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Thu Jul 27 02:56:53 1995
 

Multimedia in Baden-Württemberg / Gewerkschaftliche Positionen Schöne neue Medienwelt? Zukunftssichere Arbeitsplätze massenhaft und eine neue Gesellschaft ver- spricht Baden-Württembergs Wirtschaftsminister Dieter Spöri: "Durch glasfasergestützte Datenautobahnen wird nicht nur die Chance für mehr Be- schäftigung eröffnet, sondern wird sich unser Leben und Arbeiten in der Infortionsgesellschaft fundamental ändern."*) Spöri verspricht, daß Baden-Württemberg bei dieser Umwälzung unserer Gesellschaft die Nase vorn haben wird. Im Herbst dieses Jahres beginnt im Großraum Stuttgart das europaweit größte Multimedia-Pilotprojekt Europas. In 4000 Haushalten und kleinen Betrieben soll getestet werden, ob die Verbraucher bereit sind, sich an interaktiver Kommunikation zu beteiligen und was sie bereit sind, dafür zu bezahlen. Beim 13. Stuttgarter Zukunftsforum Gewerkschaften am 11. April stellte Welf Schröter, Leiter des Forums Soziale Technikgestaltung beim DGB-Landesbezirk Baden-Württemberg und Mitglied der Enquete-Kommission des Landtags die Frage: "Multimedia-Datenautobahn - Kommerzielles Feuerwerk oder Ausweg aus der Strukturkrise?" In der Diskussion warfen Gewerkschaftsmitglieder die Frage auf, wie soziale Standards und demokratische Rechte in dieser neuen Entwicklung gesichert werden können. Das "Pilotprojekt Multimedia Baden-Württemberg Bei dem "europaweit einmaligen Großversuch" sollen im Großraum Stuttgart 4000 Haushalte und Kleinbetriebe, die über Kabelanschluß verfügen, durch ein Zusatzgerät ("Top-Set-Box") mit herkömmlichen Fernsehgeräten nicht nur Daten empfangen, sondern auch Rückmeldungen (Bestellungen) machen können. Das nennt sich interaktive Kommunikation. Ein Glasfaser- und Breitbandnetz, das die schnelle Übertragung großer Datenmengen ermöglicht, soll Zug um Zug ausgebaut werden. Das Konzept Spöris und der beteiligten Konzerne sieht folgende Angebote vor: - Video-on-demand: Spiel-, Dokumentar- und Sachfilme oder Sendungen aus Kultur und Politik können aus einem gespeicherten Repertoire gewählt werden. - Telelearning, Teleteaching: Lernprogramme, Kurse und Sachfilme. - Informationsdienste von Zeitschriften-, Buch- und Zeitungsverlagen, Veranstaltungsangebote usw. - Teleshopping: "Unabhängig von Ladenöffnungszeiten können Waren von Versandhäusern und Leistungen anderer Anbieter bis hin zu Reiseveranstaltern ausgewählt und bestellt werden." - Telespiele: "Selbstverständlich geht es darum, die positiven Angebote zu ermitteln und zu nutzen." - Anwendung im betrieblichen Bereich: "Da sich unser Wirtschaftsleben durch die Möglichkeit interaktiver Kommunikation genau so revolutionär verändert, kommt es darauf an, bereits jetzt die Anwendungen im betrieblichen Bereich zu testen. Dabei ist zu berücksichtigen, daß unsere Zukunft verstärkt durch sonannte ¾virtuelle Firmen¼ bestimmt wird, deren Beschäftigte nicht mehr an einem Ort zusammenarbeiten. Für die baden-württembergische Wirtschaft mit ihrer besonders ausgeprägten Auslandsverflechtung ist es entscheidend, daß unsere Firmen frühzeitig die darin liegenden Konkurrenzvorteile erkennen." Die Interaktion zwischen den Beteiligten ist also recht eingeschränkt: Die anbietenden Firmen bestimmen, was ins Netz gespeist wird; die Aktionsmöglichkeit der Abnehmer besteht in auswählen, bestellen und zahlen über das Netz. Bei den betrieblichen Anwendungen wird der Zugang durch die betriebliche Hierarchie und die Aktionsmöglichkeit vom Arbeitsprogramm bestimmt. 100 Millionen Mark soll der Großsuch kosten. Das Ziel ist festzustellen, welche Angebote angenommen werden und was die Abnehmer bereit sind, dafür zu zahlen. Denn die Teilnahme ist nur anfangs kostenfrei, nach und nach werden Gebühren für die einzelnen Leistungen eingeführt. Finanziert wird der Versuch zum großen Teil aus Steuergeldern. Das Wirtschaftsministerium steigt für den Anfang mit 10 Millionen Mark ein. Einen Teil holt Spöri aus europäischen Wirtschaftsförderungstöpfen. Den Rest erbringen die Firmen, die sich am Versuch beteiligen. Allerdings erklären die Medienkonzerne schon jetzt, die Gebühren für die kommerzielle Nutzung von Kabeln und Verteilern seien zu hoch; sie müßten im Interesse des Wirtschaftsstandortes subventioniert werden. DGB sieht Chancen bei der Gestaltung von Multimedia Welf Schröter hob als einmalige Chance hervor, daß in Baden-Württemberg die Gewerkschaften in den Gremien mitarbeiten, die das Pilotprojekt durchführen. Demokratie und Mitbestimmung, Arbeit und ökologische Momente seien die Themen, die der DGB dort einbringt. Schröter benannte als aktuelles Problem, daß die Verschlankung der Unternehmen das marktwirtschaftliche Netz zwischen den Firmen gestört habe. Die Datenautobahn werde zur neuen Plattform für die Beziehungen bzw. Vernetzung von Firmen, Zulieferern und Beschäftigten. Weniger Verkehr sei dazu erforderlich, weniger Energie, weniger Flächenverbrauch. So gebe es in der Schweiz bereits Telehäuser: Abteilungen würden in leerstehende Häuser auf dem Land verlegt, durch Telearbeit würden Arbeitsplätze in strukturschwache Gebiete verlegt. Positiv reagierten auf diese Möglichkeiten Frauen mit qualifiziertem Abschluß, die auf dem Arbeitsmarkt schwer Zugang finden, in ihrer Mobilität behinderte Menschen, hochqualifizierte und -flexible Leute. Im Nachteil seien dagegen die weniger Qualifizierten in den unteren Lohngruppen. Neue Arbeitsplätze entstünden durch die Datenautobahn im Umfeld der Fertigung, d.h. bei den Dienstleistungen; keine neuen Arbeitsplätze entstünden im Konsumbereich; Arbeitsplatzabbau sei zu erwarten im Handel, bei den Banken, im Maschinenbau. Zu erwarten sei ein Zuwachs an Arbeitsplätzen bis etwa zum Jahr 2000 für Baden-Württemberg etwa 300000 bis 400000 und etwa 5 Millionen für die BRD. Das werde in etwa die weitere Zunahme der Arbeitssigkeit kompensieren, deren Verdoppelung bis 2000 zu erwarten sei. Die Rolle der Gewerkschaften in diesem Prozeß beschrieb Schröter so: Sie haben drei Optionen. Entweder: Wir sind dagegen. Oder: Wir sind dagegen und mischen uns ein. Oder: Blinde Zustimmung. Darüber müsse diskutiert werden. Er tritt für ein aktives Eingreifen der Gewerkschaften in die Datenbahn-Debatte ein und verlangte: - gewerkschaftliche Kompetenz im Bereich Innovation und Technikgestaltung; - ganzheitliches Denken; - ökologische Interpretation und Bilanz; - gewerkschaftliche Kriterien dafür, was Arbeit in Zukunft sein soll; - sensibleres Bewußtsein für Demokratie und Entdemokratisierungsprozesse. Schröter formulierte als zentrale Forderung an die Gestaltung der Datenautobahn: Bisher gebe es einen sozialen Warenkorb, der als Grundlage menschenwürdigen Lebens jedem zustehe. Heute müsse es auch einen elektronischen Warenkorb geben, eine Grundversorgung an Information für jede und jeden, und zwar so schnell wie möglich. Wirtschaftliche und politische Probleme der Informationsgesellschaft Die Diskussion zeigte tiefe Skepsis gegen die Hoffnungen auf positive Wirkungen der Datenautobahn. Kollegen aus der EDV-Branche fragten: Warum sollte z.B. IBM Arbeitsplätze nur in die strukturschwachen Regionen verlagern und nicht z.B. nach Indien? Durch die neuen Technologien wird ein globaler Arbeitsmarkt entstehen mit verschärfter Konkurrenz um die Beschäftigung. Eine Kollegin, die sich in den siebziger Jahren in einem DGB-Arbeitskreis mit der neuen EDVHeimarbeit beschäftigt hatte, fragte: Wie lassen sich bei Telearbeitsplätzen soziale Standards halten? Mit der Vereinzelung steigt die soziale Abhängigkeit der Beschäftigten. Wie sollen da gewerkschaftlicher Schutz und Betriebsratsarbeit organisiert werden? Wie soll Tarifverträgen Geltung verschafft werden? Ein Kollege von IBM erzählte, daß er für die Gewerkschaftsarbeit den Kontakt zu den Kollegen braucht. Das Netz wird aber von der Firma kontrolliert; wenn er mit Kollegen am Bildschirm Kontakt hält, hat er ständig Angst vor Konsequenzen für seinen Arbeitsplatz. Wird durch den Wegfall des Arbeitswegs nicht die Verlängerung der Arbeitszeit provoziert? Die Firmen sparen die Fahrtkosten. Wie wird sichergestellt, daß nicht die Investition für Geräte und Einrichtung des Arbeitsplatzes den Beschäftigten aufgezwungen wird? Welche gesellschaftlichen Folgen hat die Vernetzung? Durch Information, Erholung, Unterhaltung und Spiele am Bildschirm würden total individualisierte, sozialunfähige Menschen geschaffen. Mehrere Teilnehmer waren der Meinung, daß die Schule ein Bereich sei, wo Vernetzung nichts zu suchen habe. Soziales Lernen und Förderung der Persönlichkeitsentwicklung erforderten die Lehrerin oder den Lehrer. Es wurde eine Entwicklung befürchtet wie in den USA, wo für viele arme/schwarze Kinder das Lernprogramm auf der Flimmerkiste reichen muß. Andererseits hängt der private Kauf von Lern- und Trainingsprogrammen vom Geldbeutel ab. Medienerziehung wurde gefordert. Schließlich wurden die Inhalte der neuen Informationssysteme diskutiert. Wie kann sichergestellt werden, daß wahr ist, was über das Netz verbreitet wird? Soll es Verbote geben, die rassistische, frauenfeindliche, gewaltverherrlichende Programme und Spiele ausschließen? Wie können Urheberrechte, also die Rechte von Künstlern, Autoren usw., gesichert werden? Wie soll der Datenschutz funktionieren? Durch Auswertung der Aktionen der Teilnehmer kann festgestellt werden, wer wann was arbeitet; wer mit wem kommuniziert und über was; wer sich zu welcher Zeit mit was unterhalten läßt, was er liest, was er einkauft usw. Zu den Vorstellungen, die Welf Schröter für den DGB formulierte, wurden in der Diskussion weitere Gedanken erarbeitet: - Die Datenautobahn enthält tatsächlich demokratische Elemente, sofern sie die technisch mögliche Dezentralisierung nützt. Dazu genügt es nicht, daß alle freien Zugang zur Datenautobahn als Käufer oder Verbraucher von Informationen (in der Rolle des Empfängers) haben. Vielmehr muß sich auch jeder Mensch darin frei äußern können (sozusagen Sender sein). Das bedeutet, daß freie und unkontrollierte Kommunikation zwischen einzelnen Menschen und Gruppen umsonst oder zu einem sehr niedrigen Preis sichergestellt werden muß. Die Netzbetreiber dürfen den Zugang zu den Netzen nicht reglementieren oder kontrollieren. Sofern sie nicht im Gemeineigentum sind, muß eine öffentliche/gesellschaftliche Kontrolle der Netze sichergestellt werden. Ein Vorschlag war, daß im Kommunikationsnetz für solche nicht-kommerzielle Anwendungen ein Freiraum geschaffen werden und subventioniert werden muß muß (vergleichbar mit freien Radios). - Es müssen ethische und demokratische Regeln für die neuen Kommunikationssysteme entwickelt werden: für den Datenschutz und für die Inhalte (z.B. Mindestanforderungen wie ein Pressekodex). Ohne solche Rechte und Regeln wird die neue "Informationsgesellschaft" zur Beherrschung aller Lebensbereiche und Lebensäußerungen durch die großen Konzerne führen - mit allen Folgen der Entdemokratisierung. - (ulk) *) Dieses und alle anderen Zitate aus der Pressemitteilung des Wirtschaftsministeriums Baden-Württemberg vom 19.8.1994 [Aus: Politische Berichte Nummer 9, 04.05.95]