Absender : MARC.NEUMANN@LINK-AK.cl.sub.de (Marc Neumann) Betreff : Tierschutzdebatte Datum : Di 16.05.95, 23:00 (erhalten: 20.05.95)
In der Stadt hat sich eine Kontroverse um Äußerungen und Positionen der Siegener Gruppe von "animal peace" entwickelt. Anstoß dafür waren der Beitrag "Der Krieg gegen die Tiere" und unsere Erwiderung "Ich und Du und Hund und Katzi - jeder Fleischesser ein Nazi?" in der 1.-Mai-Zeitung.
Für uns war Vorbedingung für die Beteiligung von "animal peace" am roten 1. Mai, daß sich die Gruppe von ihrem Artikel distanziert, jedenfalls von ihrem KZ-Vergleich und von ihrer Gleichsetzung des "Speziezismus" mit Sexismus und Rassismus. Damit wollten wir auch verhindern, daß an einem etwaigen Tierschutzstand bei der Maifeier wieder ähnliches oder schlimmeres Material unters Volk kommt. In der Abstimmung über diese Fragen sind wir unterlegen. Die Debatte insgesamt soll jedoch weitergeführt werden, durch diesen Beitrag und im Rahmen einer Diskussionsveranstaltung. Die Auseinandersetzung ist deshalb wichtig, weil Veganismus wieder mal in Mode ist, weil sich einige Organisationen und Personen, die alles andere als links sind, mit einem revolutionären Touch umgeben und weil von wieder anderen die Linke aufgefordert wird, sich zu ihren Positionen zu verhalten;(1) anekdotenhaft: "Die Diskussion um Veganismus scheint sich als neuer Spaltpilz in der Linken festzusetzen (Ich wäre beinahe im Dortmunder Infoladen an die Luft gesetzt worden, weil ich nach Milch für meinen Kaffee fragte)."(2) Ganz ähnliche Debatten wie hier in Siegen finden auch in Bremen, Berlin, im Ruhrgebiet und in Ostwestfalen statt.
Bei aller Kritik: Es gibt akzeptable Gründe für eine fleischfreie Lebensweise. Diese können im individuellen Bereich liegen, sprich: Mitleid mit Tieren, Abscheu in Bezug auf das Schlachten. Und es gibt auch politische Begründungen dafür, warum Fleischessen falsch ist. Letztere müßten sich auf die bestehenden Produktions- und Ausbeutungsverhältnisse beziehen; man würde dann feststellen, daß die potentielle Welternährungslage besser aussähe, wenn die Menschheit sich pflanzlich oder vorwiegend pflanzlich ernährte und wenn es eine andere, nämlich nichtkapitalistische, Wirtschaftsweise gäbe. Richtig ist, daß gegenwärtig Fleischproduktion und -konsumtion Bestandteile der Ausbeutung des Trikont sind. Die individuelle Weigerung, Fleisch zu essen, wird aber niemals die herrschenden Verhältnisse verändern. Das moralinsaure Einfordern veganer Ernährungsweise und die Tatsache, daß die gegenwärtige aus-dem-BauchArgumentation zur Ideologie hochstilisiert wird, sind also abzulehnen. Es sollte selbstverständlich sein, daß unnötige Tierquälerei zu bekämpfen ist, beispielsweise Massentierhaltung, bestimmte Tierversuche, bestimmte Formen von (Haus-)Tierhaltung. Auch hier gehen wir aber davon aus, daß Tierquälerei bestenfalls ein Nebenwiderspruch ist. Wer wollte es im Kapitalismus Pharma- und Kosmetikunternehmen verdenken, mit tausenden überflüssigen Produkten Geld zu machen?
Ich versuche nicht, Affinitäten zwischen der Weltsicht von "animal peace" und faschistischen Denkmodellen zu konstruieren. Gleichwohl: Teile der Tierschutzszene gehören zum alten und neuen braunen Sumpf - als prominentes Beispiel sehe man sich die Thesen von Peter Singer an, von dem bei "animal peace" gerne kräftig abgekupfert wird.(3) Deshalb ist zumindest Vorsicht geboten.
Während unsere Erwiderung in der 1.-Mai-Zeitung im wesentlichen eine Kritik am Abdruck des Artikels darstellt, versuche ich im folgenden einige nähere Betrachtungen zum tierschützenden Weltbild anzustellen.
Einzelne Passagen des kritisierten Artikels finden wir in einem Flugblatt des "animal peace"-Bundesverbands(4) wörtlich wieder. Dieses führt weiter die Begriffe "Genozid" und "Massenvernichtungslager" ein. In weiteren Flugblättern und "ap"-Mitgliederzeitschriften lese ich u. a. folgende Passagen:
Zur Dressur in Zirkussen: "Nach dem Motto 'Arbeit macht frei' gibt es noch die Dressur, als Grundlage der 'Kunststücke', die vorgeführt werden - denn von allein kommt kein Tier auf die Idee Kopfzustehen. [...] Es ist unverantwortlich, gerade Kindern die vergewaltigten Kreaturen der Wildbahn zu präsentieren [...]"(5) In einem Flugblatt zur veganen Lebensweise: "[...] enden auch sie auf den Förderbändern der Massenvernichtung und als Suppenhühner und Hackbraten"(6) (alle Hervorhebungen von mir). Von "Hühner[n] in KZ-Anlagen"(7) spricht folgerichtig ein anderes Flugblatt.
Ich wiederhole die Position, daß der Holocaust (hebräisch: Shoah) ein bis heute singuläres Ereignis ist. Der Vergleich der Verbrechen des NaziRegimes mit der Haltung und Tötung von Tieren ist geeignet, den Holocaust zu relativieren und zu verharmlosen, etwa vergleichbar mit dem sogenannten Historikerstreit.(8) Und das von einer Vereinigung, die den Appell "Kontrolliere Deine Sprache!"(9) an ihre AktivistInnen richtet und gegen die Verwendung von Tiermetaphern für menschliches Verhalten eintritt?
Das hier sichtbare Weltbild ist eines, das eine Abkehr vom Anthropozentrismus und gleiche Rechte für Tiere fordert sowie z. B. in der Tatsache des Fleischkonsums eine Unterdrückung bestimmter Spezies sieht. Hierfür wird der Terminus "Speziezismus" eingeführt, ein Ausdruck, der auf Peter Singer bzw. Richard Ryder zurückgeht.(10) Eine solche Sichtweise, die den Menschen als Tier neben anderen betrachtet, blendet aus, daß es Merkmale gibt, die den Menschen von allen anderen Lebewesen qualitativ unterscheiden. Friedrich Engels zählt zu diesen Merkmalen das Freiwerden der Hand, die Arbeit, die Entwicklung von Sprache, die Fortbildung der Sinnesorgane, die Entstehung der Gesellschaft und deren Weiterentwicklung durch Fleischkost und durch die Dienstbarmachung des Feuers, die Zähmung von Tieren etc.(11)
"animal peace" behauptet, Tiere hätten Interessen, beispielsweise den Wunsch nach Leben, Freiheit und Abwesenheit von Leiden: "Menschen und Tiere sind empfindende Lebewesen. Beide fühlen Freude und Angst, Lust und Unlust. Beide bilden soziale Gemeinschaften, führen Beziehungen, trauern um Verstorbene... Und beide haben das Interesse ein würdiges Leben in Freiheit zu führen. [...] Wir kämpfen für Menschenrechte, doch wie steht es mit den Rechten für Tiere?".(12) Es werden hier also intersubjektive Rechte für Tiere eingefordert. In letzter Konsequenz würde die Ausstattung von Tieren mit einem absoluten Recht auf Leben einerseits bedeuten, daß es keine legitimen Tötungen mehr geben kann.
Exemplarisch frage ich, was der Mensch dann mit Ratten- oder Heuschreckenplagen veranstalten soll, wie es mit der Tötung von Tieren zur Gewinnung lebensnotwendiger Medikamente für Menschen aussieht (Insulin) und schließlich, ob eine mäusefressende Katze wegen Totschlags vor Gericht gestellt und ihr Vergehen mit Freiheitsentzug (im Zoo?) geahndet werden muß. Nota bene: Die Diskussion, ob Tieren eine Stellung als Rechtssubjekt eingeräumt werden soll, wurde bereits unter NS-Juristen geführt, in der Zeitschrift "Deutsche Justiz" im Jahre 1936, S. 230 f.(13) Eine weitere Verquickung, die uns sauer aufstößt, liefert der Münchener Philosophieprofessor Robert Spaemann: "Sind wir wirklich bereit, jeden Preis für unsere Gesundheit zu zahlen, auch den unserer Menschenwürde? Sogar wenn Tierversuche den Nutzen hätten, den ihnen ihre Propagandisten zuschreiben, müßten wir uns nicht weigern, diesen Preis zu zahlen? ... Sterben müssen wir schließlich alle, und wer um jeden Preis zu leben wünscht, gerade dessen Leben ist nicht jeden Preis wert."(14)
Spaemann spricht weiterhin den Nutzen der "Apparatemedizin" für die Menschheit an, und hier schließt sich der Bogen zu Peter Singer, australischer Philosoph und "Vater der Tierrechtsbewegung". In seinem Buch "Praktische Ethik" propagiert er die Relativierung des menschlichen Lebens und fordert ein "Recht auf Tötung" für "leidende Menschen". Die als "schwerstbehindert" geltenden Menschen sind für Singer der verhaltensbiologisch-neodarwinistisch untermauert "Beweis", daß die Grenze zu den Tieren hin aufgelöst werden muß; ein einzelner Schimpanse könne nämlich weit mehr als ein "schwerbehindertes" Kind. Oberstes Interesse von Mensch und Tier sei die Vermeidung von Schmerzen, so daß mit derselben "Ethik" die "Befreiung der Tiere" (NY 1975) und die "Erlösung vom Leiden" für "Schwerstbehinderte" gefordert werden kann.(15) Singer wird fast wörtlich in der 1.-Mai-Zeitung zitiert - diese Passage kommt einem bekannt vor: "The racist violates the principle of equality by giving greater weight to the interests of members of his own race, when there is a clash between their interests and the interests of those of another race. Similarly the speciecist allows the interests of his own species to override the greater interests of members of other species. The pattern is the same in each case. Most human beings are speciecists."(16)
"animal peace" verbirgt die Nähe zu Peter Singer auch gar nicht. In der Mitgliederzeitschrift "Recht für Tiere"(17) wird nicht nur für selbstproduzierte Aufkleber und T-Shirts geworben, sondern auch für Singers Buch "Menschenrechte für Menschenaffen": "Das 'Great Ape Project', das revolutionäre Projekt von Wissenschaftlern, die Menschenrechte für Menschenaffen erstreiten wollen, hat international für Aufsehen gesorgt."
In der vorherigen Ausgabe derselben Zeitschrift lesen wir unter der Überschrift "Anschlag auf EMMA - Rehabilitationsversuch von Peter Singer kostet Frauenmagazin 150000 Mark Sachschaden":(18) "Anlaß für den Überfall war u. a. ein Artikel über den Euthanasietheoretiker und Philosophen Peter Singer, der die Frage stellte, ob es nicht besser sei, schwerstbehinderte Neugeborene, die ohne Apparatemedizin nicht lebensfähig sind, aktiv zu töten anstatt - wie sonst üblich - unbehandelt qualvoll sterben zu lassen. EMMA hatte in zwei Artikeln die Thesen von Singer besprochen und versucht, die Diskussion um die Thesen des australischen Philosophen zu versachlichen." Man fordert also ein Lebensrecht für Tiere und "versachlicht" gleichzeitig die Diskussion um die Tötung "unwerten Lebens".
Bremer GenossInnen - in Bremen hat sich die Situation insofern zugespitzt, daß kleine Fleischereien tätlich angegriffen wurden - kommen zu diesem Schluß: "Wir wissen, daß die hier dargestellte Ideologie nur eine Ausdrucksweise der Idee vom tierproduktfreien Leben ist, verlangen aber von allen anderen Strömungen, daß sie sich von den Ideen eines Peter Singer distanzieren, daß sie selbstkritisch glaubhaft machen, daß sie ein Teil der linken Bewegung sind."(19) Ähnliches gilt auch für "animal peace" und für den Umgang mit dieser Gruppierung in Siegen. Die Linke sollte sehr genau darauf achten, welche Ideologien sich hier unter dem Deckmantel von Tier- oder Umweltschutz einschleichen - und sie sollte die erforderlichen Konsequenzen ziehen.
Marc.
_Anmerkungen_ 1 "triple oppression plus" oder "unity of oppression", vgl. Interim 320, S. 24; siehe auch Autonomiekongreß 1995, hier u. a. den Vorbereitungsreader und die Kongreßzeitungen 2 Jürgen Kellermann, aus: CL-Netz, /CL/ANTIFA/NEUE_RECHTE 3 s. Siegfried Jäger, Paul Jobst: Von Menschen und Schweinen. Der Singer-Diskurs und seine Funktion für den Neo-Rassismus, Duisburg 1992(2) 4 Animal Peace - eine Philosophie, Flugblatt, Windeck, ohne Datum, verantwortlich: Bundesverband 5 Animal Peace - Contra Tiere im Zirkus, Flugblatt, Windeck, ohne Datum, verantwortlich: Bundesverband 6 Fakten: Warum vegan? Flugblatt, Windeck, ohne Datum, verantwortlich: Bundesverband 7 "...aber Du schlägst doch auch Fliegen tot...?!", Flugblatt, Windeck, ohne Datum, verantwortlich: Bundesverband 8 vgl. auch Jäger/Jobst, a. a. O., S. 9 9 Kontrolliere Deine Sprache! Flugblatt, Windeck, ohne Datum, verantwortlich: Bundesverband 10 Peter Singer (Editor): Applied Ethics, New York 1986, S. 222 11 vgl. Friedrich Engels, Anteil der Arbeit an der Menschwerdung des Affen, ferner Engels, MEW 20, S. 311-327 12 Der Krieg gegen die Tiere, in: 1.-Mai-Zeitung, Siegen 1995, S. 23f. 13 zit nach: Ideologie und Programm der ÖDP; Menschenverachtend, frauenfeindlich, gegen Arbeiterinteressen; Beiträge zur Kritik des Ökologismus, Antifa-Gruppe Freiburg/Volksfront gegen Reaktion, Faschismus und Krieg Freiburg (Hg.), Freiburg 1989, S. 47 14 zit. nach Ideologie und Programm der ÖDP, ebd., S. 51 15 nach: Antifaschistisches Komitee Bremen, Lebensschützer mit Tarnkappen, Interim Nr. 317, S. 19 16 Singer, a. a. O., S. 222 17 Nr. 2 (eigentlich: Nr. 3), Herbst 1994 18 "Recht für Tiere" Nr. 2, Sommer 1994 19 Lebensschützer mit Tarnkappen, a. a. O.