Absender : fmoeller@atair.comlink.de (Frank Moeller)
Betreff : Siemens im Netz
Datum : Di 11.04.95, 20:48 (erhalten: 15.04.95)
Land ohne Visionen?
Wie Siemens-Manager Dr. Helmut Volkmann mit Wissensstädten unsere
Zukunftswünsche rauskitzeln will.
Zusammenfassung und Kommentierung eines Vortrags vor Datenschutz-
experten in Kiel am 3. April 1995: Wissensstädte für eine neue
Industriepolitik - Menschen Visionen vermitteln - Akzeptanzpro-
bleme wie bei Kernenergie - Datenschutz kein Thema - Spaltung der
Gesellschaft gleichgültig.
Erscheint in cl.technik.folgen
z-netz.datenschutz.allgemein
de.soc.politik
Demnächst in http://atlas.jura2.uni-hamburg.de/~fmoeller
Frank Möller
Land ohne Visionen?
Wie Siemens-Manager Dr. Helmut Volkmann mit Wissensstädten unsere
Zukunftswünsche rauskitzeln will.
Ein Vortrag am 3. April 1995 gespiegelt von Frank Möller
I believe, that this nation should
commit itself achieving a goal of
landing a man on the moon and
returning him safely to the earth.
John F. Kennedy
Er frage sich immer, was denn die Daten machen, wenn sie die
Datenautobahn verlassen, leitete Dr. Helmut Volkmann seinen
Vortrag vor Datenschutzexperten in Kiel ein. Das Verlegen von
Glasfaserkabeln allein werde nicht ausreichen, um eine tragfähige
und längerfristige Basis für die Sicherung unserer materiellen
Zukunft zu bilden. Eine Industriegesellschaft, die konkurrenzfä-
hig bleiben wolle, greife mit der bloßen Propagierung schon
bekannter Technologien zu kurz.
Uns fehle es derzeit an Utopien, an Visionen für die Zukunft. Wir
müssen das Wünschen wieder lernen! Wir müssen etwas finden,
worauf wir uns freuen können, wie seinerzeit als Kinder auf den
Weihnachtsmann. Als Ordnungskriterium für ein noch zu findendes
Leitbild sieht Volkmann, der bei Siemens als Hausphilosoph,
Querdenker und Zukunftsprognostiker gilt, die "Lebens- und Pro-
blembereiche der Menschen". Um ein Mittel zur Findung von
Leitbildern zu entwickeln, orientiert sich Volkmann an der
Metapher von der "Wissensstadt". Er nennt diese von ihm entwor-
fene Stadt "Xenia", griechisch "die Gastliche".
Diese Verwendung von Städtebildern als Metapher habe Tradition.
Überhaupt sollte die Informationstechnik mehr als bisher von den
Architekten lernen. Volkmann zeigte Bilder von Harmonielehren,
die sich in Darstellungen von Gebäuden manifestieren, wie etwa
bei Atanasius Kircher. Auf der Gegenseite dieser Vollkommenheit
stehe "die Hure Babylon" mit ihrem Turmbau, der bekanntlich im
Chaos ende. Diese Gefahr, so Helmut Volkmann, drohe möglicher-
weise auch beim Bau von neuen Kommunikationstechniken. So habe
auch er bei der Anreise mit der Bahn den derzeit durch die
Einführung eines elektronischen Stellwerks (der Firma Siemens)
arg gebeutelten Bahnhof Hamburg-Altona passieren müssen...
Bevor Volkmann die Vision seiner Wissensstädte eingehender erläu-
terte, ging er auf den Zusammenhang ein, in dem er sie sieht. Ihm
gehe es nicht um kurzfristige Konjunkturbelebungen, sondern um
den grundlegenden technologischen Wandel, den die Wirtschaftswis-
senschaft mit Hilfe der sog. Kondratieff-Wellen beschreibt. Diese
markieren etwa alle 50 bis 60 Jahre einen breiten Konjunk-
turaufschwung durch die Umsetzung jeweils neuer Schlüsseltechno-
logien. Im Laufe der aus der Geschichte der Industriegesellschaf-
ten bekannten Zyklen setzten sich Techniken durch, die zunächst
dazu dienten, die Arbeit zu erleichtern (Dampfmaschine). Ein
weiterer Schritt lag im großangelegten und weiträumigen Verfüg-
barmachen von Ressourcen (Eisenbahn). Anschließend entwickelte
sich moderne Urbanität, möglich gemacht durch die Elektrizität.
Derzeit stehen wir am Ende eines Zyklus, der uns mit dem
Automobil eine massive Ausweitung der Mobilität von Menschen
beschert habe.
Keine Industrienation könne sich leisten, eine solche, groß-
angelegte Welle zu verpassen. Denn die Zyklen kommen und vollzie-
hen sich keineswegs automatisch. Vielmehr müssen sich mehrere
Faktoren zu einer Konstellation fügen: Da ist zunächst das
unternehmerische Handeln, das die Bedeutung einer massiven Inve-
stition in den neuen Zyklus erkennen muß, statt weiter nur die
etablierten und bekannten Techniken auszureizen. Erfolg könne
dies aber nur bringen, wenn gleichzeitig die Masse von einer
großen Aufbruchstimmung erfaßt sei, wenn die Menschen also von
einem neuen Trend positive Wirkungen auf ihr eigenes Leben
erwarten. Dies sei beispielsweise bei Telefon, Automobil und dem
Computer der Fall gewesen.
Derzeit sei besonders die zweite Voraussetzung, also die Auf-
bruchstimmung, nicht recht erkennbar. Wie lassen sich Computer-
netze und deren Anwendungen für die kommenden 20 bis 25 Jahre zu
einem positiven Leitbild formen? Auf Netze wird es jedenfalls
hinauslaufen, da Netze zuvor schon in allen technischen Entwick-
lungswellen eine zentrale Rolle gespielt haben: Handelsnetze,
Verkehrsnetze, Energieversorgungsnetze und schließlich Kommunika-
tionsnetze. Die Datenautobahn als solche sei eigentlich nur die
Extrapolation von etwas Bekanntem, das einer der Erfinder des
Telefons bereits im 19. Jahrhundert formuliert habe: Jeder
Amerikaner solle jederzeit mit jedem anderen Amerikaner eine
Sprechverbindung aufnehmen können.
Entscheidend, so Volkmann, sei jedoch nicht das Vorhandensein
eines Netzes, sondern der Wandel der gesamten Lebens- und
Wirtschaftsweise in Folge der jeweiligen Technik. Somit trägt das
Investieren in die Datenautobahn allein nicht weit. Es komme
vielmehr auf diejenigen Bedürfnisse an, die in der Folge entste-
hen. Volkmann ist der Überzeugung, daß sich diese Bedürfnisse
schon heute umschreiben lassen. Es gehe darum, "Probleme der
Mitwelt durch 'Informationsanlagen' zu lösen". Die rein techni-
schen Voraussetzungen dafür seien längst gegeben; woran es fehle,
seien jene legendären Erfinder-Unternehmer, die im breiten Kon-
text handeln, und attraktive Anwendungen umsetzen und propagie-
ren. Für Amerika könne dies zur Zeit der Gründer der Firma
Microsoft, Bill Gates, in Anspruch nehmen. Es müssen jedoch -
darauf legte Volkmann Wert - nicht unbedingt einzelne sein, die
erfolgreich sind. Möglicherweise werden kleine Teams immer mehr
an Bedeutung gewinnen.
Aber es mangele nicht nur an solchen Personen oder Teams.
Vielmehr fehle es uns allen an Leitbildern und Visionen, wie sie
andere Generationen beflügelt haben. Als Beispiel nannte Volkmann
das seinerzeit vom amerikanischen Präsidenten John F. Kennedy
verkündete Ziel, einen Mann auf den Mond zu schicken, und ihn
sicher auf die Erde zurück zu bringen (ohne die zweite Vorgabe,
so Volkmann, hätte man die Aufgabe wesentlich einfacher bewerk-
stelligen können). Ein anderes Ziel dieser Zeit sei die Schaffung
der autogerechten Stadt gewesen. Dieses Beispiel allerdings zeige
heute, daß Leitbilder auch unvorhergesehene, negative Folgen
haben können. Insofern erweisen sich Leitbilder, so räumte
Volkmann ein, manchmal als problematisch.
Ein weiteres gewichtiges Problem unserer Industrie sei die
ständige Produktion von "Schrankware", wie Volkmann es nennt.
Jedes Großunternehmen arbeite an seinen eigenen Standards für
neue Produkte, um schließlich zu erkennen, daß ein anderer
Standard das Rennen mache. Bestes Beispiel seien die unterschied-
lichen Video-Systeme, von denen mehrere inzwischen vom Markt
verschwunden sind. In anderen Fällen kommen fertig entwickelte
Produkte gar nicht erst auf den Markt, weil sich andere zwischen-
zeitlich bereits etabliert haben.
Hier nun könnte Xenia als Wissensstadt Abhilfe schaffen. Wo
Institutionen bisher isoliert arbeiten und sich gegenseitig
mißtrauisch beäugen, sollten diese zukünftig ihr Wissen offenle-
gen und ständig untereinander austauschen. Dies könnte in
"Städten des Wissens als Stätten der Begegnung" geschehen. Sie
sollen aus Teilsystemen (Stadtvierteln) bestehen, die Volkmann
mit Begriffen wie "Inszenierung", "Kontext" oder "Führung" um-
schreibt. Zentrales Merkmal dieser Stadtviertel ist, daß sie
unablässig miteinander in Kontakt bleiben müssen, wenn sie
Zukunftschancen eröffnen sollen. Viele Probleme könnten auf diese
Weise schon im Vorfeld von gesellschaftsumgreifenden Großprojek-
ten gelöst werden. Der Vorteil einer technischen Realisierung von
Wissensstädten würde darin liegen, daß nicht alle Beteiligten an
einem einzigen Ort präsent sein müßten. Genausogut könnte die
Wissensstadt aber auch ganz konventionell mit Hilfe einiger
Tische und Stühle, z.B. in einer ausgedienten Fabrikhalle errich-
tet werden oder auf einem Messestand. Wichtig ist nur, die
"Komplexität der Kommunikationssituation zu erhöhen".
Volkmann fürchtet die "Bedenkenträger", die davor warnen werden,
daß mit der ganzen Information irgendwann nicht mehr umzugehen
sei. Es ist nicht unwahrscheinlich, daß sich mit kommenden
Informationstechniken Akzeptanzprobleme nach dem Muster der Kern-
energie zeigen werden. Um dem vorzubeugen, bedürfe es gewaltiger
Bildungsanstrengungen. Unser derzeitiges System sei reformbedürf-
tig. Es müsse die vorhandene Trennung von Geist und Technik
aufgehoben werden. Es wäre wünschenswert, wenn gerade auch
Manager lernen würden, die Welt auch im Detail zu entdecken - wie
Kinder in einem großen Bilderbuch -, um kleine Ansätze von Trends
zu entdecken. Dazu gehöre weiterhin, die Kulturschaffenden zu
fördern, weil gerade sie ein feines Gespür für das Neue besitzen.
In diesem Zusammenhang sei die derzeitige Zusammenstreichung der
öffentlichen Kulturetats ein Skandal.
Zu Volkmanns Programm gehört, auf die geplante Superausstellung
"Expo 2000" hinzuweisen. Sie erscheine ihm als ganz große Chance
für Deutschland. Noch Jahrzehnte später, so Volkmann, könnte
möglicherweise in aller Welt davon gesprochen werden, wie von
dieser Expo 2000 ein neues Zeitalter ausgegangen sei. Aber schon
jetzt bieten auch andere Ausstellungen die Möglichkeit,
"semantische Verknüpfungen" zu schaffen, sozusagen die Schaufen-
ster der Zukunft zu dekorieren, um die Neugier der Menschen auf
eine neue Zeit zu wecken.
Aus der Diskussion
Wissensstädte wie Xenia werden, so ein Zuhörer, die größten
bisher bekannten Zusammenballungen mit städtischem Charakter
sein, möglicherweise eine einzige globale Stadt. Nun wisse man
von realen Riesenstädten, daß sich um sie herum Ringe von
Wellblechhütten, die sog. Favelas, bilden. Wie nun werden die
Elendsviertel der Wissensstädte aussehen? - Helmut Volkmann wich
der Frage aus. Er verneinte das Entstehen einer einzigen Wissens-
stadt. Vielmehr werden sich mehrere Städte bilden, die miteinan-
der in Konkurrenz stehen und gegebenenfalls auch eingehen können;
sie werden bestehen oder nicht existieren.
Auf das anhaltend hohe Rationalisierungspotential der Rech-
nertechnik angesprochen - genannt wurde das Beispiel der kürzlich
vorgestellten virtuellen Fernsehstudios, die zahllose Bühnen- und
Studiohandwerker arbeitslos machen wird -, räumte Volkmann ein,
daß dies der Fall sei. Genau aus diesem Grunde aber komme es auf
die Schaffung neuer Produkte an, die entsprechend neue Arbeits-
plätze schaffen. Volkmann wies eindringlich auf die Exportabhän-
gigkeit der deutschen Wirtschaft hin.
Ein weiterer Zuhörer wollte wissen, wie man auf den Posten eines
Querdenkers bei Siemens oder anderen Firmen kommen könne, ob man
sich für diesen Posten bewerben könne. Volkmann beschrieb seine
Position als die eines Außenseiters. Er habe sich diese Nische
Kraft Reputation schaffen können und erfahre eigentlich nur eine
Duldung. Ohne seine 30jährige Tätigkeit bei Siemens hätte er
diese Aufgabe nicht bekommen. Außerdem sei es nicht so, daß er
sich ausschließlich mit dem Nachdenken über die Zukunft beschäf-
tigen könne. Vielmehr werde er auch zu vielen anderen Tätigkeiten
gedrängt, etwa als Redner oder Moderator auf Tagungen oder
Ausstellungen zu wirken. Zu den ganz wenigen Querdenkern anderer
Großunternehmen habe er zum Teil gute Kontakte. Ob die Konzern-
leitung dies mit großem Argwohn betrachtet, wisse er nicht.
Mit dem Thema Datenschutz, so Volkmann auf eine weitere Frage,
habe er sich bisher wenig beschäftigt. Er kenne kaum mehr als den
Begriff. Er schloß sich aber dem Gedanken an, wonach Datenschutz
etwas mit Systemgestaltung zu tun habe und schon im Vorfeld
beachtet werden müsse. Somit würden Datenschutzbeauftragte in
Wissensstädten zweifellos eine wichtige Aufgabe haben. Dies werde
jedoch in vielen Unternehmensleitungen derzeit ganz anders gese-
hen.
Weitere Fragen bezogen sich auf Seminare, die Volkmann mit
Mitarbeitern durchgeführt habe, um mit Gruppenspielen und Zettel-
Brettern neue Lösungen für vorgegebene Probleme zu suchen. Er
nahm in diesem Zusammenhang den Begriff des "Mediators", nach dem
ein Zuhörer fragte, gern auf. Es fehle uns in der Tat an
Personen, die Menschen zur Zusammenarbeit animieren. Einen Zuhö-
rer erinnerten Volkmanns Problemlösungsansätze an die
"Zukunftswerkstätten", die innerhalb der Alternativszene entstan-
den seien und mit dem Namen des kürzlich verstorbenen Publizisten
und Zukunftsforschers Robert Jungk verbunden seien. Insofern
übernehme die Industrie also Konzepte, die an ganz anderer Stelle
entstanden seien. Volkmann widersprach dem in zweierlei Hinsicht.
Zum einen kämen die Konzepte der Zukunftswerkstätten nicht von
den Alternativen sondern aus der amerikanischen Forschung zur
Gruppendynamik aus den sechziger Jahren. Weiterhin machten die
Zukunftswerkstätten den Fehler, das für die Lösung gesellschaft-
licher Probleme so wichtige "Establishment", also die Manager,
auszuschließen. Somit könne es leider keine Umsetzung ihrer Ideen
geben.
Auf die Frage, ob nicht in Japan die Zusammenarbeit zwischen
Politik und Konzernen traditionell besser sei und auch ohne
"Wissensstädte" funktioniere, zeigte sich Volkmann eher wenig
informiert.
Fazit
Der "Hausphilosoph" des Elektro(nik)-Giganten Siemens tritt für
eine neue Industriepolitik ein, die führende Kräfte in der
Gesellschaft verstärkt zusammenführen soll, um wirtschaftliche
Entwicklungen besser zu planen. Wenn die bisher für sich arbei-
tenden Institutionen untereinander Kontakt aufnehmen würden und
ihr Wissen in einer Wissensstadt anbieten würden, könnte die
Zukunft unserer Industriegesellschaft gesichert werden. Dazu
bedarf es zusätzlich neuer Visionen und Leitbilder, die erst noch
gefunden werden müssen. Auch und besonders dazu müßten die
Wissensstadte dienen, also um die Menschen zur Artikulation ihrer
Wünsche zu bewegen. Daß das "unternehmerische Programm" innerhalb
der Wissensstadt mehr oder weniger im Mittelpunkt steht, ist
selbstverständlich.
Über den Datenschutz und das Persönlichkeitsrecht hat sich der
Manager Volkmann bisher wenig informiert. Auch gelang es dem
Publikum aus Datenschutzexperten kaum, einen Ansatzpunkt für ihre
Thematik zu finden. Dabei liegt eigentlich auf der Hand, daß bei
computertechnisch vermittelter Kommunikation zahlreiche prozeß-
produzierte Daten anfallen und somit Datenschatten und Persön-
lichkeitsprofile möglich werden. Möglicherweise zeigt das Außen-
vorbleiben der Datenschutzproblematik andererseits, daß die kom-
mende Kondratieff-Welle nicht unbedingt auf Systemen basieren
muß, die personenbezogene Daten abwerfen. Das erscheint unwahr-
scheinlich. Vielleicht betont Helmut Volkmann die durchaus auch
nicht-technische Umsetzbarkeit seiner Wissensstadt, um gerade von
einer technischen Diskussion abzulenken. Eine solche würde näm-
lich zwangsläufig zu Fragen des Persönlichkeitsschutzes führen.
Und die zur Schaffung von Visionen erdachte Wissensstadt "Xenia",
vor allem aber die kommende Technik-Welle: sie müssen technisch
sein, denn sonst könnte Siemens keine Produkte verkaufen.
Daß Helmut Volkmann in seinem Unternehmen als weitgehend freige-
stellter Zukunftsforscher und Visionär möglich ist, zeigt deut-
lich, wie sehr sich die deutsche (und mit ihr wohl die euro-
päische) Industrie in einer Sinnkrise befindet. Gerade die
Großtechnik-Produzenten sind ein Barometer für das Fehlen von
breit angelegten Zukunftsträumen und -plänen in unserer Gesell-
schaft. Wahrscheinlich ist das kritische Bewußtsein der Menschen
so sehr gewachsen, daß sich Visionen einfach nicht mehr propagie-
ren lassen. So ist ja die Absurdität des Mondflugs längst sprich-
wörtlich geworden! Weiterhin sind elektronische Kommunika-
tionstechniken möglicherweise auch zu abstrakt, um Menschen einen
Traum vor Augen zu setzen: Die Befriedigung aus dem Besitz eines
Automobils mag noch unmittelbar einleuchtend sein. Aber warum
sollte jemand noch mehr kommunizieren oder noch mehr wissen
wollen als heute? Irgendwann sind die Kapazitätsgrenzen des
Menschen erreicht - ein Gedanke, dem auch Volkmann sich nicht
verschloß.
Bleibt noch das Schlagwort vom Lösen der "Probleme der Mitwelt".
Was könnte mit dieser Mitwelt gemeint sein? Bei Helmut Volkmann
bleibt dies unklar. Vermutlich besteht die Mitwelt lediglich aus
den anderen Konzernen. Oder doch aus mehr? Volkmann spricht von
der Notwendigkeit zu komplexerer Kommunikation. Meint er damit
die "Beobachtung des Beobachters" (Luhmann) oder mit seiner
Wissensstadt den "Diskurs" (Habermas)? - Siemens und die großen
Hersteller scheinen auf der Suche nach Sinn (sprich: Selbsterhal-
tung) beim Individuum angekommen zu sein. Man muß es irgendwie
kitzeln, um seine Wünsche zu erforschen - in der Wissensstadt.
Volkmann hält die Kürzung der Kulturetats für einen Skandal, ohne
jedoch zu fragen, worin die Gründe dafür liegen. Nun, so haben
sich, wie man hört, die Ausgaben für Sozialhilfe im vergangenen
Jahrzehnt verdreifacht. Das ist nichts anderes als Zeichen dafür,
wie sich eine Gesellschaft ankündigt, die ganze Bevölkerungsteile
ausgrenzt, lediglich noch aushält. Und genau da wird erkennbar,
welchem Leitbild die kommende Technik wahrscheinlich folgen wird,
nämlich den Menschen im Auge zu behalten, damit er nicht
"Leistungsmißbrauch" treibt in unterschiedlichsten Lebenslagen.
Währenddessen werden sich die oberen zwei Drittel der Gesell-
schaft in Xenia, der Wissensstadt, einrichten, um sich die inter-
nationale Wettbewerbsfähigkeit zu sichern; die Spaltung der
Gesellschaft ist gleichgültig. Die Architektur der Wissensstadt
hat also ganz andere Vorbilder als diejenigen, die Helmut
Volkmann nennt. Der Zeitgeistautor Peter Glaser beschreibt tref-
fend:
Und wo an dem Einkaufszentrum eigentlich die Vorderseite
sein sollte, sind staubige, verhängte Fenster. Dadurch
gewinnt man den Eindruck eines Gebäudes, das anstelle von
Außenseiten rundum Rückwände hat und für eine äußere Welt
nicht mehr übrig als Verachtung.
Literatur
Glaser, Peter (1995): Unfaßbare Nähe neuester Welt. Peter Glaser
über globale Netze und künstliche Wirklichkeit. Spiegel-Special
Nr. 3 "Abenteuer Computer. Elektronik verändert das Leben".
Habermas, Jürgen (1973): Legitimationsprobleme im Spätkapitalis-
mus. Frankfurt a.M.: Suhrkamp.
Luhmann, Niklas (1991): Soziologie des Risikos. Berlin, New York:
de Gruyter.
Volkmann, Helmut (Hrsg.) (1994): Städte des Wissens als Stätten
der Begegnung. Gedanken zur Eröffnung eines visionären Vorfelds.
Faltblatt. München: Siemens.
Wartmann, Thomas (1991): Spinner vom Dienst. Die Konzerne halten
sich Philosophen, die heute sagen, was morgen sein wird. Tempo
Nr. 1 (Januar): 64-69.