Multimedia in Baden-Württemberg / Gewerkschaftliche Positionen
Schöne neue Medienwelt?
Zukunftssichere Arbeitsplätze massenhaft und eine neue Gesellschaft ver-
spricht Baden-Württembergs Wirtschaftsminister Dieter Spöri: "Durch
glasfasergestützte Datenautobahnen wird nicht nur die Chance für mehr Be-
schäftigung eröffnet, sondern wird sich unser Leben und Arbeiten in der
Infortionsgesellschaft fundamental ändern."*) Spöri verspricht, daß
Baden-Württemberg bei dieser Umwälzung unserer Gesellschaft die Nase vorn
haben wird. Im Herbst dieses Jahres beginnt im Großraum Stuttgart das
europaweit größte Multimedia-Pilotprojekt Europas. In 4000 Haushalten und
kleinen Betrieben soll getestet werden, ob die Verbraucher bereit sind,
sich an interaktiver Kommunikation zu beteiligen und was sie bereit sind,
dafür zu bezahlen. Beim 13. Stuttgarter Zukunftsforum Gewerkschaften am
11. April stellte Welf Schröter, Leiter des Forums Soziale
Technikgestaltung beim DGB-Landesbezirk Baden-Württemberg und Mitglied der
Enquete-Kommission des Landtags die Frage: "Multimedia-Datenautobahn -
Kommerzielles Feuerwerk oder Ausweg aus der Strukturkrise?" In der
Diskussion warfen Gewerkschaftsmitglieder die Frage auf, wie soziale
Standards und demokratische Rechte in dieser neuen Entwicklung gesichert
werden können.
Das "Pilotprojekt Multimedia
Baden-Württemberg
Bei dem "europaweit einmaligen Großversuch" sollen im Großraum Stuttgart
4000 Haushalte und Kleinbetriebe, die über Kabelanschluß verfügen, durch
ein Zusatzgerät ("Top-Set-Box") mit herkömmlichen Fernsehgeräten nicht nur
Daten empfangen, sondern auch Rückmeldungen (Bestellungen) machen können.
Das nennt sich interaktive Kommunikation. Ein Glasfaser- und
Breitbandnetz, das die schnelle Übertragung großer Datenmengen ermöglicht,
soll Zug um Zug ausgebaut werden.
Das Konzept Spöris und der beteiligten Konzerne sieht folgende Angebote
vor:
- Video-on-demand: Spiel-, Dokumentar- und Sachfilme oder Sendungen aus
Kultur und Politik können aus einem gespeicherten Repertoire gewählt
werden.
- Telelearning, Teleteaching: Lernprogramme, Kurse und Sachfilme.
- Informationsdienste von Zeitschriften-, Buch- und Zeitungsverlagen,
Veranstaltungsangebote usw.
- Teleshopping: "Unabhängig von Ladenöffnungszeiten können Waren von
Versandhäusern und Leistungen anderer Anbieter bis hin zu
Reiseveranstaltern ausgewählt und bestellt werden."
- Telespiele: "Selbstverständlich geht es darum, die positiven Angebote zu
ermitteln und zu nutzen." - Anwendung im betrieblichen Bereich: "Da sich
unser Wirtschaftsleben durch die Möglichkeit interaktiver Kommunikation
genau so revolutionär verändert, kommt es darauf an, bereits jetzt die
Anwendungen im betrieblichen Bereich zu testen. Dabei ist zu
berücksichtigen, daß unsere Zukunft verstärkt durch sonannte ¾virtuelle
Firmen¼ bestimmt wird, deren Beschäftigte nicht mehr an einem Ort
zusammenarbeiten. Für die baden-württembergische Wirtschaft mit ihrer
besonders ausgeprägten Auslandsverflechtung ist es entscheidend, daß
unsere Firmen frühzeitig die darin liegenden Konkurrenzvorteile
erkennen."
Die Interaktion zwischen den Beteiligten ist also recht eingeschränkt: Die
anbietenden Firmen bestimmen, was ins Netz gespeist wird; die
Aktionsmöglichkeit der Abnehmer besteht in auswählen, bestellen und zahlen
über das Netz. Bei den betrieblichen Anwendungen wird der Zugang durch die
betriebliche Hierarchie und die Aktionsmöglichkeit vom Arbeitsprogramm
bestimmt.
100 Millionen Mark soll der Großsuch kosten. Das Ziel ist festzustellen,
welche Angebote angenommen werden und was die Abnehmer bereit sind, dafür
zu zahlen. Denn die Teilnahme ist nur anfangs kostenfrei, nach und nach
werden Gebühren für die einzelnen Leistungen eingeführt. Finanziert wird
der Versuch zum großen Teil aus Steuergeldern. Das Wirtschaftsministerium
steigt für den Anfang mit 10 Millionen Mark ein. Einen Teil holt Spöri aus
europäischen Wirtschaftsförderungstöpfen. Den Rest erbringen die Firmen,
die sich am Versuch beteiligen. Allerdings erklären die Medienkonzerne
schon jetzt, die Gebühren für die kommerzielle Nutzung von Kabeln und
Verteilern seien zu hoch; sie müßten im Interesse des
Wirtschaftsstandortes subventioniert werden.
DGB sieht Chancen bei der
Gestaltung von Multimedia
Welf Schröter hob als einmalige Chance hervor, daß in Baden-Württemberg
die Gewerkschaften in den Gremien mitarbeiten, die das Pilotprojekt
durchführen. Demokratie und Mitbestimmung, Arbeit und ökologische Momente
seien die Themen, die der DGB dort einbringt.
Schröter benannte als aktuelles Problem, daß die Verschlankung der
Unternehmen das marktwirtschaftliche Netz zwischen den Firmen gestört
habe. Die Datenautobahn werde zur neuen Plattform für die Beziehungen bzw.
Vernetzung von Firmen, Zulieferern und Beschäftigten. Weniger Verkehr sei
dazu erforderlich, weniger Energie, weniger Flächenverbrauch. So gebe es
in der Schweiz bereits Telehäuser: Abteilungen würden in leerstehende
Häuser auf dem Land verlegt, durch Telearbeit würden Arbeitsplätze in
strukturschwache Gebiete verlegt. Positiv reagierten auf diese
Möglichkeiten Frauen mit qualifiziertem Abschluß, die auf dem Arbeitsmarkt
schwer Zugang finden, in ihrer Mobilität behinderte Menschen,
hochqualifizierte und -flexible Leute. Im Nachteil seien dagegen die
weniger Qualifizierten in den unteren Lohngruppen.
Neue Arbeitsplätze entstünden durch die Datenautobahn im Umfeld der
Fertigung, d.h. bei den Dienstleistungen; keine neuen Arbeitsplätze
entstünden im Konsumbereich; Arbeitsplatzabbau sei zu erwarten im Handel,
bei den Banken, im Maschinenbau. Zu erwarten sei ein Zuwachs an
Arbeitsplätzen bis etwa zum Jahr 2000 für Baden-Württemberg etwa 300000
bis 400000 und etwa 5 Millionen für die BRD. Das werde in etwa die weitere
Zunahme der Arbeitssigkeit kompensieren, deren Verdoppelung bis 2000 zu
erwarten sei.
Die Rolle der Gewerkschaften in diesem Prozeß beschrieb Schröter so: Sie
haben drei Optionen. Entweder: Wir sind dagegen. Oder: Wir sind dagegen
und mischen uns ein. Oder: Blinde Zustimmung. Darüber müsse diskutiert
werden. Er tritt für ein aktives Eingreifen der Gewerkschaften in die
Datenbahn-Debatte ein und verlangte:
- gewerkschaftliche Kompetenz im Bereich Innovation und
Technikgestaltung;
- ganzheitliches Denken;
- ökologische Interpretation und Bilanz;
- gewerkschaftliche Kriterien dafür, was Arbeit in Zukunft sein soll;
- sensibleres Bewußtsein für Demokratie und Entdemokratisierungsprozesse.
Schröter formulierte als zentrale Forderung an die Gestaltung der
Datenautobahn: Bisher gebe es einen sozialen Warenkorb, der als Grundlage
menschenwürdigen Lebens jedem zustehe. Heute müsse es auch einen
elektronischen Warenkorb geben, eine Grundversorgung an Information für
jede und jeden, und zwar so schnell wie möglich.
Wirtschaftliche und politische
Probleme der Informationsgesellschaft
Die Diskussion zeigte tiefe Skepsis gegen die Hoffnungen auf positive
Wirkungen der Datenautobahn.
Kollegen aus der EDV-Branche fragten: Warum sollte z.B. IBM Arbeitsplätze
nur in die strukturschwachen Regionen verlagern und nicht z.B. nach
Indien? Durch die neuen Technologien wird ein globaler Arbeitsmarkt
entstehen mit verschärfter Konkurrenz um die Beschäftigung. Eine Kollegin,
die sich in den siebziger Jahren in einem DGB-Arbeitskreis mit der neuen
EDVHeimarbeit beschäftigt hatte, fragte: Wie lassen sich bei
Telearbeitsplätzen soziale Standards halten? Mit der Vereinzelung steigt
die soziale Abhängigkeit der Beschäftigten. Wie sollen da
gewerkschaftlicher Schutz und Betriebsratsarbeit organisiert werden? Wie
soll Tarifverträgen Geltung verschafft werden? Ein Kollege von IBM
erzählte, daß er für die Gewerkschaftsarbeit den Kontakt zu den Kollegen
braucht. Das Netz wird aber von der Firma kontrolliert; wenn er mit
Kollegen am Bildschirm Kontakt hält, hat er ständig Angst vor Konsequenzen
für seinen Arbeitsplatz. Wird durch den Wegfall des Arbeitswegs nicht die
Verlängerung der Arbeitszeit provoziert? Die Firmen sparen die
Fahrtkosten. Wie wird sichergestellt, daß nicht die Investition für Geräte
und Einrichtung des Arbeitsplatzes den Beschäftigten aufgezwungen wird?
Welche gesellschaftlichen Folgen hat die Vernetzung? Durch Information,
Erholung, Unterhaltung und Spiele am Bildschirm würden total
individualisierte, sozialunfähige Menschen geschaffen. Mehrere Teilnehmer
waren der Meinung, daß die Schule ein Bereich sei, wo Vernetzung nichts zu
suchen habe. Soziales Lernen und Förderung der Persönlichkeitsentwicklung
erforderten die Lehrerin oder den Lehrer. Es wurde eine Entwicklung
befürchtet wie in den USA, wo für viele arme/schwarze Kinder das
Lernprogramm auf der Flimmerkiste reichen muß. Andererseits hängt der
private Kauf von Lern- und Trainingsprogrammen vom Geldbeutel ab.
Medienerziehung wurde gefordert.
Schließlich wurden die Inhalte der neuen Informationssysteme diskutiert.
Wie kann sichergestellt werden, daß wahr ist, was über das Netz verbreitet
wird? Soll es Verbote geben, die rassistische, frauenfeindliche,
gewaltverherrlichende Programme und Spiele ausschließen? Wie können
Urheberrechte, also die Rechte von Künstlern, Autoren usw., gesichert
werden?
Wie soll der Datenschutz funktionieren? Durch Auswertung der Aktionen der
Teilnehmer kann festgestellt werden, wer wann was arbeitet; wer mit wem
kommuniziert und über was; wer sich zu welcher Zeit mit was unterhalten
läßt, was er liest, was er einkauft usw.
Zu den Vorstellungen, die Welf Schröter für den DGB formulierte, wurden in
der Diskussion weitere Gedanken erarbeitet:
- Die Datenautobahn enthält tatsächlich demokratische Elemente, sofern sie
die technisch mögliche Dezentralisierung nützt. Dazu genügt es nicht, daß
alle freien Zugang zur Datenautobahn als Käufer oder Verbraucher von
Informationen (in der Rolle des Empfängers) haben. Vielmehr muß sich auch
jeder Mensch darin frei äußern können (sozusagen Sender sein). Das
bedeutet, daß freie und unkontrollierte Kommunikation zwischen einzelnen
Menschen und Gruppen umsonst oder zu einem sehr niedrigen Preis
sichergestellt werden muß. Die Netzbetreiber dürfen den Zugang zu den
Netzen nicht reglementieren oder kontrollieren. Sofern sie nicht im
Gemeineigentum sind, muß eine öffentliche/gesellschaftliche Kontrolle der
Netze sichergestellt werden. Ein Vorschlag war, daß im Kommunikationsnetz
für solche nicht-kommerzielle Anwendungen ein Freiraum geschaffen werden
und subventioniert werden muß muß (vergleichbar mit freien Radios).
- Es müssen ethische und demokratische Regeln für die neuen
Kommunikationssysteme entwickelt werden: für den Datenschutz und für die
Inhalte (z.B. Mindestanforderungen wie ein Pressekodex).
Ohne solche Rechte und Regeln wird die neue "Informationsgesellschaft" zur
Beherrschung aller Lebensbereiche und Lebensäußerungen durch die großen
Konzerne führen - mit allen Folgen der Entdemokratisierung. - (ulk)
*) Dieses und alle anderen Zitate aus der Pressemitteilung des
Wirtschaftsministeriums Baden-Württemberg vom 19.8.1994
[Aus: Politische Berichte Nummer 9, 04.05.95]