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Sat Jan 25 01:52:01 1997
 

Interview aus der TAZ vom 5.6.1990 , gefuehrt mit Tupac-Amaru- Militanten Victor Polay .

"Die Gesellschaft muss vom Volk neu geschaffen werden"

Der peruanische Guerillakommandant Victor Polay spricht ueber die Strategie des "Movimento Revolucionario Tupac Amaru", ueber seinen Jugendfreund Alan Garcia, den heutigen Praesidenten Perus, und ueber die konkurrierende Guerrillaorganisation "Sendero Luminoso" / Das Interview fuehrte Nina Boschmann im Gefaengnis Canto Grande in Lima

Victor Polay Campos ist Mitglied des Zentralkomitees und Kommandant der Guerillabewegung "Movimento Revolucionario Tupac Amaru" (MRTA), die Mitte der achtzigerJahre aus MTA und MIR-IV, zwei Organisationen der radikalen Linken, hervorging. 1986/87 begann die MRTA den bewaffneten Kampf gegen die Regierung Alan Garcia. Ihre Aktionen konzentrieren sich auf die Departements San Martin, Loreto und Uyacali in der noerdlichen Amazonasregion. Die Zahl der bewaffneten Kaempfer wird auf 1.000 bis 1.500 geschaetzt.

Im Unterschied zum "Sendero Luminoso", der bekannteren Guerillaorganisation, zielen die Aktionen der MRTA nicht auf die Vernichtung der staatlichen Ordnung und staatlicher Einrichtungen. Vielmehr soll eine breite Volksfrontbewegung den Aufbau einer neuen, sozialistischen Gesellschaft ermoeglichen. Die politische Arbeit hat einen hohen Stellenwert; in der Partei UDP besitzt die MRTA ein legales politisches Sprachrohr. Bei den letzten Parlamentswahlen haben UDP-Vertreter auf der Liste der Vereinigten Linken (Izquierda Unida) kandidiert.

Victor Polay ist promovierter Jurist, er spricht fliessend franzoesisch und baskisch. Er hat in Frankreich und Spanien studiert - uebrigens gemeinsam mit Alan Garcia, mit dem er zeitweise sogar zusammenwohnte.

Ab 1987 fuehrte Polay als "Commandante Rolando" eine Reihe von Guerillaaktionen in San Martin, bis er - durch Zufall im Februar vergangenen Jahres bei einer Razzia im Touristenhotel von Huancayo verhaftet wurde.

Das folgende Gespraech wurde im Gefaengnis Canto Grande in Lima gefuehrt, das urspruenglich als Hochsicherheitsgefaengnis nach bundesdeutschem Muster konzipiert war. Doch Perus Infrastruktur zerfaellt durch Krieg und Wirtschaftskrise, und so sind auch die Knaeste nicht mehr, was sie waren: laengst sind die Trennscheiben zertruemmert, die zentrale Ueberwachungseinheit gaehnend leer und von den Besuchsbeschraenkungen ist nur noch die Einteilung in "Frauenetage" und "Maenneretage" geblieben. Die Schliesser sind im Streik, es herrscht freier Zugang von neun bis 17 Uhr. Fuer die "politischen Gefangenen" hat man getrennte Haeuser eingerichtet - je eins fuer Aktivisten von "Sendero" und MRTA. Osman Morote (ein "Sendero"-Fuehrer, der kurz nach Polay verhaftet wurde) und Polay haben "Einzelzimmer", die von innen abschliessbar sind.

Am Ende des Gespraechs geleitet Polay die Berichterstatterin als hoeflicher Gastgeber bis zur Eingangstuer des Traktes: "Wenn Sie noch mal vorbeikommen wollen - die Tuer ist immer offen!"

taz: Legen Sie Wert darauf, mit Ihrem militaerischen Rang angesprochen zu werden?

Victor Polay: Ach, Genosse ist schon o.k.

Also, Genosse Victor, koennen Sie unseren Lesern die wesentlichen Elemente der MRTA-Strategie skizzieren?

Ziel der MRTA ist es, die formale, die sogenannte repraesentative Demokratie durch die Macht des Volkes zu ersetzen. Unsere Organisation ist dreistufig: zunaechst das revolutionaere Volksheer, das aus Vollzeitsoldaten besteht; bei Bedarf wird es durch Teilzeitmilizen ergaenzt, und an der Basis, in den Doerfern, gibt es die Selbstverteidigungskomitees, deren Aufgaben ueber den militaerischen Bereich weit hinausgehen - sie sollen auch soziale, politische und juristische Konflikte loesen. Wir schaffen keine "befreiten Gebiete" im ueblichen Sinne, sondern wir unterstuetzen mit militaerischen Mitteln die Schaffung organisatorischer Basen der Volksmacht. Wenn die Guerilla dabei Erfolg hat, waechst das Vertrauen des Volkes in seine eigene Kraft. Wir wuerden zum Beispiel nie zu einem "Paro Armado", einem bewaffneten Streik aufrufen, wie das der "Leuchtende Pfad" tut. Wenn die Leute nur aus Angst vor Sanktionen zu Hause bleiben, fuehrt das nicht zur Bewusstseinsbildung - solche Praktiken schaden dem bewaffneten Kampf. Als wir im Nordosten einen Streik organisiert haben, war das ganze Volk mit uns auf den Barrikaden. Das hat die MRTA sehr gestaerkt, aber laengst nicht alle Mitglieder der Volksorganisationen dort gehoeren der MRTA an.

Warum hat die MRTA den bewaffneten Kampf gerade in der Provinz San Martin begonnen?

Die Bedingungen erschienen uns guenstig: Auf dem Land sind die Bauern hervorragend organisiert, die Gegend ist eine der stabilsten Basen der CCP (Confederacion Campesina del Peru) im ganzen Land. Und in den Staedten gibt es die "Frentes de Defensa" (eine Art Volksfront, Anm. d.Red.). 1985/86 begannen wir mit dem Aufbau des Volksheeres, 1987 fingen die Aktionen an.

Koennen Sie Beispiele nennen?

Wir haben waehrend der Kampagnen "Che Vive" und "Tupac Amaro Libertador" voruebergehend einige Provinzstaedte eingenommen, Polizeiposten angegriffen und oeffentliche Versammlungen durchgefuehrt. Die Aktionen konzentrierten sich auf Gebiete, wo das Militaer Bauern umgebracht hatte. 1987 ist es uns zum ersten Mal gelungen, eine Provinzhauptstadt einzunehmen, Juanji, mit 25.000 Einwohnern. Im selben Jahr hielten wir zwei Wochen lang das Sisa-Tal (ein Maisanbaugebiet, Anm. d.Red.) besetzt. Bei solchen Aktionen erbeuten wir Waffen, wir nehmen Polizisten fest und fuehren ein oeffentliches Anklageverfahren gegen sie durch - sie werden dann ermahnt, sich anstaendig zu benehmen und wieder freigelassen. Wir halten uns an die Genfer Konvention und respektieren die Rechte unserer Gefangenen. Aehnlich verfahren wir mit Verbrechern: im allgemeinen werden sie aufgefordert, aus der Gegend zu verschwinden; lediglich einige Vergewaltiger und Drogenhaendler haben wir sofort erschossen. Die Ausbildung unserer Truppe braucht Zeit. In den Camps haben wir eigene Schulen, in denen Theorie und Praxis des Guerillakampfs gelehrt wird.

Was lernt man als Guerillakommandant?

Im Grunde lernt man aus seinen Fehlern. In Cuczo zum Beispiel sind wir gescheitert, weil wir im Stil von Robin Hood Lebensmittel verteilt haben. Das hat uns zwar viel Applaus eingebracht, aber keine Integration in die Bevoelkerung ermoeglicht. Ausserdem gibt es ja Buecher Lateinamerika hat reichhaltige Erfahrungen mit Guerillabewegungen. Einige unserer Leute waren schon 1965 bei der Guerilla von Luis de la Puente Uceda und koennen ihr strategisches Wissen einbringen.

1985, als sie sich formierte, hat die MRTA dem gerade ernannten Praesidenten Garcia den Dialog angeboten. Was unterscheidet die damalige Situation von der heutigen?

1985 ist die Regierung durch eine beispiellose Streikwelle praktisch aus dem Amt gejagt worden. Bei den Wahlen gewannen die Linke und Alan Garcias APRA die ueberwaeltigende Mehrheit der Stimmen, und Alan Garcia versprach eine radikale Umwandlung der Gesellschaft.

Jede Avantgarde muss natuerlich Ausdruck des Volkswillens sein, also haben wir im August 1985 Verhandlungen ueber die Vermeidung eines Krieges angeboten. Aber Alan Garcia fuehlte sich damals, auf dem Hoehepunkt seiner Popularitaet, sehr stark und ignorierte unsere Initiative. Die von ihm eingesetzte Friedenskommission hatte keinerlei Befugnisse.

1986 gab es das beruehmte Treffen der sozialistischen Internationale und das Massaker in den Knaesten - daraufhin war natuerlich auch bei uns die Tuer zu.(Das Militaer erhielt von Garcia die Vollmacht, einen Gefaengnisaufstand gewaltsam zu beenden; dem Massaker fielen mehrere hundert Gefangene zum Opfer, Anm. d.Red.).

Sie waren mit Alan Garcia frueher befreundet...

Nun, wenn man in bestimmte Familien hineingeboren wird, kommt man automatisch in die APRA. Alan Garcia kam aus einer APRA-Familie und ich auch. Als Mitglieder der APRA -Jugendorganisation haben wir beide 1970 bewaffnete Aktionen gegen die Militaerregierung Velasco durchgefuehrt. Ich wurde 1972 verhaftet, spaeter aber wieder freigelassen. In Spanien und Frankreich haben wir uns dann als Studenten wiedergetroffen; meine Beziehung zu Alan Garcia war herzlich, aber nicht mehr politisch, weil ich mittlerweile beim MIR war. Heute bezeichnet mich Alan Garcia als stinknormalen Verbrecher.

Was ist Ihr politisches Urteil ueber die fuenf Jahre APRA -Regierung, die nun zu Ende gehen?

Die APRA war immer antioligarchisch und antifeudal orientiert. Aber das Land hat sich veraendert. Peru ist nicht mehr halbfeudal, sondern abhaengig kapitalistisch. Es gibt eine Bourgeoisie, die die Interessen des Imperialismus vertritt. Diese Leute sind zwar weder Nationalisten noch an der Entwicklung des Landes interessiert, aber es sind auch keine feudalen Grossgrundbesitzer mehr. Die Arbeiterklasse ist quantitativ enorm gewachsen, man braucht also antikapitalistische Elemente in der Theorie, die die APRA nicht hat. Sie ist ideologisch rueckstaendig.

Alan Garcia hatte kein Konzept fuer die Umwandlung der Gesellschaft. Er hielt radikale Reden, bezahlte aber die Auslandsschuld weiter. Wie kann man den Imperialismus bekaempfen, ohne der abhaengigen Bourgeoisie an den Kragen zu gehen?

Der entscheidende Faktor in den vergangenen fuenf Jahren war jedoch der schmutzige Krieg mit den Tausenden Toten und Verschwundenen. Es gab und gibt keine Mechanismen der nationalen Konsensbildung, wie sie in Europa grosso modo doch gegeben ist.

Ungefaehr das gleiche sagt die legale Linke auch...

Die legale Linke ist zahm geworden, fuer sie ist die Teilnahme an den Wahlen keine strategische Ueberlegung, sondern ein Ziel an sich. Und es handelt sich um Wahlen, aus denen Regierungen hervorgehen, die den schmutzigen Krieg zu verantworten haben. Man muss das ganz klar sagen: der schmutzige Krieg in seinen jetzigen Ausmassen hat erst mit den demokratisch gewaehlten Regierungen von Belaunde und Garcia nach 1980 begonnen.

Welche Alternativen gibt es?

Das Gesellschaftsmodell muss vom Volk neu geschaffen werden

-von der Basis her. In jedem Betrieb, in jeder Schule muss es Mechanismen der direkten Kontrolle durch das Volk geben. Die Monopole muessen in Volkseigentum uebergehen. Damit ist nicht Staatseigentum gemeint - Oeffentliche Betriebe sind von der jeweiligen Regierung abhaengig, und damit sind der Buerokratisierung und Klientelwirtschaft Tuer und Tor geoeffnet. Und auch durch die Wiederbelebung von Kultur und Gebraeuchen entsteht eine neue Identitaet des Landes.

Welche Bedeutung haben die Ereignisse in Osteuropa fuer die MRTA?

Das ist wertvolles Anschauungsmaterial, zum Beispiel was die Frage der Buerokratisierung der Gesellschaft und die Privilegierung einer Partei angeht. Die UdSSR hat ohne Zweifel auch den Comecon funktionalisiert, was zu verzerrten Strukturen fuehrte. Aber eine Revolution kann man nicht exportieren, sie muss ueberall vom Volk neu geschaffen werden.

Welche Rolle spielt dabei nach Ihrer Meinung der Sendero Luminoso?

Sendero ist dogmatisch stalinistisch. In seinen Debatten ist nicht der geringste Fortschritt zu verzeichnen. Und der Mangel an Theorie geht einher mit einer diktatorischen, terroristischen militaristischen Praxis, die sich in vielen Faellen gegen das Volk selbst richtet.

Sendero repraesentiert die marginalisierten, zurueckgebliebensten Sektoren der Gesellschaft, waehrend die Linke eher in den organisierten Bereichen vertreten ist.

Sendero-Fuehrer Osman Morote sitzt ja nun sozusagen nebenan

-diskutieren Sie miteinander?

Nein, Sie wissen doch, Sendero diskutiert nicht.