Texte, Beiträge und Diskussionen zum Thema: Chiapas und die Linke
Zapatistas und die deutsche Linke?
Die Diskussion steht noch aus.
Zweitausend bewaffnete Kleinbauern besetzten in der Nacht zum 1. Januar 1994 einige Landkreishauptstädte des südmexikanischen Bundesstaates Chiapas. "Wir sind das Ergebnis von 500 Jahren Kampf", schreiben sie in ihrer ersten Erklärung, und: "Wir, integere und freie Männer und Frauen, sind uns bewußt, daß der Krieg, den wir erklären, das letzte, doch gerechte Mittel ist. Die Diktatoren führen seit vielen Jahren einen mörderischen, nicht erklärten Vernichtungskrieg gegen unsere Völker. Deshalb bitten wir dich um deine entschlossene Teilnahme an diesem Kampf für Arbeit, Land, Obdach, Nahrung, Gesundheit, Bildung, Unabhängigkeit, Freiheit, Demokratie, Gerechtigkeit und Frieden. Wir erklären, daß wir nicht aufhören werden zu kämpfen, bevor wir die hier deklarierten Grundforderungen unseres Volkes erfüllt haben und eine Regierung in einem freien und demokratischen Land bilden können." (Erste Deklaration aus der Selva Lacandona)
Rebellion, Repression und Verhandlungen
Der Kriegserklärung folgte die Repression. Die Regierung kommandierte Zehntausende Soldaten in das rebellische Chiapas ab. Die Luftwaffe bombardierte die Zivilbevölkerung und sich in den Dschungel der Selva Lacandona zurückziehende Zapatistas. 500 Tote sollen die Kämpfe in den ersten Januartagen 1994 gefordert haben, bis am 12. Januar eine Waffenruhe vereinbart wurde. Der Regierung war deutlich geworden, daß sie den bewaffneten Aufstand militärisch nicht unterdrücken konnte, ohne daß ganz Mexiko zum Pulverfaß geworden wäre. In allen Landesteilen gingen Tausende auf die Straße, um ein Ende der militärischen Niederschlagung des Aufstandes zu fordern. Die internationale Öffentlichkeit reagierte bestürzt.
Heute, über drei Jahre nach dem Ausbruch der Rebellion, ist Mexiko ein verändertes Land. Der seit fast 70 Jahren regierende sklerotische Dinosaurier mit dem Namen Partei der Institutionalisierten Revolution (PRI) ist noch immer an der Macht und verteidigt sie wild um sich schlagend. Doch längst sind in der Staatspartei sich bekämpfende Fraktionen entstanden, die auch vor Morden an "Parteifreunden" nicht zurückschrecken. Die linken oppositionellen Bewegungen haben durch den Aufstand der Zapatistas Auftrieb erhalten, doch es ist ihnen bisher nicht gelungen, eine einheitliche Plattform für den Kampf gegen die PRI und das herrschende neoliberale Modell zu finden. Auf der anderen Seite wird, auch durch die Unterstützung von Teilen der PRI-Eliten, die klerikal-konservative neoliberale PAN (Partei der Nationalen Aktion) stärker und besetzt mittlerweile wichtige Positionen in verschiedenen Bundesstaaten vor allem im Norden Mexikos. Sie speist ihre Kraft aus dem Unmut breiter Mittelschichten und deren Angst vor einem Bürgerkrieg.
Die Aufstandsbekämpfungsstrategie der Regierung von Präsident Ernesto Zedillo enthält zwei Elemente: Durch eine massive Aufrüstung der Streitkräfte, unterstützt durch das Militär der USA, werden alle potentiellen Unruheherde militarisiert. Das gilt für Chiapas, aber auch für die Bundesstaaten Guerrero, Oaxaca, Puebla, Tabasco und Veracruz, in denen andere Guerillagruppen operieren und die Welle von zivilen Mobilisierungen von Kleinbauern und Indígenas ungebrochen anhält. Hunderte Opfer unter den Aktivsten der Campesino- und Indígena-Organisationen fordert dieser "Krieg niedriger Intensität" der Regierung. Allein in Chiapas sind seit der "Waffenruhe" vom Januar 1994 etwa 1400 Menschen Opfer der Repression geworden. Andererseits macht Zedillo verbale Integrations- und Reformangebote an die Opposition, die aber letztlich nur hinhaltende Wirkung haben und nicht auf ernsthaften Verhandlungswillen schließen lassen. So bleibt die Gefahr einer militärischen Eskalation der sozialen Konflikte bestehen.
Solidarität
Wie nicht anders zu erwarten, reagierte die übriggebliebene deutsche Linke in einem ersten Moment interessiert bis euphorisch auf die Zapatistas. Endlich wieder ein Hoffnungsschimmer in der grauen nachsozialistischen Wendezeit! Und dann auch noch bewaffnete, maskierte Indígenas, die scheinbar den 3:1 Ansatz in ihre Ideologie aufgenommen haben, da konnten die Herzen der Restlinken in Deutschland nur frohlocken. Ein neues Objekt der Solidarität war aufgetaucht!
Es soll hier nicht gespottet werden, denn die EZLN benötigt Solidarität und alle Versuche, diese hier aufzubauen, sind nützlich und notwendig. Desorientierung machte sich allerdings breit, als die Zapatistas die Solidaritätskomitees dazu aufriefen, mehr zu tun, als Geld nach Chiapas zu schicken und Protestresolutionen gegen Menschenrechtsverletzungen zu formulieren. Die Zapatistas forderten im Januar 1996 dazu auf, in eine weltweite Debatte über die Auswirkungen des Neoliberalismus zu treten und Wege zu einer menschlichen Gesellschaft unter den heutigen Bedingungen neu zu diskutieren. Dies allerdings überforderte die Solidaritätsgruppen. Trotz eines europäischen Treffen vom 30. Mai bis 2. Juni 1996 in Berlin zur Vorbereitung des "Interkontinentalen Treffens für eine menschliche Gesellschaft und gegen den Neoliberalismus", an dem 1300 Menschen aus ganz Europa teilnahmen und dem Interkontinentalen Treffen selbst, an dem in Chiapas Anfang August 3000 Menschen, davon etwa 100 aus der BRD, teilnahmen, kommt die Diskussion in Deutschland nicht so recht vom Fleck.
Warum dies so ist, darüber kann ich nur Mutmaßungen anstellen. Die Solidaritätsgruppen selbst sind organisatorisch und personell schwach und daher nicht in der Lage, eine breite Debatte über ein so umfassendes Problem wie den Neoliberalismus und den Kampf für eine menschliche Gesellschaft zu organisieren. Außerhalb des Soli-Spektrum hat der Aufruf der Zapatistas aber kaum gefruchtet. Die radikale deutsche Linke, falls es überhaupt erlaubt ist, so allgemein über eine Ansammlung von Grüppchen und Individuen zu sprechen, konnte mit dem Aufruf der EZLN offensichtlich wenig anfangen. In ihren Zeitschriften finden sich zwar jede Menge Informationen über die Situation in Chiapas und Solidaritätsaufrufe, aber eine Diskussion über "Neoliberalismus und menschliche Gesellschaft" in Verbindung mit dem Aufstand der Zapatistas findet schlicht nicht statt. Und das Spektrum im weitesten Sinne links orientierter sozialer Bewegungen, oder gar Großorganisationen wie die Gewerkschaften oder Parteien, nahmen vom Aufruf der EZLN anscheinend überhaupt keine Notiz, jedenfalls reagierten sie nicht darauf, individuelle Ausnahmen ausgeschlossen. In anderen Ländern Westeuropas stellt sich dies übrigens anders dar. In Frankreich, Italien oder dem Spanischen Staat hat die Initiative der Zapatistas weit mehr Aufmerksamkeit erregt, in den linken Organisationen, aber auch in der bürgerlichen Presse.
Das Thema "Chiapas und die deutsche Linke" ist also schwer zu diskutieren, denn es gibt kaum eine inhaltliche Auseinandersetzung der deutschen Linken mit den von der EZLN aufgeworfenen Fragen. Das empfinde ich als großen Mangel, denn die EZLN stellt ein neues politisches Projekt dar, das modellhaften Charakter haben könnte. Ich werde mich im folgenden darauf konzentrieren, die Politik der EZLN darzustellen, weil diese für die deutsche Linke vielleicht einige Denkanstöße enthält. Es geht also darum, eine Grundlage für eine weitergehende Diskussion zu schaffen.
Die Bedeutung des Aufstandes der EZLN für Mexiko
In Mexiko jubelte die Regierung von Präsident Carlos Salinas in den letzten Monaten des Jahres 1993 über den angeblich bevorstehenden Eintritt Mexikos in die "Erste Welt". Das Inkrafttreten des NAFTA-Abkommen über eine nordamerikanische Freihandelszone stand zum 1. Januar 1994 auf dem Terminkalender. Carlos Salinas wurde als Musterknabe des IWF und der Weltbank gefeiert. Er grinste vom Titelbild des Time-Magazin als "man of the year" und war gar für den Präsidentensessel der GATT-Nachfolgeorganisation Welthandelsorganisation (WTO) vorgesehen. Heute sitzt Carlos Salinas im selbstgewählten Exil in Irland, sein Bruder Raul fristet ein tristes Leben im Gefängnis in Mexiko. Die Salinas Brüder sind in Mexiko zu Buhmännern der Nation avanciert. Ihnen wird Korruption, Drogenhandel und Anstiftung zum Mord vorgeworfen und die schwerste Wirtschaftskrise seit den 30er Jahren angekreidet.
Ganz erheblichen Anteil am Karriereknick der Salinas-Brüder hatten die Zapatistas aus Chiapas. Mit ihrem Aufstand haben sie die politische Debatte in Mexiko grundlegend verändert. Während bis Ende 1993 in den Leitartikeln der Zeitungen permanent die Rede davon war, daß mit dem NAFTA-Abkommen ein großer Sprung nach vorne gelingen könne, hat der Aufstand der EZLN der mexikanischen Öffentlichkeit dagegen zu Bewußtsein gebracht, daß Armut und Marginalisierung letztlich das Resultat der neoliberalen Politik seit Anfang der 80er Jahre sind, und das NAFTA-Abkommen nur eine Fortsetzung dieser für die Mehrheit der Menschen katastrophalen Politik darstellt. Ein öffentlicher Diskurs, der die Politik der Regierung legitimiert hatte, fiel in sich zusammen. Man stelle sich vor, in der Bundesrepublik würden auf einmal die heiligen Kühe europäische Wirtschafts- und Währungsunion und Standortlogik geschlachtet und ideologisch als das bloßgestellt was sie sind: Projekte des Kapitals zur radikalen Umverteilung des gesellschaftlichen Reichtums von unten nach oben.
Seit dem 1. Januar 1994 wird in Mexiko in einer breiten Öffentlichkeit reflektiert, was zuvor nur millionenfache individuelle Erfahrung gewesen war: Die unter dem Diktat von IWF und Weltbank seit der Schuldenkrise von 1982 durchgesetzte neoliberale Politik hat zu einer enormen Konzentration des Reichtums und zu einer Generalisierung der Armut geführt. Privatisierung der Staatsbetriebe, Weltmarktöffnung, Abbau der staatlichen Subventionen und Inflationsbekämpfungspolitik durch Lohnstopps haben das Reallohnniveau der Lohnabhängigen um über 50 Prozent absinken lassen. Millionen von Kleinbauern und große Bereiche der mittelständischen Betriebe sind ruiniert. Gleichzeitig sind aus nur drei mexikanischen Dollar-Milliardären 1989 in wenigen Jahren über zwanzig geworden.
Das "Ya-Basta!" der Zapatistas machte in Mexiko vielen Menschen deutlich, daß sie nicht alleine sind mit ihren existenziellen Problemen und die heitere Welt in der Glotze und permanent wiederholte Regierungsversprechungen schlicht und einfach Propaganda sind. Die Delegitimation eines vorherrschenden ideologischen Modells ist die Voraussetzung für die massenhafte Verbreitung oppositioneller Politik. Und genau dies ist die zweite wichtige Veränderung, die in Mexiko durch die Zapatistas eingetreten ist. Der Aufstand in Chiapas gab einen wichtigen Impuls für soziale Bewegungen und linke Oppositionsorganisationen. Die Selbstorganisierung von unten verstärkte sich, Menschen faßten Mut, Veränderungen zu erkämpfen. Oft unsichtbare Netze des Widerstandes knüpften sich. Trotz der Repressionspolitik der Regierung ist dieser Impuls bis heute spürbar.
Zwar liegt Mexiko auf der anderen Seite des Globus und ist kaum mit der Bundesrepublik vergleichbar, doch gibt es zwei bemerkenswerte Parallelen. Auch hier folgt die herrschende Politik einem in der breiten Öffentlichkeit nicht hinterfragtem Dogma, das wie in Mexiko als "neoliberal" zu bezeichnen ist: Soziale Standards nach unten, um internationale Wettbewerbsfähigkeit zu sichern, Privatisierung von öffentlichen Betrieben und Dienstleistungen, Freihandelspolitik ... . Die Stichworte der Debatte lassen sich von jedem/r herunterrasseln, weil sie uns permanent vorgebetet werden. Und genauso hört es sich heute in fast allen Ländern der Welt an. Überall wird derselbe Diskurs bemüht, um das gleiche zu erreichen: Die Reichen werden reicher und die Armen ärmer. Und fast überall auf der Welt erstarren die betroffenen Menschen vor dem Dogma der Regierenden in angstvoller Alternativenlosigkeit.
In diesem Punkt liegt die internationale Bedeutung des zapatistischen Aufstandes. Zum ersten Mal seit dem Fall der Mauer und dem Ende des "realexistierenden Sozialismus" greift eine nach 1989 aufgetretene tief verankerte politische Bewegung die herrschende Logik der Globalisierung und des Neoliberalismus frontal an. Wenn die Zapatistas auch kein zusammenhängendes universales Alternativprogramm zum Neoliberalismus liefern, so bieten sie doch Ansätze. Und insbesondere bieten sie Ansätze zu einer Neuorientierung und Neuorganisierung linker Politik.
Demokratie, Freiheit und Gerechtigkeit
Drei grundlegende Forderungen formulieren die Zapatistas "Demokratie, Freiheit und Gerechtigkeit". Das heißt alles und nichts, mag man denken, doch so einfach ist es nicht. In den drei Begriffen verbirgt sich eine gesellschaftliche Utopie, für die alle emanzipatorischen Bewegungen eintreten. Gerade die Einfachheit und Reduziertheit der sozialen und politischen Forderungen auf drei Begriffe bringt eine seltene Klarheit mit sich. Ausgehend von der Forderung nach Demokratie, Freiheit und Gerechtigkeit entwickelt die EZLN weitere Forderungen, die an den elementaren Lebensbedürfnissen der Menschen anknüpfen: Einhaltung der Menschenrechte, Recht auf Bildung, ein Dach über dem Kopf, Gesundheitsfürsorge für alle, ausreichendes Essen ... .
Die Sprengkraft dieser Forderungen liegt in Mexiko in ihrer Nichterfüllung für die Mehrheit der Bevölkerung. Funktioniert ein System, das diese elementaren Forderungen nicht erfüllt? Hat solch eine Ordnung eine Existenzberechtigung? Warum werden Menschen erschossen, die für so einfache lebensnotwendige Forderungen eintreten? Durch die klare und unmißverständliche Forderung der EZLN nach dem Lebensnotwendigen hat ihr Kampf eine nicht zu leugnende Legitimität erhalten, die selbst die mexikanische Regierung und ihre Hofintellektuellen anerkennen müssen.
Sind in der Bundesrepublik alle Lebensnotwendigkeiten erfüllt? Das Recht auf Arbeit? Das Recht auf Faulheit? Das Recht auf Bildung für alle in den Zeiten der Studiengebühren? Das Recht auf Gesundheitsfürsorge in den Zeiten der Kürzungspolitik? Das Recht auf Wohnung, wenn jeden Winter allein in Berlin Dutzende Obdachlose erfrieren? Und nicht zuletzt: Das Recht auf ein menschenwürdige Umgebung, in einer Zeit der Individualisierung, Entfremdung und Vereinsamung? Lebt eine alleinstehende pflegebedürftige Rentnerin im Massenabfertigungs-Altersheim menschenwürdig?
Ich denke, daß die Linke sich die sozialen Themen, die heute wieder eine ungeahnte Aktualität erhalten, neu erkämpfen muß. Einfache und nachvollziehbare Forderungen müssen entwickelt werden und in gesellschaftliche Konflikte hineingetragen werden, wie beispielsweise die Forderung nach einer Grundsicherung unabhängig von Alter, Familienstand oder sozialer Herkunft. Die Zapatistas haben in diesem Sinne durchaus Vorbildcharakter.
Andererseits sind auch die Forderungen nach "Demokratie und Freiheit" für die deutsche Linke von entscheidender Bedeutung. Die Begriffe "Demokratie" und "Freiheit" erscheinen uns reichlich diskreditiert, weil sie von Politikern und Ideologen der Rechten im Munde geführt werden, die damit Massenmord (wie im zweiten Golfkrieg im Irak) und Repression (wie gegenüber dem kurdischen Befreiungskampf) legitimieren. Die herrschende Klasse in der BRD bezeichnet diesen Staat als "demokratisch", obwohl er und seine herrschende Klasse weltweit zu den wichtigsten Akteure von Ausbeutung und Unterdrückung zählen. Doch gerade dieser Umstand sollte uns dazu führen, "Demokratie" und "Freiheit" zu thematisieren.
Dies insbesondere deshalb, weil die deutsche Linke nicht nur einige Schattenseiten, sondern ein schwarzes Loch in den Fragen der "Demokratie" und "Freiheit" aufweist. Die Hauptströmung der deutschen Linken war seit den 20er Jahren der moskautreue "Sozialismus". In seinem Namen wurden unter Lenin und später Stalin unzählige Kommunisten, Anarchisten und oppositionelle Linke umgebracht. Die DDR war eine autoritäre Strafanstalt und die westdeutsche KPD und spätere DKP reproduzierte den autoritären Staatssozialismus in ihren Strukturen. Die post-68er "Neue Linke" mitsamt ihren maoistischen, trotzkistischen und sonstigen ML-Derivaten hat von organisationsintern praktizierter Demokratie auch nicht viel gehalten. Sie war den post-68er-Parteikader, meist aus wohlanständigen Elternhäusern, einfach zu "kleinbürgerlich". Erst mit der autonomen Bewegung Ende der 70er und Anfang 80er entstand eine Strömung innerhalb der Linken, für die "Demokratie" ein positiv besetzter Begriff war und die begann, basisdemokratisch zu arbeiten.
Wer sich heute unter der Bevölkerung kundig macht, was sie vom Verhältnis der Linken zu "Demokratie" hält, wird erfahren, daß in Deutschland "Links" nicht mit "Demokratie" verbunden wird. Das ist eine schwere Hypothek. Eine befreite Gesellschaft basiert auf vielfältigen Formen basisdemokratischer Entscheidungsfindung. Wir müssen nach außen vermitteln, daß Stalinismus und Kasernensozialismus nichts, aber auch gar nichts, mit unserer gesellschaftlichen Utopie zu tun haben. Wenn uns das nicht gelingt, oder es uns selbst nicht klar ist, hat "Linkssein" keine Perspektive.
Die EZLN in Chiapas kämpft gegen eine Staatspartei und gesellschaftliche Strukturen, die Menschenrechte, Demokratie und Freiheitsrechte mit den Füßen tritt. Ihr Ruf nach "Demokratie, Freiheit und Gerechtigkeit" vereint sich mit Wunsch von Millionen von MexikanerInnen. Doch glaubwürdig und fazinierend werden die Forderungen erst dadurch, daß es die EZLN geschafft hat, in ihrer Organisation demokratische Entscheidungsfindungsmechanismen zu finden. Und das unter den Bedingungen der Klandestinität und des schleichenden Krieges, die einen starken äußeren Druck auf die EZLN ausüben! Die Basis der EZLN, die Dorfgemeinschaften der Selva Lacandona, also die Zivilbevölkerung, diskutiert und entscheidet, was die Generalkommandantur und die bewaffneten Gruppen für eine Politik betreiben. Dieses Prinzip stellt das Focus-Konzept der Guerillas seit den 60er Jahren auf den Kopf. Nicht eine Avantgarde soll den Kampf der Massen führen, sondern die Basis soll über die Politik der Führung entscheiden! Die Zapatistas nennen dieses Prinzip: "mandar obediciendo" - "gehorchend befehlen".
Der demokratische Aufbau der EZLN basiert auf den Strukturen der Dorfgemeinschaften in ihrem Einflußgebiet, der Selva Lacandona. In diesem unzugänglichen Dschungelgebiet haben sich seit den 30er Jahren dieses Jahrhunderts, zahlreiche Kolonistendörfer gebildet, deren Bewohner begonnen haben, Land urbar zu machen und eine subsistente Agrarwirtschaft aufzubauen. Die Kolonisten sind fast ausschließlich Indígenas unterschiedlicher Ethnien, die vor ihrer Entscheidung in der Selva zu leben in anderen Teilen Chiapas siedelten. Aus ihren alten Dorfgemeinschaften wurden sie von Großgrundbesitzern vertrieben oder sie haben sich gegen eine Leben als landlose und rechtlose Arbeiter auf Plantagen entschieden. Aus diesen Umständen entstand in den Kolonistendörfern der Selva Lacandona ein großer sozialer Zusammenhalt und der unbedingten Willen das urbargemachte Land zu verteidigen. Als Viehzüchter in die abgelegene Region nachdrängten, begannen sich die Dorfgemeinschaften zu bewaffnen, die EZLN entstand. Dabei schlossen sich ganze Dorfgemeinschaften nach internen Diskussionen der politisch-militärischen Organisation EZLN an.
Diese Gestehungsbedingungen der EZLN sind sicher sehr spezifisch. Sie begründen den basisdemokratischen Charakter der EZLN. Die Frage stellt sich, wie es der Linken in Deutschland gelingen könnte, funktionierende basisdemokratische Strukturen in der Gesellschaft zu verankern.
Selbstorganisierung
Aus der basisdemokratischen Struktur der EZLN folgt ihr Aufruf zur Selbstorganisation der Zivilgesellschaft in Mexiko (und darüber hinaus). Der Begriff Zivilgesellschaft wird in der deutschen Diskussion über die Zapatistas oft falsch interpretiert. In Mexiko bedeutet für die EZLN "Zivilgesellschaft" nichts anderes als die Teile der Gesellschaft, die sich nicht mehr in das korporative System der Staatspartei integrieren lassen und somit in Opposition zum herrschenden Staatsapparat treten.
Exkurs: "System der Staatspartei"
Darunter ist ein System zu verstehen, in dem ein Apparat, nämlich der der PRI, die gesamte Gesellschaft unter Kontrolle hält. Gewerkschaften, Bauernverbände etc. sind parteigebunden und nicht unabhängig. Freie Wahlen hat es in Mexiko nie gegeben. Erst seit Ende der 80er Jahre lockert sich der Griff der PRI über die Gesellschaft langsam und unabhängige oppositionelle Bewegungen erkämpfen sich einen politischen Partizipationsraum. Dabei wird jedes Stück politisches Territorium von der PRI krampfhaft verteidigt.
In zahlreichen Initiativen rief die EZLN diese Zivilgesellschaft, also die mexikanischen (und darüber hinaus nichtmexikanischen) Oppositionskräfte, zur Selbstorganisation auf. Die wichtigsten Initiativen waren: Der Aufruf zur Bildung der "Convención Nacional Democrática" (CND) Anfang August 1994, der Aufruf zur "Consulta Nacional e Internacional" im August 1995, der Aufruf zur Bildung der "Frente Zapatista de Liberación Nacional" (FZLN) und des "Movimiento de Liberación Nacional" (MLN) im Januar 1996 und schließlich der Aufruf zur Realisierung des "Encuentro Intercontinental por la Humanidad y contra el Neoliberalismo" im August 1996.
Bei all diesen Initiativen formulierte die EZLN keinen Führungsanspruch gegenüber den angesprochenen sozialen und politischen Bewegungen. Die Zapatistas unternahmen vielmehr den Versuch, die Selbstorganisation der Menschen im Widerstand gegen die herrschenden Verhältnisse und deren Vernetzung zu fördern. Nicht Abgrenzung, sondern Einschluß, nicht Sektierertum, sondern offene Diskussion, nicht Macht- und Führungsansprüche, sondern gleichberechtigte Teilnahme sollten ihre politischen Initiativen vermitteln.
Damit hat die EZLN den einzigen Weg beschritten, der für die Linke heute Perspektiven verspricht. In Mexiko, in Deutschland und anderswo. Oder gibt es etwa jemanden, der/die von sich behaupten könnte, heute - nur sieben Jahre nach dem Zusammenbruch des Realsozialismus in einer Situation der weltweiten gesellschaftlichen Umbrüche - eine zusammenhängendes politisches Projekt der Befreiung zu bieten. In Deutschland ist davon jedenfalls wenig zu sehen, und international sieht es nicht viel besser aus. Es geht also darum, Menschen im Widerstand an einen Tisch zu bekommen und Perspektiven gemeinsam zu diskutieren. Der Bezugsrahmen für diese Diskussion ist weit und plural, aber andererseits durch den Minimalkonsens "Demokratie, Freiheit, Gerechtigkeit" abgegrenzt.
Vielfältigkeit des Widerstandes
Der Aufruf zur Selbstorganisation und das Ablehnen einer Führungsrolle schließt für die Zapatistas Vielfältigkeit und Pluralität des Widerstandes folgerichtig mit ein. Immer wieder haben die bewaffneten Rebellen aus dem Lakandonischen Urwald betont, daß "alle Kampfformen gleichwertig sind". (Dritte Deklaration aus dem Lakandonischen Urwald) Genauso wenig wie es mehr oder weniger wichtige soziale, kulturelle und politische Kämpfe gibt, sind die Kampfformen mehr oder weniger wichtig. Ob es um das Patriarchat, die sozialen Widersprüche oder ökologische Probleme geht, alle Themen haben den Anspruch auf Gleichwertigkeit. Und das gilt auch für die Form wie Konflikte ausgetragen werden. Die Guerilla kann nicht den Anspruch formulieren, wichtiger zu sein, als beispielsweise der zivile Widerstand in den Stadtvierteln. Entscheidend ist die Frage, welche Form des Widerstandes in der jeweiligen Situation die besten Erfolge verspricht. Und entscheidend ist die Vernetzung der Widerstände.
Dialog als Kommunikationsform
Eine Vernetzung gleichrangiger Widerstände sowie die Diskussion und praktische Entwicklung eines neuen umfassenden Projektes der Befreiung kann nur in einem gleichberechtigten Dialog zwischen allen, die daran teilnehmen wollen, entstehen. Die EZLN demonstriert seit drei Jahren, wie ein solcher Dialog aussehen könnte. Formal steht die EZLN in Verhandlungen mit der Regierung. Doch diese sind völlig unfruchtbar und werden von der Regierung lediglich zum Hinhalten der EZLN benutzt. Die Zapatistas nutzen während dessen die Waffenruhe, um in den Dialog mit allen Gruppen der mexikanischen Opposition zu treten. Konsense sollen gefunden und Meinungsverschiedenheiten diskutiert werden. Ein Beispiel: Vor der Verhandlungsrunde mit der Regierung über ein Abkommen zum Thema "Indigene Rechte und Kultur" berief die EZLN alle repräsentativen Indígena-Organisationen zur Beratschlagung über die Forderungen am Verhandlungstisch ein. Während der Gespräche mit der Regierung konsultierte die zapatistische Delegation permanent die Meinung der anderen Indígena-Organisationen. So entstand aus dem Verhandlungsprozeß mit der Regierung, der sich als unfruchtbar erwies, zumindest eine vereinheitlichte, gestärkte und besser vernetzte Indígena-Bewegung in Mexiko. Somit haben sich die Kräfteverhältnisse letztlich in die richtige Richtung bewegt. Die EZLN gewinnt so politisches Terrain, das sie militärisch nicht erobern kann.
Bei den "Interkontinentalen Treffen für eine menschliche Gesellschaft und gegen den Neoliberalismus" geht es letztlich darum, eine Form des Dialoges zwischen oppositionellen Gruppen weltweit zu finden.
Gegenmacht und gegen Macht
Für Kopfschütteln hat in der auf die Machtfrage fixierten deutschen Linken insbesondere eine Aussage der EZLN geführt: "Wir kämpfen nicht um die Macht, sondern gegen die Macht" (Vierte Deklaration aus dem Lakandonischen Urwald). Wie kann die Linke Veränderungen erreichen, ohne die Macht anzustreben?
Die Zapatistas demonstrieren es mit ihrer Politik am besten. Sie kämpfen weder bewaffnet noch unbewaffnet um die Staatsmacht und haben in Mexiko dennoch wichtige gesellschaftliche Prozesse in Gang gesetzt. Statt die Staatsmacht übernehmen zu wollen, setzen die Zapatistas sich für eine radikale Dezentralisierung der Macht ein. Sie fordern mehr Rechte für die indigenen Völker, einen neuen Föderalismus und die Übertragung von zentralstaatlichen Kompetenzen nach unten auf die lokalen Ebenen. Dadurch versuchen sie, Macht kontrollierbarer zu machen, denn Machtstrukturen an sich lassen sich selbstverständlich nicht abschaffen, sie müssen in langwierigen Prozessen aufgelöst werden. Und dafür ist ein Konzept zur Dezentralisierung der Macht am besten geeignet.
Das Konzept der EZLN zur Zertrümmerung der zentralstaatlichen Macht basiert also auf dem Aufbau von selbstorganisierten, dezentralen, aber verknüpften Netzen einer demokratisch strukturierten Gegenmacht. Diese Struktur nimmt eine befreite Gesellschaft bereits im Kampf gegen die Alte voraus. Nach den Erfahrungen mit der machtfixierten Variante der von oben gelenkten "Revolution", scheint dieses Konzept realistischer denn je.
Zum Schluß
Ich habe in diesem Text einige Punkte angerissen, die ich im Rahmen der
Diskussion über Zapatismus für interessant halte und die Relevanz auch
für die Diskussion innerhalb der Linken in Deutschland besitzen. Jeder
Versuch, den Zapatismus auf unsere Realität zu übertragen, ist
letztlich zum Scheitern verurteilt. Die Bedingungen in Mexiko und Deutschland
sind vollkommen unterschiedlich. Aber die Politik der EZLN in Mexiko vermittelt
Denkanstöße auch für uns, und darum geht es mir. Im Spanischen
Staat wird im Sommer das "Zweite Interkontinentale Treffen für eine
menschliche Gesellschaft und gegen den Neoliberalismus" stattfinden, eine
gute Gelegenheit die Diskussionen weiterzuführen.
März 1997
Boris Kanzleiter arbeitet in der Mexikogruppe der FDCL- Berlin mit und hat das Europäische Vorbereitungstreffen für den Interkontinentalen Kongreß in Chiaoas, der 1996 in Berlin stattfand, mit organisiert.