückkehren, auf einem Schimmel."

Wer war Emiliano Zapata? Für die Bewohner der ersten Welt, die in der neuen internationalen Ordnung nach dem Golfkrieg umgelernt haben, war er ein Bandit mit Schnurrbart, den man in unzähligen Spaghetti-Western sehen konnte. Für die gebildeten Intellektuellen der Postmoderne war er eine Figur, die von Marlon Brando in einem Film von Elia Kazan gespielt wurde. Für Ignacio Ellacuría, Priester, Rektor der Zentralamerikanischen Universität, auf Befehl der USA in El Salvador ermordet, war er ein Zweifel: "In Ocosingo, in San Cristóbal de las Casas, in Altamirano und in so vielen Orten von Chiapas kannst du all die Indígenas und Bauern, die ihre Kinder taufen lassen, fragen: âWie soll das Kind heißen?' und sie antworten mit erhobenem Kopf: âEmiliano'."

Es heißt, er sei 1883 geboren, als Sohn von Indígenas, und daß er 1909 in Ayala eine Guerillabewegung organisierte, deren Parole lautete 'Land und Freiheit'! Sein Regierungsprogramm war sehr einfach: soziale Gleichheit für die Indígenas, Verbesserungen für das städtische Proletariat, kommunale Aufteilung der Ländereien, Schaffung eines kostenlosen Netzes von Schulen und medizinischer Versorgung. Er konnte nur lesen. Er war gern allein und still, und einmal fragte John Reed ihn nach dem Grund, und er antwortete: "Ich denke gern daran, wie wir waren, bevor Cortés ankam."

Land und Freiheit! Der Indígena existiert nicht ohne Land. Das Land ist seine Freiheit. Der Kriegsschrei von Emiliano Zapata fand sein Echo bei den Indígenas und Bauern von Chiapas. Und was ist ein Indígena? Die denkbar billigste Arbeitskraft. Schlapp und versoffen. Analphabet und ungebildet. Das ist die allgemeine Ansicht vom Indígena in Mexiko und auch sonst in dem von den Weißen beherrschten Lateinamerika. Erstaunlicherweise sind die Indígenas zweisprachig, sie sprechen ihre Sprachen - es gibt mehr als neunzig Eingeborenensprachen auf dem Kontinent - und auch Spanisch. Erstaunlicherweise geben gerade die Indígenas von Chiapas mit ihrer prächtigen Kleidung, an der man die Stämme nach ihrer Herkunft unterscheiden kann, das meistverbreitete Bild von der Mexikanität ab. Postkartenmotive. Exotic for export. Im Bus muß ein Indígena aus Chiapas seinen Platz hergeben.

Der größte Geschichtenerzähler Mexikos heißt Eraclio Zepeda und stammt aus Chiapas. Einmal habe ich ihn sagen hören: "In der Nähe von Las Margaritas lebte ein Paar Chiapas-Indígena, sehr alt und arm. Von dem wenigen, was sie zu essen hatten, behielten sie immer eine kleine Portion zurück und stellten sie nachts an den Wegrand. Am nächsten Tag fanden sie das Essen unangetastet, aber diesen Weg kamen auch Indígenas entlang, die noch ärmer waren als sie. Ich habe sie gefragt, warum niemand das Essen nahm, und sie antworteten: âDieses Essen wird nicht angerührt. Alle wissen, daß Emiliano Zapata, wenn er wiederkommt, Hunger hat.'"

In einer Hütte von Chiapas schleift einer seine Machete und sagt: "1926 hat Emiliano Zapata seinen Namen geändert. Er nannte sich Zenon Enríquez, und in Tampico haben sie ihn mit einem jungen Mann aus Nicaragua fotografiert, und der hieß Augusto César Sandino."

"Stimmt", sagte ein anderer, der gerade seine alte Jagdflinte reinigte. "Der General der Freien Menschen. Für Sandino hat er Waffen geschmuggelt in einer Barkasse, die Tropical hieß."

"Genau", bestätigte der erste, "und er hatte den Rang von einem Hauptmann. Hauptmann Enríquez. Sie haben ihn âDer Schweigsame' genannt."

Der einäugige Detektiv erzählte Paco Ignacio Taibo II: "Ich habe mit dem Alten gesprochen, der Emiliano Zapata ähnlich sieht. Ich habe ihm gesagt, es sei möglich, daß Zapata 1934 von Costa Rica nach Mexiko zurückgekehrt ist, mit einem Paß auf den Namen Isaías Valdés. Und er antwortete, ja, schon möglich. Ich habe gesagt, 1944 hätte man von einem Mann geredet, der wie Emiliano Zapata war, aber er hieß Eulalio Zaldívar und arbeitete auf dem Markt Zweiter April, in De-Ef. Und er antwortete, ja, schon möglich."

Der Indígena aus Chiapas, der seine Machete schleift, murmelt: "Auf dem Markt hat Zapata bei Rubén Jaramillo gearbeitet. Sein großer Freund und Kamerad." "Genau", fügte der mit der Flinte hinzu, "und 1947 bis 1962 war er in Morelos, aber er hieß Sebastián Armenta und kam nach De-Ef zurück. Er hat an den Kinos auf der Avenida Revolución Süßigkeiten verkauft. Aus Kokos."

Belascoarán Shayne, der einäugige Detektiv, leert seine Flasche Pepsi und ruft aus: "Dann hat der Alte zu mir gesagt: âSie suchen Emiliano Zapata.' Und ich: âSo ist es.' âEmiliano Zapata ist doch tot', antwortete er. Und ich noch einmal: âSind Sie sicher, mein General?' âJa, tot ist er. Ich weiß, was ich sage. 1919 ist er in Chinameca gestorben, von Verrätern ermordet. Jetzt wären es dieselben Gewehre. Jetzt würden dieselben Leute Befehle geben. Das Volk hat damals geweint, und warum sollte es zum zweiten Mal weinen...'"

Am 1. Januar 1994 zeigte das Fernsehen nicht den leeren Teller, den zwei Indígenas in Chiapas, mit Essen gefüllt, an einen Wegrand bei Las Margaritas gestellt hatten. Sie haben auch nicht den Reiter auf einem Schimmel gezeigt, der durch Chiapas ritt und die alte Parole rief 'Land und Freiheit'! Wir haben nur die Indígenas und Bauern von der Armee des Südens gesehen, sie hatten fünfhundert Jahre Plünderung, Ausbeutung und Demütigung satt, sie traten hinter ihrem legendären Anführer an, um eine weitere Schlacht zu verlieren. Denen, die das Freihandelsabkommen zwischen Kanada, den USA und Mexiko feierten, versalzten sie das Silvesterfest und warfen sich in den Tod, weil man schon begonnen hatte, sie zu vernichten. Zwölftausend Soldaten, Panzer, Flugzeuge, die ganze moderne Tötungsmaschinerie gegen zweitausend Indígenas und Bauern. Die sollen sich geirrt haben? Nein! Die, die sich geirrt haben, sind verantwortlich für all die Verzweiflung, die die Menschen in den Tod treibt. Sie werden gleich nach ihrem Tod von den Intellektuellen der Postmoderne verurteilt werden, von denen, die den Tod der Geschichte ausrufen, von denen, die nicht den Mut hatten oder haben noch haben werden zu sagen: "Wir sitzen in der Scheiße und haben Hunger, aber wir kämpfen."

Der Aufstand in Chiapas soll eine Provokation sein? Und wer sind die wirklichen Provokateure des Elends und Leidens der Indígenas von Lateinamerika? Wir werden sie live sterben sehen. Wie die Tiere werden sie die Überlebenden in den Wäldern von Chiapas jagen. Wir wissen längst, wie die Armeen Lateinamerikas die Indígenas behandeln.

Vielleicht ist Gewalt der Fluch des lateinamerikanischen Menschen. Vielleicht hatte Bolívar recht, als er sagte "nie, nie werden wir glücklich sein". Vielleicht ist der Traum, im Kampf für eine gerechte Sache zu sterben, nicht mehr als der Wunsch eines Menschen, den unsere Zeit anwidert. Ich habe viele Zweifel, und obwohl ich weiß, daß es völlig sinnlos und vergeblich ist, rufe ich mit meinen Brüdern, die sich in Chiapas erhoben haben, aus tiefstem Herzen: "VIVA ZAPATA!"

 

(Zuerst erschienen in der FR vom 14. Januar 1994. Abdruck mit freundlicher Genehmigung des Autors. Übersetzung: Dr. Ray-Güde Mertin)


Anmerkungen:

1 Porfirio Díaz: Mexikanischer Diktator von 1876 bis 1911, mit kurzer Unterbrechung von 1880 bis 1884; 1911 von der mexikanischen Revolution gestürzt.

2 Sozialrevolutionäre, Führer im Unabhängigkeitskampf gegen Spanien 1810 bis 1821.

3 Es handelt sich um Maximilian III. von Habsburg, der 1864 von Napoleon III. als Kaiser von Mexiko eingesetzt wurde; 1876 wurde er von republikanischen Truppen abgesetzt und erschossen.

4 Galio und Nexos: zwei mexikanische Zeitschriften

5 Colonos: organisierte BewohnerInnen der Stadtviertel

6 Carabina 30-30: ein bekanntes Volkslied aus der mexikanischen Revolution.

7 Seit Mitte der 60er Jahre werden aus verschiedenen Tzotzil- und Tzeltal-Gemeinden Familien vertrieben, die zu einer der vielen evangelischen Kirchen konvertierten. Meistens ist die Religion nur der Vorwand, um unliebsame Kritiker der Dorf-Kaziken loszuwerden.

8 âSolidaridad' heißt ein millionenschweres soziales Kompensationsprogramm der Regierung, das die negativen Effekte der neoliberalen Wirtschaftspolitik abfedern soll und aus den Verkaufserlösen vormaliger Staatsbetriebe finanziert wird.

9 Am 2. Oktober 1968 schossen mexikanische Sicherheitskräfte eine Massenkundgebung auf dem Tlatelolco-Platz in Mexiko-Stadt zusammen und setzten damit der Studentenbewegung am Vorabend der Olympischen Spiele in Mexiko ein blutiges Ende. Am Jahrestag dieses Massakers, bei dem mehrere tausend Menschen ermordet wurden, führte die Opposition über lange Zeit große Demonstrationen durch.

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