Texte, Beiträge und Diskussionen zum Thema: Chiapas und die Linke
Epitaph für den Zapatismus
Wir werden weiterkämpfen für Demokratie, Freiheit und Gerechtigkeit, wir werden weiter Zapatistas sein bis zu jenem Moment, den man schon dort in der Ferne sehen kann, dem Punkt, wo sich die Schienen des Lebens, des Kampfes und des Traumes vereinen, der in den Bergen des mexikanischen Südostens eine fruchtbare Gestalt gefunden hat, die heute Tausende in ganz Mexiko, in Amerika und der Welt teilen. Demokratie, Freiheit, Gerechtigkeit. Wir sind bereit, bis zum Ende zu gelangen. Subcommandante Marcos, Juni 96
Wenn dieser näherrückende Moment, das ersehnte Ende, erreicht sein wird, wenn die sinkende Sonne des mexikanischen Südostens mit ihrem melancholischen Licht das Finale des zapatistischen Spektakels vergoldet, wenn die Commandantes und Subcommandantes der EZLN ihre Pasamontanas abgestreift und an den Regierungstischen Platz genommen haben, wenn die Kämpfer ihre Waffen abgegeben und Stimmzettel in Empfang genommen haben, wenn das erodierende PRI-System einer Zivilgesellschaft mit gleichberechtigt um das nationale Heil konkurrierenden Parteien gewichen ist, wenn Verhaftungen und Hinrichtungen in Mexiko nicht mehr nur willkürlich, sondern - von den in Demokratien üblichen bedauerlichen Mißständen einmal abgesehen - vor allem rechtsstaatlich auf der Grundlage von Haftbefehlen und gerichtlichen Todesurteilen erfolgen, wenn der karge Ertrag indigener Plackerei nicht mehr dem Verdacht ausgesetzt ist, Produkt rassistischer Segregation zu sein, sondern Armut, Krankheit und Aussichtslosigkeit als Ergebnisse marktwirtschaftlicher Leistung bzw. deren Abwesenheit, mithin als selbstverschuldet, erscheinen, wenn in den Bergen des mexikanischen Südostens neben den Bildnissen des Christus, des Che und Zapatas das Porträt des maskierten Marcos gehängt wird und der erneuerte Mythos einer verratenen Revolution die Runde macht, wenn also alles so geblieben ist, wie es war, wenn aber das meiste einen anderen Namen bekommen hat, wenn die Fackel der Hoffnung in der Welt (F.J. Degenhardt über die Zapatisten) zumindest ihren Trägern den Weg auf die verdienten Plätze von Privilegierung und Unterordnung heimgeleuchtet hat, wenn also das Schicksal der konkreten mexikanischen Armen wieder einmal endgültig besiegelt ist und die politischen Mythen der Demokratie sich am realen, aber renovierten Elend aufs neue sättigen, dann ...
... ja, dann wird die deutsche Metropolenlinke, erfahren in der Verarbeitung verlorener Illusionen und gescheiterter Hoffnungen, einmal mehr ihre bewährte Trauerarbeit leisten und sich alsbald neuen Objekten solidarischer Pflege zuwenden, auch dann wird in der marktwirtschaftlich-demokratisch geeinten Welt für Action und Unterhaltung gesorgt sein, auch dann wird die große Erzählung vom Widerstand authentischer und authochtoner Subjekte nicht verstummen, auch dann wird die Linke den Endlostext von wahrer Demokratie, Freiheit und Gerechtigkeit weiterschreiben ...
Weil dies alles mit deprimierender Sicherheit so oder ähnlich geschehen wird, können wir unseren Grabgesang auf den Zapatismus auch schon pre mortem anstimmen. Dabei ist es uns arroganterweise gleichgültig, ob der reale Exitus, wie beschrieben, sang- und klanglos durch eigene Hand oder, wie durchaus zu befürchten, durch die militärische Gewalt der mexikanischen Bundesarmee eintritt. Verantwortlich sind in jedem Fall Demokratie, Freiheit, Gerechtigkeit und der törichte Glaube an sie.
Eine "postkommunistische Revolte" gegen das "Ende der Geschichte"?
Einen "Epitaph für den Zapatismus" haben wir die
heutige Veranstaltung in unseren Einladungsflugblättern genannt. Das Wort
Epitaph bezeichnet eine Grabinschrift, einen Grabgesang oder, verallgemeinert,
einen Abgesang, der dann angestimmt wird, wenn eine geschätzte Person oder,
wie im hier zu erörternden Fall, eine Sache, also ein über den
situativen Anlaß hinaus als perspektivisch bedeutsam eingeschätzter
Zusammenhang von Ideen und Handlungen, gestorben ist. Wobei gestorben nicht
unbedingt den physischen Exitus bedeuten muß. Gewöhnlich wird ein
Epitaph auf eine Person oder eine Sache gehalten; die Präposition
für ist in diesem Zusammenhang eher ungewöhnlich, wenn nicht
gar falsch oder semantisch irreführend. Wenn wir dennoch diese Formulierung
gewählt haben, so deshalb, weil einerseits der (Neo)-Zapatismus für
uns als emanzipatorisches Projekt eine Leiche darstellt, und weil er
andererseits als politisch-affirmatives Angebot möglicherweise noch eine
begrenzte Lebenszeit vor sich hat. Daß er jedoch von dieser Welt
verschwinden wird, sei es durch die mörderische Gewalt der mexikanischen
Bundesarmee oder sei es durch eigene politische Anstrengungen mit der Folge der
Ununterscheidbarkeit von anderen patriotischen Bestrebungen, scheint uns
allerdings - traurigerweise - gewiß. Einen Epitaph für den
Zapatismus also auch für den Moment, in dem der demaskierte Marcos als
mexikanischer Minister für nationale Entwicklung gemeinsam mit dem
deutschen Außenminister vor den Kameras erklären könnte, daß
die internationale Zivilgesellschaft sich nicht dem Diktat des Yankee-Dollar
beuge.
Es ist mehr als fraglich, ob dann, wenn unser Epitaph für den
Zapatismus einer auf denselben geworden ist, die Trauergemeinde ebenso
zahlreich sein wird wie die Anhängerschaft zu Lebzeiten. Diese zeichnet
sich auf den ersten Blick durch sehr heterogene, wenn nicht diametrale Begründungen
ihrer Begeisterung aus. Zwei Hauptgruppen sind hier auszumachen. Für die
einen verkörpert der Aufstand der EZLN die "erste postkommunistische
Revolte", für die anderen widerlegt er die nach dem Untergang des
Realsozialismus eilfertig aufgestellte These vom "Ende der Geschichte".
Der Internet-Beobachter der "Frankfurter Rundschau" erklärt sich
diesen konsensualen Erfolg dadurch, daß die "Thesen der Zapatisten
und ihres Subcommandante Marcos über Neoliberalismus und Demokratie äußerst
attraktiv für westliche Ohren" seien. "Andere Guerillabewegungen
wie in Guatemala, wo die Lage weit schlimmer war als in Mexiko, nutzen das
Internet seit Jahren erfolglos - weil keiner mehr ihre marxistisch-lenistische
Rhetorik hören kann."(1) Da liegt er wahrscheinlich nicht ganz falsch.
Was der Zeitungsmensch in der berufseigenen Oberflächlichkeit als "marxistisch-leninistische
Rhetorik" verallgemeinert, ist das Insistieren auf die Abschaffung des
Kapitalismus als Voraussetzung einer Gesellschaft, die diesen Namen nur deshalb
verdient, weil sie die Befriedigung der Bedürfnisse ihrer Mitglieder zum
Primat erhebt - wie immer das dann theoretisch begründet und praktisch
ausgeführt wird. Doch von solchen Dingen will heute kaum einer mehr hören;
Warenproduktion, Markt und Konkurrenz gelten als allgemeinmenschliche Standards,
die vielleicht hie und da ein wenig "sozialer" veranstaltet werden könnten.
Radikale Kritik gilt als weltfremd, sektiererisch und gelegentlich sogar als
gemeingefährlich. Auch in dieser Auffassung treffen sich die beiden
Hauptgruppen der EZLN-Anhängerschaft nicht nur hierzulande.
Was die linken Zapatistenfreunde - die mit der Freude darüber, daß
das "Ende der Geschichte" doch noch ein wenig auf sich warten läßt
- von den Ausstellern des Unbedenklichkeitszertifikats "erste
postkommunistische Revolte" unterscheidet, ist das Vorhandensein eines
Substrats von Beharren auf die besondere Form ihres Einverständnisses mit
dem Lauf der Dinge. Im zapatistischen Diskurs könnte das mit dem
quasimythischen Terminus "Würde" bezeichnet werden, hierzulande
ist das leider nicht mehr als die berühmt-berüchtigte "eigene
Meinung", der Ausweis gelungener staatsbürgerlicher Sozialisation.
Weil diese Leute von der Belanglosigkeit von Meinungen in der bürgerlichen
Gesellschaft zwar nichts wissen wollen, aber dennoch tagtäglich verspüren,
daß es darauf nicht ankommt, legen sie auch heute noch Wert auf diese
besondere Form. Man möchte nicht nach der weltgeschichtlich scheinbar endgültigen
Durchsetzung von Markt und Demokratie einfach in der grauen Masse der
Alternativlosen verschwinden. Der für Außenstehende unerwartete,
eruptive Ausbruch des Zapatisten-Aufstands am 1. Januar 1994 kam da gerade
recht.
Nein, das "Ende der Geschichte" sollte der Untergang des
Realsozialismus für die vernünftig gewordene Linke nicht bedeuten,
sicher ein Ende der eigenen, aus ideologischer Verblendung resultierenden, Irrtümer,
aber doch keineswegs ein Ende des Bedarfs an kreativen, im vollen Bewußtsein
der Eigenverantwortung handelnden Innovateuren. Hatte man nicht, trotz aller
totalitären Entgleisungen zur Zivilisierung der BRD beigetragen, war nicht
zuletzt aufgrund des eigenen Engagements das einstmals unheimliche Deutschland
zu einem liebenswerten, weil demokratischen, Vaterland geworden? Wenn man selbst
noch zu jung war, um sich wie die echten "68er" mitsamt ihrer
K-Gruppen- bzw. Sponti-Abenteuer diese Meriten als eigene an die Brust zu
heften, so konnte man doch von deren "Erfahrungen" profitieren, indem
man unter Anleitung oder selbsttätig "Lehren" daraus zog. Zu den
wichtigsten "Lehren" gehört: 1.) Staatlichkeit in ihrer Form als
Demokratie darf nicht, wie im Mainstream der traditionellen linken Theorie,
Mittel zur Erreichung sozial freundlicher Ziele sein, sie muß vielmehr als
Identität von Zweck und Ziel politischen Handelns als sakrosankt begriffen
werden. 2.) Der Markt und die auf ihm getauschten Waren sind konstitutive
Bestandteile menschlicher Gesellschaft überhaupt. Die Aufhebung dieser "Regelungsinstanzen"
hätte - wie durch die Praxis des Realsozialismus angeblich bewiesen -
katastrophische Folgen.
Um dieses kleine abc des demokratischen Marktwirtschaftlers zu beherrschen,
muß man sich zwar nicht für antikapitalistische Theorie interessiert
haben, ein kurzer Blick in die einschlägigen Massenmedien reicht dafür
völlig aus, doch unterstreicht die Tatsache, daß man es sich bei
seinem Einstieg in den common sense nicht leicht gemacht hat, die
Ernsthaftigkeit der eigenen Haltung - man ist eben kein simpler Mitläufer -
und die Kompetenz als Anbieter von Problemlösungen. Und daß es auch
nach dem demokratischen Sieg im dritten Weltkrieg noch jede Menge Probleme auf
dem Globus gab, machte der Zapatisten-Aufstand deutlich.
Das "Ya Basta" der EZLN lenkte den Blick auf die ganz gewöhnlichen
Verbrechen des internationalen Weltmarktes, die so alt sind wie der subjektlose
Täter selbst, nur die Opfer sind jeweils immer konkrete Menschen mit einer
begrenzten Lebenszeit, die ihnen durch Markt und Staat zur Hölle gemacht
wird. "... es interessiert keinen", heißt es in der ab Januar 94
verbreiteten "Kriegserklärung" des EZLN, "daß wir vor
Hunger oder an heilbaren Krankheiten sterben, daß wir nichts haben,
absolut nichts, nicht einmal ein würdiges Dach, kein Land, keine Arbeit,
keine Gesundheit, keine Nahrung, keine Bildung ..."(2) Damit hatten die
Zapatisten völlig recht. Die konkrete Armut konkreter Menschen interessiert
außer den Armen keinen. Dennoch läßt ihr Schicksal die
intellektuellen Eliten nicht gleichgültig, als Problem ist es ihnen
hochwillkommen. Aus der konkreten Armut, aus dem Fehlen von Nahrung, Wohnung,
Medikamenten, also Dingen, die im Überfluß vorhanden sind und
jederzeit produziert werden können, die aber als Waren bezahlt werden
sollen, entspringt für sie noch lange kein Grund, gegen den Warencharakter
der notwendigen Dinge, deren Fehlen das beschriebene Elend bedingt, zu
protestieren. Hier finden sie eher Grund, mangelnde Gerechtigkeit
einzuklagen. Die Forderung, daß der Gebrauchswert der Dinge angeeignet gehöre,
um die Ansprüche aller Bedürftigen zu befriedigen, mithin also auch
die politische Zwangs- und Garantieinstanz der Warenproduktion, der Staat,
abgeschafft gehöre, würden sie bestenfalls in den Bereich
unverantwortlicher Phantasterei verweisen, schlimmstenfalls würden sie nach
den Exekutivorganen des Staates selbst rufen.
Die Lektion von Markt und Staat als unverzichtbare Zivilisationsinstrumente
haben nicht nur die sog. Metropolenlinken gelernt. Auch der EZLN zeigt sich als
gelehriger Schüler der neuen Weltordnung. Das eben begonnene Zitat geht nämlich
weiter: "... kein Recht unsere Vertreter frei und demokratisch zu wählen,
keine Unabhängigkeit vom Ausland, keinen Frieden und keine Gerechtigkeit für
uns und unsere Kinder."(3) In einer anderen Übersetzung des gleichen
Textes heißt es " ...unsere Autoritäten frei und demokratisch zu
bestimmen ..." und statt "... keine Unabhängigkeit vom Ausland
..." " ... ohne Unabhängigkeit von den Ausländern ... ".(4)
Obwohl ohne Vorlage des spanischen Originals nicht beurteilt werden kann, welche
der beiden Übersetzungen die präzisere darstellt, scheint mir doch die
zweite den Kern der Angelegenheit besser zu treffen. Nicht irgendwelche "Vertreter"
sollen gewählt werden, sondern, wie es sich für einen ordentlichen
Staat gehört, durchsetzungsfähige "Autoritäten",
solche, die in der Lage sind, zwischen Inländern und Ausländern,
zwischen rechtmäßigen und unrechtmäßigen Ansprüchen
an den staatlichen Souverän zu unterscheiden. Statt der jetzigen "Verräterclique,
die die konservativsten Gruppen des Landes repräsentiert", auch als "Vaterlandsverkäufer"(5)
gekennzeichnet, soll das Land von wirklichen Patrioten beherrscht werden. "Wir",
gemeint ist der EZLN, "stehen zum Vaterland, und die grün-weiß-rote
Fahne wird von den aufständischen Kämpfern geliebt und respektiert."(6)
Dies sind alte und neue Töne zugleich.
Alte Töne, weil politische Aufstandsbewegungen in der 3. Welt
in der Regel sich als die besseren Patrioten verstehen und die von ihnen bekämpfte
Regierung als Verräter an der Nation angreifen. Ideologisch hatte
dies seinen Grund vor allem in der nationalen Ausrichtung der von der Leninschen
Imperialismustheorie und den theoretischen Vorgaben der
leninistisch-stalinistischen 3. Internationale beeinflußten Parteien und
Bewegungen. Das Dogma von der Notwendigkeit der Herausbildung einer selbständigen
und unabhängigen Nation als Voraussetzung für die soziale Emanzipation
der Unterklassen hat nach dem fast sang- und klanglosen Verschwinden so gut wie
aller parteikommunistischer "Gewißheiten" eine äußerst
vitale Resistenz behalten. Hinzu kommt die praktische Demonstration
nationaler Privilegierung und Unterordnung durch die internationale
Kapitalkonkurrenz. Die gewaltsame Absicherung der für die Länder der
sog. 3. Welt ungünstigen Weltmarktkonditionen durch die imperialistischen
Staaten sorgt für eine empirische Bestätigung der antiausländischen
Aversion. So auch im Falle Mexikos. Anlaß für das von den Zapatisten
gewählte Aufstandsdatum war das Inkrafttreten des NAFTA (North American
Free Trade Agreement), wodurch die Unterlegenheit der mexikanischen Wirtschaft
gegenüber ihren US-amerikanischen und kanadischen Konkurrenten
festgeschrieben wurde, indem der mexikanische Staat "freiwillig" auf
seine außenwirtschaftlichen Regulationsinstrumente verzichtete. Dieser
Globalisierung des effektivsten Verwertungsstandards sollte auf
nationaler Ebene in Form des Neoliberalismus die uneingeschränkte
Zurverfügungstellung aller verwertbaren - vor allem menschlichen -
Ressourcen für die Kapitalverwertung folgen. Das hieß für Mexiko
die Abschaffung der spärlichen und unvollendeten sozialen "Errungenschaften"
seiner nationalen Entwicklung. Was in den "Zentren" des Weltmarktes
die Abschaffung der klassenkämpferisch oder korporatistisch entstandenen
Mindestgrenzen des Wertes der Arbeitskraft und der Bedingungen ihrer
Reproduktion bedeutet, beinhaltet für die Länder der "Peripherie"
nicht nur eine Festschreibung des bestehenden Elends der Unterklassen, sondern
auch eine immense Beschleunigung des unmittelbaren Verfalls sämtlicher
ihrer Lebensbedingungen. Die national-souveräne Verfügung über
die "eigenen" Reichtumsressourcen scheint in so einer Situation als
grundlegender Schritt in Richtung eines allgemeinen Wohlstandes. So weit die
alten und bekannten Töne in den Erklärungen des EZLN.
Neue Töne sind dagegen zu vernehmen, wenn es um den Umgang mit
der aktuell von Vaterlandsverrätern beherrschten Staatsmacht geht.
Traditionelle Befreiungsbewegungen strebten deren Zerschlagung und ihre
Ersetzung durch eine sog. "Volksmacht" an. In der Regel erkannten sie
in der Konstitution des bekämpften Staates eine wesentliche Ursache für
dessen Unterlegenheit gegenüber ausländischen Begierden. Der häufig
in den Verfassungen festgeschriebene Liberalismus erschien ihnen nicht zu
Unrecht als ideologische Rechtfertigung der kleinen Schicht einheimischer
Profiteure und deren Ausverkauf nationaler Interessen an ausländische
Nutznießer. Nach der Machtübernahme durch die Befreiungsbewegungen
sollte eine völlig neue Gesetzlichkeit etabliert werden, in der das
materielle Interesse der bislang Zukurzgekommemnen das Selbstverständnis
der Nation prägen sollte. Und in der Tat konnten die eilfertig als
Entwicklungs- und Modernisierungsdiktaturen geschmähten Staaten lange Zeit
der Mehrzahl ihrer Bevölkerungen zumindest einen gesicherteren
Lebensunterhalt bieten als Staaten, die sich dem westlichen Marktideal verbunden
fühlen. Das Beispiel Cubas steht bis zu seiner - erzwungenen - aktuellen
Selbstaufhebung für den bescheidenen Erfolg einer solchen Politik. Die
derzeitige Endphase des cubanischen Modells zeigt aber in ihren ideologischen
Hervorbringungen auch die grundsätzlich antiemanzipatorische Tendenz linker
Staatsprojekte: Wenn die sozialen Errungenschaften unaufhaltsamer Zerstörung
anheimfallen, fordert der Staat nämlich nach wie vor seinen Tribut in Form
der bedingungslosen Dienstbereitschaft seiner Untertanen. Die Parole "Patria
o muerte" drückt das in beklemmender Deutlichkeit aus.
Eine linksradikale Kritik an Staatlichkeit als Mittel sozialer Emanzipation,
der zufolge nämlich die genuinen Bestandteile kapitalistischer Produktion
und Verteilung - Staat, Markt, Lohnarbeit und Geldwirtschaft - nicht zu deren
Aufhebung taugen, sondern noch beim besten Willen der Akteure hinter deren Rücken
quasi "automatisch" die alten Verhältnisse reproduzieren, ist
jedoch kein Bestandteil zapatistischer Theoriebildung. Diese fällt in ihrem
Staatsfetischismus noch hinter ihren traditionellen Vorgängerinnen zurück.
Bereits während der bewaffneten Kämpfe im Januar 1994 proklamierte der
EZLN seine Treue zur mexikanischen Verfassung und erhob diese zur
legitimatorischen Grundlage des Austands. "... als unsere letzte Hoffnung,
nachdem wir alles versucht haben, um die auf unserer Magna Charta basierende
Legalität in die Praxis umzusetzen, beziehen wir uns auf den Artikel 39
unserer Verfassung, worin es wörtlich heißt: 'Die nationale Souveränität
liegt wesentlich und ursprünglich beim Volk. Alle öffentliche Macht
geht vom Volk aus und wird eingesetzt, um dem Wohle des Volkes zu dienen.
Das Volk hat jederzeit das unveräußerliche Recht, die Form seiner
Regierung zu verändern oder zu modifizieren.'"(7) Der letzte Satz
aus dem Verfassungszitat ist in der deutschen Übersetzung kursiv gedruckt.
Wahrscheinlich ist dem Übersetzer aufgefallen, daß es sich hier um
eine für Verfassungen ungewöhnliche Formulierung handelt. In der Regel
stellen Verfassungen ihrem Staatsvolk zwar die Veränderung und
Modifizierung des Personals der Regierung frei, jedoch nicht deren Form.
In Deutschland wäre ein Versuch die Regierungsform zu ändern, eine
verfassungsfeindliche Bestrebung mit allen Konsequenzen, bis hin zur Ausrufung
des staatlichen Notstandes. Hatte sich etwa der EZLN hier ein
verfassungsjuristisches Hintertürchen offengelassen, um doch den
mexikanischen Staat, beherrscht er ihn erst einmal, als Mittel der Volksmacht
ihrer unterm Neoliberalismus leidenden Klientel einzusetzen?
Um diese Frage zu beantworten, ist es notwendig, sich die Situation der
Hauptklientel der Zapatisten und die Artikulation ihrer Interessen durch den
EZLN anzusehen. In Mexiko wie in vielen anderen lateinamerikanischen Ländern
sind von der neoliberalen Politik neben der zunehmend marginalisierten
Arbeiterklasse in besonderem Maße indianische Bevölkerungsgruppen im
agrarischen Bereich betroffen. Der für Chiapas besondere, aber für die
meisten mexikanischen Regionen verallgemeinerbare, Zustand der Ultraausbeutung
auf Grundlage einer de facto Rechtlosigkeit der sog. "Indigenas"
spielt in den Selbstdarstellungen des EZLN eine große Rolle.
Ultraausbeutung ist in diesem Zusammenhang ein durchaus zutreffender Terminus,
weil der Wert der indianischen Arbeitskraft häufig durch die direkte
Gewalt der Besitzenden und kaum durch die traditionellen Marktmechanismen oder
gar den Klassenkampf bestimmt werden kann. Ein zentrales Thema der Beschreibung
in den zapatistischen Texten ist insofern der Gegensatz von, häufig
feudal-autokratisch agierenden, agrarischen Großgrundbesitzern und einer
Handelsbourgeoisie einerseits, recht- und landlosen Indiobauern, deren konkrete
Situation zwischen Subsistenzwirtschaft, Lohnarbeit und Leibeigenschaft
changiert, andererseits. Die Phänomene einer von den Unterklassen fast bedürfnislos
betriebenen Landwirtschaft und der häufig fast entschädigungslosen
Aneignung ihrer Produkte durch die Besitzenden führte (fast) zwangsläufig
zur Artikulation eines Warenbesitz und -zirkulation affirmierenden politischen
Bewußtseins.
Die Parole "Tierra y Libertad" bringt das Bedürfnis zum
Ausdruck, anstelle des, für den Landarbeiter selbstverständlich
unproduktiven und entbehrlichen, Großgrundbesitzers, selbst die Quellen
des Reichtums (Tierra) zu besitzen und sie, vor allem vermittels der Ausbeutung
eigener und familiärer Arbeitskraft, produktiv zu machen und über die
Produkte als freies Austauschsubjekt rechtlich garantiert zu verfügen
(Libertad). Für traditionelle Linke stellte eine solche Idealisierung von
Markt und Staat in der Regel kein Problem dar. Als Politiker kam es
ihnen darauf an, eine möglichst breite Front als Vehikel für ihr
Vorankommen zu schaffen. Die Aufhebung der bäuerlichen Warenproduktion
sollte durch Kollektivierung zu einem opportun erscheinenden Zeitpunkt nach
der Revolution betrieben werden. Als Nationalökonomen wußten
sie schließlich um die Nützlichkeit kleinbäuerlichen Ehrgeizes für
staatliche Aufbauprojekte. Und als Geschichtsmetaphysiker gingen sie
auch noch in Zeiten globaler Warenzirkulation davon aus, daß jedes
einzelne Land eine Stufenleiter determinierter Produktionsformen zu durchlaufen
hatte, bevor eine allgemeine Bedürfnisbefriedigung ins Auge gefaßt
werden konnte.
Bekanntlich stammen die Gründerväter und -mütter des EZLN aus
der Zeit militanter maoistisch-stalinistischer Aufbauorganisationen, zu deren
ideologischer Grundausstattung das beschriebene Verständnis von Politik, Ökonomie
und Geschichte gehörte. In idealisierenden Beschreibungen wird häufig
lobend erwähnt, diese früheren MLer hätte nach ihrem Rückzug
in den mexikanischen Südosten beachtliche Lernprozesse vollzogen.
Offensichtlich besteht deren Ergebnis nicht nur in der Beherrschung indianischer
Sprachen und Lebensweisen, sondern auch in der Akzeptanz realpolitischer
Erfordernisse. Denn als traditionelles linkes Guerilla-Projekt begann der
Zapatisten-Aufstand völlig unzeitgemäß, weil historisch verspätet.
Nach dem Ende des sowjetischen Lagers als Subventionierungsinstanz simulierter,
im Wortsinne "sozialer" Marktwirtschaften und dem "objektiven"
Wertverlust des Produktionsfaktors Arbeit in der postfordistischen Ära ist
der von der "neuen Weltordnung" zur Verfügung gestellte Spielraum
für nationale Entwicklungsprojekte gleich null. Das war den zapatistischen
Strategen gewiß nicht verborgen geblieben.
Aus dem traditionell anmutenden Aufstand mit seiner bäuerlichen und
indianischen Färbung wurde bald ein kommunikatives Projekt zur diskursiven
Beeindruckung der "Zivilgesellschaft". Auch dies hat den Zapatisten
bei den Zeitgeistrittern der "Metropolen" eine Menge Pluspunkte
eingebracht. Zwar führen sie nach wie vor das Schlagwort von der "Nationalen
Befreiung" im Mund und versuchen weiterhin "Nationale
Befreiungsfronten" zu schmieden, doch vom Ziel der Inbesitznahme nationaler
Macht als Voraussetzung alternativen Nationalaufbaus haben sie längst ausdrücklich
Abstand genommen. An die Stelle konkreter Forderungen und Zielsetzungen sind
Phrasen getreten, die sich vor allem um die projektionsfähigen Begriffe "Würde"
und "Wahrheit" gruppieren. Der literarisierende Subcommandante
schwelgt in der Verklärung von "Freiheit, Demokratie und Gerechtigkeit",
als wolle er sich demnächst um eine Stelle als Redenschreiber für
Clinton, Kohl oder Jelzin bewerben. Am liebsten wäre der EZLN heute eine
gewöhnliche politische Partei; nur läßt dies der
mafiotisch-terroristische Staatsapparat Mexikos (noch?) nicht zu. Folgerichtig
sind im vergangenen Jahr zwei "neue", die alte ML-Konzeption mit
demokratischen Mofifizierungen erneut hochhaltende Guerillabewegungen (EPR und
ERIP) in Mexiko in Erscheinung getreten. Auch eine "neue"
Kommunistische Partei Mexikos wurde inzwischen gegründet; ihr zufolge ist "der
Sozialismus nicht gescheitert, sondern nur gestrauchelt".(8)
Ist dies das Ende der "ersten postkommunistischen Revolte" und
damit nun wirklich das "Ende der Geschichte"? Nicht ganz; das zeigt
gerade die Ergebnislosigkeit des zapatistischen Projekts. "Ende der
Geschichte" bedeutete ja in der triumphalistischen Euphorie des Westens
nach 89 das Ende von subjekthafter, identifizierbarer Herrschaft. Der
Realsozialismus verkörperte diese mit seinem Anspruch, der Arbeit ihren
Charakter als Verwertungsmasse für das Kapital zu nehmen und ihre
vorgebliche Befreiung zum Primat der Staatlichkeit zu erheben, auf geradezu
idealtypische Weise. Nach seinem Abdanken sollte in den Augen westlicher
Ideologen nur noch die der Ökonomie unterstellte Vernunft, verkörpert
im Bürgerwillen der konkurrierenden Geldsubjekte herrschen. Die staatliche
Gewalt kann in diesem ZUsammenhang nicht mehr als ein über der Gesellschaft
lastender Fremdkörper gedacht werden, sie wird nun das, was sie neben allen
Ideologisierungen in der bürgerlichen Welt real auch immer war: notwendige
Garantieinstanz des gesellschaftlichen Warentausches, die jedes bürgerliche
Subjekt bei Strafe des Untergangs wollen muß. Der politisch-ideologische
Ausdruck dieses ständig unvollendeten Gesamtkunstwerks heißt "Zivilgesellschaft".
An diese Zivilgesellschaft möchte der EZLN die Macht in Mexiko übertragen
wissen. Die diktatorische, willkürliche Herrschaft, die von der
Staatspartei PRI repräsentiert wird, mit all ihren "unzivilisierten"
Erscheinungsweisen, wie der Korruption und dem Einsatz staatlicher Macht zur
Bereicherung der traditionell Privilegierten, wie dem Dominieren partikularer
Herrschaftsinteressen über den gesamtstaatlichen Entwicklungserfordernissen
ist für eine zu kurz gekommene bürgerliche, in der Regel akademisch
geprägte, Elite das Haupthemmnis für ihre Teilhabe an der Macht. Für
diese Verantwortungsträger im Wartestand trifft ein makabares
Gorbatschowsches Bonmot aus der Frühzeit der sowjetischen Perestroika ins
Schwarze: Sie brauchen die Demokratie wie die Luft zum Atmen. Gern vergleichen
sie deshalb die mexikanische Situation mit der in Osteuropa vor 89. Der
Historiker Adolfo Gilly, Mitglied des als "linksbürgerlich"
apostrophierten Partido Revolutionaroe Democratico (PRD) formuliert
stellvertretend für seine Kaste: "Ich erhoffe mir so etwas wie eine
'tschechoslowakische" Antwort: einen großen und friedlichen Aufstand,
eine ganze Gesellschaft, 'Nein' sagt."(9)
Die mexikanischen Armen hingegen, die Indigenas in ihrem sozialen Elend
brauchen weder Demokratie noch Zivilgesellschaft. Ihnen nützt es nichts,
wenn, wie wir in unserem Flugblatt schrieben, "der karge Ertrag indigener
Plackerei nicht mehr dem Verdacht ausgesetzt ist, Produkt rassistischer
Segregation zu sein, sondern Armut, Krankheit und Ausweglosigkeit als Ergebnisse
marktwirtschaftlicher Leistung bzw. deren Abwesenheit, mithin als
selbstverschuldet erscheinen". Ebensowenig nützt es ihnen, wenn die
gegen ihre Ansprüche gerichtete Repression künftig auf
rechtsstaatlicher Grundlage stattfindet. Haftbefehle, Todesurteile, Rechtgüterabwägungen
wg. Folterungen - selbstverständlich nur, um größeres Unheil
abzuwenden -, in all diesen zivilen Angelegenheiten sind demokratische Juristen
kompetent und erfahren erfahren. Die realen mexikanischen Armen, in deren Namen
die Zapatisten angetreten sind, und die ihnen das Kanonenfutter und das künftige
Stimmvieh stellen, brauchen keinen renovierten Staat und keine "gerechte"
Marktwirtschaft, sie brauchten die weltweite Abschaffung von beiden, das wäre
dann auch die Abschaffung ihrer Armut.
Daß gescheiterte Staatssozialisten und enttäuschte Bewegungslinke
ihr Glück in den neuen ideologischen Konstellationen von Postkommunismus
und Zivilgesellschaft suchen, verwundert nicht. Bei fortwährender
Krisenhaftigkeit der internationalen Wertverwertung wird sie ihr untrügbares
Gespür für erfolgversprechende Polit-Trends noch mit ganz anderen "Herausforderungen"
konfrontieren. Verwunderlich ist eher ein anderer Umstand, der in dieser kleinen
Trauerrede nicht angesprochen wurde und vielleicht anschließend diskutiert
werden sollte. Er betrifft jene Bewegungslinken, die nach wie vor eine grundsätzliche
Feindschaft gegenüber dem Kapitalismus beanspruchern. Lesen sie eigentlich
selbst die von ihnen so oft publizierten Pamphlete der Zapatisten und die Prosa
des Subcommandante? Wenn ja, würde sich daraus ein Reihe weiterer Fragen
ergeben.
Klaus Wehmeier, Jour-Fixe-Initiative Berlin
Anmerkungen
1) Ludwig Siegele, Die "Internationale" des Internets, in: Frankfurter Rundschau 4.3.97
2) Die Kriegserklärung des EZLN. "Heute sagen wir: Es reicht!" in:Andreas Simmen (Hg.), Mexiko. Aufstand in Chiapas. Ein WOZ-Buch, Berlin-Amsterdam 1994, S. 49
3) Kriegserklärung ebenda
4) zitiert nach: Carlos Monsivais, Anmerkungen zu einem Porträt, in: Anne Huffschmid (Hg.), Subcommandante Marcos. Ein maskierter Mythos, Berlin 1995
5) Kriegserklärung ebenda
6) Kriegserklärung, S. 50. Die Formulierung "stehen zum Vaterland" scheint den Übersetzer nicht ganz befriedigt zu haben. Er fügt nämlich noch die Original-Formulierung "tenemos patria" in Anführungszeichen hinzu. Wörtlich übersetzt würde diese lauten: "Wir haben Vaterland", sind also keine "vaterlandslosen Gesellen".
7) Kriegserklärung ebenda
8) junge Welt 10.12.96
9) Gespräch mit Historiker Adolfo Gilly. Die legale
Linke hat wieder Horizont, in Simmen (Hg.), a.a.O., S. 131