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Wed Sep 25 23:25:41 1996
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Die Geschichte der Vorgeschichte zur Geschichte
Die radikal von 1976 - 1980
Vielleicht wäre es nie zu einer 20jährigen Geschichte gekommen, wenn
die radikal nicht radikal genannt worden wäre, sondern
Berliner Rote, agit 76, Berliner Linke oder Reissbrett
- Zeitung für Sozialismus. Diese Namen waren Anfang 1976 im
Gründungskreis im Gespräch - einig wurde man sich zunächst nur
auf den Untertitel Sozialistische Zeitung. (Die Ortsangabe für
Westberlin kam kurz vor dem Druck der ersten Nummer hinzu.) Ein Jahr
später war der Name radikal noch so umstritten, daß er in
stattbild umgeändert werden sollte. Der Beschluß wurde erst
nach Protesten von LeserInnen gekippt.
Der Gründungskreis war zusammengekommen durch eine Kleinanzeige im
Berliner Extra-Dienst Anfang 1976, die ein ehemaliger
883-Redakteur aufgegeben hatte, um ein neues Zeitungsprojekt zu initieren.
(Die 883 war um 1970 die wichtigste militante Zeitschrift, gegen fast
alle Nummern hatte es Beschlagnahmebeschlüsse gegeben. Sie war 1972 nach
internen Auseinandersetzungen eingestellt worden.)
Wie sah es 1976 in Westberlin aus? Die APO hatte sich gründlich zerlegt in
rivalisierende Imitate der alten KPD, in Spontigruppen, Frauenbewegung,
ungezählte Basisinitiativen vom Kinderladen bis zur Kneipe und nicht
zuletzt in die verschiedenen Stadtguerillas.
KPD/AO, KPD/ML, KBW oder SEW waren im Gegensatz zu heutigen Organisationen
keine winzigen Splittergrüppchen, sondern Massensekten, die durchaus Demos
und Veranstaltungen mit ein paar tausend Leuten machen konnten. Auch das
Sozialistische Büro SB, von dem nur noch die Zeitschrift links
geblieben ist, die Proletarische Linke/Parteiinitiative PL/PI,
Betriebsgruppen oder die Rote Hilfe - damals eine Spontigruppe ohne
"e.V.", die mit "e.V." war die
Konkurrenzgründung einer KPD - konnten nötigenfalls gut mobilisieren.
Die kommunistischen Parteizeitungen - die "Massenorgane" -
führten je nach Linienstreit Marx, Engels und Lenin plus Stalin und Mao im
Kopf. Offiziell hatten sie fünfstellige Auflagen, aber de facto
füllten Rote Fahnen, Roter Morgen usw. die Keller der
Mitglieder, die gezwungen waren, so und so viele Exemplare pro Ausgabe zum
Verkauf abzunehmen. Endlose Reden und andere Ergüsse der kleinen
Großen Vorsitzenden füllten die Seiten, die Parteien jubelten sich
jeweils zur Avantgarde des Proletariats hoch und die anderen sich um Nuancen
anders abkürzenden KPDs tief runter. Zustimmung oder Ablehnung zu
Flügeln der chinesischen KP waren bedeutsamer als die Praxis im
BRD-Alltag. Kurz gesagt, die meisten Parteizeitungen waren unlesbar.
Von Berliner Undogmatischen Gruppen gab es seit 1973 das INFO-BUG,
zunächst als zusammengeheftete Text- und Flugblättersammlung,
später in kommunikativer Funktion und Aussehen der INTERIM
ähnelnd, allerdings von einer offenen Redaktionsgruppe an bekanntem Ort
und mit der ausdrücklichen Einladung gemacht, zu Redaktionssitzungen und
zum Zusammenlegen vorbeizukommen.
Daneben gab es seit kurzem die ersten Stattzeitungen wie HOBO, dem
Vorläufer von ZITTY, und Faltblätter von Bürgerinitiativen, z.B.
der BI gegen das heute längst verwirklichte Kraftwerk Oberhavel.
Überregional existierte seit 1973 der ID - Informationsdienst für
unterbliebene Nachrichten, der wöchentlich in einer Auflage von
einigen tausend Exemplaren das bedeutendste Medium der undogmatischen Linken
war und bis Anfang der 80er Jahre blieb.
Die Ende der 60er Jahre noch einig wirkende Linke war wie gesagt zerfallen,
manchmal bis zu innigstem Haß aufeinander. Zusammen mit dem Rollback
durch den sozialdemokratischen Sicherheitsstaat des "Modells
Deutschland" war das die Situation, in der die radikal entstand.
Im internen Zeitungskonzept der noch namenlosen radikal, das hier zum
ersten Mal ausführlich abgedruckt wird, fand das seinen Niederschlag:
"Die gegenwärtige Linke ist stark differenziert mit ihrer
Vielzahl von Gruppen, Organisationsformen und politischen Linien. Mit der
Herausbildung von dezidierten politischen Positionen verlief aber auch die
Entwicklung zu ideologischer Abgrenzung und organisatorischer Spaltung.
Heute ist die Situation gekennzeichnet durch einen Verlust an innerem
Meinungsaustausch und fruchtbarer politischer Auseinandersetzung. Durch die
Zersplitterung verstärkte sich der Mangel an Information und Koordination,
so daß Doppelarbeit, Konkurrenzverhalten, Sektiererei und andere
Übel um sich griffen. So blieb die Arbeit der Linken weitgehend
wirkungslos und ihre Ausstrahlung oft negativ.
Es ist klar, daß dieser Prozeß in Beziehung steht zu der
Verschlechterung der Lebensbedingungen als Folge der spezifischen Bedingungen
des Kapitalismus und der fortschreitenden Repression durch Justiz und
Staatsapparat. Radikalenerlaß, Berufsverbote, Einschränkung der
Verteidigerrechte, Terrorurteile, der neue Zensurparagraph 88a, Mobile
Einsatzkommandos, Aufrüstung des BGS und BKA usw. schaffen für jeden
einzelnen ein gesellschaftliches Umfeld an Bedrohung, das ein möglichst
einheitliches Vorgehen aller Betroffenen unerläßlich macht.
Es erscheint uns dringend notwendig, über das Mittel eines zentralen
Informationsträgers das Netz der Verbindungen unter den Linken enger zu
knüpfen, über Aktionen und Kämpfe in dieser Stadt, die auf die
Einschränkung der staatlich-kapitalistischen Macht gerichtet sind und die
eine neue Gesellschaftsform anstreben, zu berichten sowie die Diskussion
über alle wichtigen Fragen in demokratischger Offenheit zu führen.
Durch eine unbedingt solidarische Form müssen diese Debatten bei Wahrung
aller Unterschiede die Gemeinsamkeiten der verschiedenen linken Anstrengungen
immer wieder hervorheben und stärken.
Mit der Zeitung sollen also die innere Auseinandersetzung, Klärung und
Verständigung der linken Gruppen technisch und inhaltlich verbessert und
die politische Ausstrahlung der Gruppen nach außen vergrößert
werden.
Eine weitere wichtige Zielsetzung liegt in der Unterstützung aller
Ansätze, die persönlichen Lebensprobleme der Genossen durch
verschiedene praktische Dienste zu erleichtern und Ansätze zu einer
eigenen, den politischen Kampf unterstützenden Ökonomie zu
stärken. Gerade hier in dem Versuch der ansatzweisen Aufhebung der
Trennung der politischen Arbeit vom persönlichen Privatbereich sehen wir
eine Chance zur Erhöhung der politischen Schlagkraft.
Es scheint uns wichtig, daß die Linke mehr als bisher konkrete Formen
entwickelt, um bei Arbeitslosigkeit, Berufsverbot, Wohnungssuche,
Kindererziehung usw. Hilfen zu geben, die keimhaft Strukturen der neuen
Gesellschaft vorbereiten.
Wenn solche Formen stets unter dem Primat der Politik stehen und eingebunden
in den allgemeinen Kampf vorangetrieben werden, schätzen wir die
innewohnende Gefahr zu illusionärem und reformistischem Handeln relativ
gering ein.
Die Zeitung wendet sich an alle Gruppen und Individuen, die eine
Überwindung des kapitalistischen Systems und den Aufbau einer
ausbeutungsfreien Gesellschaft für nötig halten. Sie rechnet also mit
Lesern der ML-Organisationen, der SEW, der Trotzkisten ebenso wie mit
Interessierten aus linken Fraktionen bürgerlicher Parteien, Gewerkschaften
und Jugendorganisationen.
Zu dem möglichen Leserkreis zählen auch Mitglieder sozial
engagierter Berufsgruppen, Basisgruppen wie Kinderläden und
Bürgerinitiativen. Weiten Raum möchte die Zeitung den
'sprachlosen' Einzelgenossen und kleineren Aktionsgruppen ohne eigene
Zeitung einräumen.
Ein linkes Blatt, das lebendig gemacht ist, das sich um die Belange der
eigenen Leute kümmert, das die theoretische Debatte wieder
zusammenfaßt, berichtet und offen und solidarisch austrägt, wird
auch über die linken Zirkel und stärker nach außen wirken.
Letztlich also bemüht sich die Zeitung um Basisverbreiterung."
Erst als dieses Zeitungskonzept ausdiskutiert war, wurden per Aufruf und
Briefe linke Gruppen und Individuen zu einem Informationstreffen zum Aufbau
einer sozialistischen Wochenzeitung in Westberlin eingeladen.
Am 20.5.1976, um 20 Uhr im SZ, dem "Sozialistischen Zentrum" in
der Moabiter Stephanstraße 60, einem heute längst vergessenen
Zentrum der Linken in Westberlin, und ein paar folgenden Donnerstagen entstand
die erste Redaktionsgruppe, etwa zehn Leute, mehr Männer als Frauen, mit
einer Ausnahme um die 20, also Nach-68erInnen.
Organisiert war - nach den Erinnerungen einiger von damals - niemand,
höchstens an der Uni im USTA, dem Unabhängigen
Studenten-Ausschuß. Erfahrungen im Zeitungsmachen brachte einer von 883
mit, andere höchstens von Schüler- oder Studentenzeitungen. Das Geld
für die erste Ausgabe wurde per Spenden, durch ein paar Buchladen- und
Kneipenanzeigen und von den radikal-MacherInnen aufgetrieben. Ein
stadtbekannter FU-Professor gab einen Kleinkredit - der nie zurückgezahlt
werden konnte.
Die radikal sollte in jeder Hinsicht gut lesbar sein. Sprachlich sollten
die Artikel nicht wie die Organisationssprechblasen oder das öde
Szenekauderwelsch klingen, sondern für alle angepeilten LeserInnenkreise
verständlich formuliert werden. In visueller Hinsicht wurde für
damalige Verhältnisse modern gesäzzt mit einem IBM-Kugelkopf-Composer
(PCs gab's noch nicht), dessen Papierausdrucke mit einer Reprokamera
abfotografiert werden mußten.
Das Layout sollte viele Fotos und Karikaturen enthalten, was sich bei
Klebelayout mit Letra-set und hohen Reprokosten für Fotos allerdings
selten einlösen ließ. Dennoch unterschied sich die radikal
von Anfang an nicht nur inhaltlich, sondern auch im Aussehen von den
ML-Blättern oder dem einfacher gemachtem Info-BUG.
Zudem bekamen 1976 die ersten linken Druckereien größere
Offsetmaschinen, wodurch das damalige A3-Zeitungsformat der radikal erst
möglich wurde.
Die erste radikal
Am 18.6.1976 erschien die erste Nummer in einer Auflage von 3.000
Exemplaren, die bis auf ein paar hundert im Handverkauf und von einigen Kneipen
und Buchläden Westberlins verkauft wurden. Abonnements gab es noch nicht,
und so gut wie keine Zeitung wurde außerhalb der Stadt vertrieben. Das
Titelbild zeigte einen überdimensionalen Daumenabdruck, untertitelt mit
einem indirekten Zitat des knapp ein Jahr später von der RAF erschossenen
Generalbundesanwalts Buback: "Es sei wünschenswert, wenn die
Fingerabdrücke sämtlicher Staatsbürger der Bundesrepublik
aufgenommen würden. Dies sei zur Zeit aus politischen Gründen leider
noch nicht erreichbar."
Auf 16 Seiten fanden sich Berichte von einem "Mieterfest" in der
Kurfürstenstraße, mit dem sich eine Mieterinitiative gegen
Schnellstraßenpläne des Senats wehrte, einer
"gemeinsamen" (das war im Original dick unterstrichen) Aktion von
KB, KBW und Anti-Apartheid-Bewegung gegen den Auftritt eines deutschen Chors
aus Südafrika, oder über das Therapiezentrum Friedenau, in dem
bewegungsgestörte Kinder gemeinsam mit nichtbehinderten Kindern
aufwuchsen, und "Elternproteste gegen Sparmaßnahmen in der
Schule". Auf Seite vier findet sich eine kleine Meldung der
"Bürgerinitiative Westtangente", in der gegen den Plan
protestiert wird, den Tiergarten durch einen Tunnel zu zerstören - was
damals verhindert werden konnte feiert heute als Hauptstadt-Berlin-Projekt
einen späten Sieg. Die trotzkistische GIM (Gruppe Internationaler
Marxisten) wirbt auf derselben Seite für ihr Organ, die
internationale, daneben der Laden für Spielmaterial - "Keine
privaten Profite!" - des Kinderzentrums, und gegenüberliegend
finden sich "Wichtige Hinweise für Demonstranten!
AUFBEWAHREN!", mit Tips zu Kleidung, Demoverhalten und Juristischem.
Eine halbe Seite Kleinanzeigen ist extra getitelt mit
"dienste".
Die nächsten vier Seiten drehen sich grafisch und textlich um
Berufsverbote, Aufrüstung, Todesschußgesetz und was der
spezialdemokratische Sicherheitsstaat noch so mit sich brachte. Seite 10/11
enthält die Rubrik "forum", eingeleitet mit der Bitte: "Genossen, wenn ihr den Platz im FORUM nutzt,
versucht möglichst klar und kurz zu argumentieren." Der ASTA/USTA
schreibt dort über seine Entstehungsgeschichte "mit Stellungnahme
von KBW, GIM, KB", schließend mit einem Dutschke-Zitat:
"Die bürgerliche Öffentlichkeit ist so auf den Hund gekommen,
da ist kein Licht mehr, da ist nur noch Dunkel und Verdunkelung." Ein
zeitlos wahrer Satz.
Mit dem Artikel auf Seite 12 setzte sich die radikal in ihr erstes
dickes Fettnäpfchen. "effe - Provokation für eine intensive
politische Auseinandersetzung in der Frauenbewegung" kritisierte den
"insularischen separatismus" (fettgedruckt im Original) als
"ausdruck repressiver bedürfnisstrukturen unter den
gegenwärtigen produktionsverhältnissen, die von den menschen
isolation und selbstaufgabe zur aufrechterhaltung der
herrschaftsverhältnisse fordert". Für die Autorin des Artikels
war "die selbst gewählte frauenisolation nur ein teil eines
chaotischen kleinkapitalistischen sektiererhaufens von gesellschaftlichen
individuen, die sich bis zur apokalypse dreht und wendet, aber nicht für
einen neuaufbau zusammenbricht, höchstens am rande etwas
abbröckelt." Bei soviel sozialistisch-orthodoxer Ignoranz half auch
der gegenüberstehende Aufruf für das "Erste Frauenfest an der
Pädagogischen Hochschule am 25.6." nichts, die Reaktionen aus der
Frauenbewegung auf die radikal folgten und spielten in den nächsten
Ausgaben und - da sind sich die damals beteiligten RedakteurInnen nicht ganz
einig - bei den Redaktionssitzungen selbst eine ziemliche Rolle.
Das heute noch existierende "Terzo Mondo", eine griechische
Kneipe in Charlottenburg, ist mit einer Anzeige vertreten. Der damalige Wirt,
ein linker Patriarch, den seine Angestellten später heftig und mit Hilfe
von Aufrufen in der radikal bestreikten, ist heute der griechische Wirt
in der "Lindenstraße"...
Seite 14/15 berichtet über den "Pfingstkongreß des
Sozialistischen Büros in Frankfurt", dessen Thema politische
Repression und ökonomische Ausbeutung sowie die "Frage der
Organisation sozialistischer Politik" waren und der damals aufgrund der
großen TeilnehmerInnenzahl verschiedenster Linker als Erfolg angesehen
wurde.
Seite 16 ist die Terminseite, wo ein "DRITTE WELT FORUM mit Berichten
ausl. Stud. über ihre Heimatländer, Diskussion", oder eine
"IRAN-CHILE-SOLIDARITÄTSVERANSTALTUNG von MIR (Bewegung der
revolutionären Linken, eine militante chilenische Organisation, Anm.) und
CISNU (linke iranische Organisation, die die meisten Anti-Schah-Aktionen trug,
Anm.)" in der alten TU-Mensa sowie ein "Solidaritätskonzert
für die politischen Gefangenen in Spanien im Audi Max der TU"
angekündigt wurden.
Im Frauenzentrum gab es "montags und donnerstags 19.00 Schwangerschafts-
und Verhütungsberatung" und "BIFF (Beratung u. Information
für Frauen: Rechtsberatung, Ausbildung, Mieterberatung, Psychologie usw.)
jeden Montag 10 -12, 20 - 22 Uhr".
Die lakonische Bemerkung der radikal-Redaktion: "Die KPD teilte
uns auf telefonische Anfrage mit, daß sie in dieser Zeitung keineTermine
veröffentlichen will" beendet diese erste radikal.
Das Titelbild der zweiten spiegelt stark symbolisiert unterschiedliche
Positionen in der Redaktion wie auch der damaligen Linken generell: Ein
Gemälde von "Emile Henry, der 1894 eine Bombe gegen trinkende und
prassende Bourgeois in einem Pariser Lokal warf" ist untertitelt mit dem
Mao-Zitat "Wenn das Bewußtsein der Massen noch nicht geweckt ist,
und wir dennoch einen Angriff unternehmen, so ist das Abenteurertum".
Im Intro von Nummer zwei geht es nochmal um das Selbstverständnis der
radikal.
"radikal will in erster Linie nützliche Sachen tun, die
potentiell allen Linken Vorteile bringen: Umfassender Veranstaltungskalender,
Kleinanzeigen, juristische Tips, Bücherlisten, möglichst viele
Berichte über Aktivitäten an der Basis, Raum für Diskussion,
Gegenüberstellung von Standpunkten, Platz für Leserbriefe und
Zuschriften von unorganisierten Genossen. Wir sagen klar: das ist ein
linkspluralistisches Konzept, obwohl dies Wort den weitgehendsten
Verdächtigungen die Tür öffnen mag. Wir machen mit radikal
den Versuch, ein Kommunikationsmittel anzubieten, das als Drehscheibe,
Mittler oder Multiplikator dienen soll für Praxis und Theorie von
Organisationen und Einzelgenossen. Dabei ist ein Hauptmotiv unserer Arbeit,
einen Beitrag zu leisten auf dem schwierigen Weg zur Solidarisierung der
Linken.
Noch einen wichtigen Punkt möchten wir klären. Wir sind oft auf
unser Verhältnis zum Info-BUG angesprochen worden. Wir stehen nicht
in Konkurrenz dazu, sonst hätten wir gar nicht angefangen. Das Info
vertritt die undogmatischen Gruppen. Es befaßt sich stark mit
Vorgängen in der 'Sponti-Scene'. Seine Verbreitung ist auf diesen
Bereich beschränkt."
Im Zentrum der Ausgabe steht anläßlich des Todes von Ulrike
Meinhof Anfang Mai die "Frage der revolutionären
Gegengewalt". Ein "Onkel Tupa" verteidigt Ulrike als
Genossin und kritisiert das Verhalten vieler Linker, die Stadtguerilla nicht
mehr als Teil der revolutionären Politik anerkennen. Gerade in Hinsicht
auf die KPDs, die wortgewaltig vom Aufstand des Proletariats und
"Volkskrieg" reden, aber keinerlei praktische Schritte in diese
Richtung unternähmen. Kritisiert wird auch das heute noch existierende
"Komitee zur Verteidigung demokratischer Grundrechte", welches
"schon wieder fleißig gewaltlose Formen des Widerstands
vorschlägt, natürlich nur ganz allgemein mit mitleidig resignativer
Haltung denen gegenüber, die erzählten, daß sie bei eben
solchem Widerstand von den Bullen bedenkenlos aufgemischt wurden". Als
Beipiel für eine "solidarische Kritik an Gueriallaaktionen"
wird ein Redebeitrag "Frankfurter Genossen" auf dem
Pfingstkongreß des SB erwähnt. Dort hieß es u.a.:
"Wir können uns aber nicht einfach von den Genossen der
Stadtguerilla distanzieren, weil wir uns dann von uns selbst distanzieren
müßten, weil wir unter demselben Widerspruch leiden, zwischen
Hoffnungslosigkeit und blindem Aktionismus hin- und herschwanken. Aber aus
demselben Grund müssen wir die Aktionen der Genossen der Stadtguerilla
entschieden angreifen, weil wir wissen und fühlen, daß sie
Selbstaufgabe bedeuten, den Verzicht auf Leben, den Kampf bis zum Tod und damit
die Selbstvernichtung. Gerade weil unsere Solidarität den Genossen im
Untergrund gehört, weil wir uns mit ihnen so eng verbunden fühlen,
fordern wir sie von hier aus auf, Schluß zu machen mit diesem Todestrip,
runter zu kommen von ihrer 'bewaffneten Selbstisolation', die Bomben
wegzulegen und die Steine und einen Widerstand, der ein anderes Leben meint,
wieder aufzunehmen."
Der Redner wird nicht namentlich erwähnt, aber es sei verraten,
daß er heute wieder gegen Steine und für Bomben ist - Joschka
Fischer, damals Vorsprecher der Frankfurter Spontigruppe RK
(Revolutionärer Kampf).
Auf Seite vier wird die eben erschienene Nullnummer der Frauenzeitschrift
COURAGE kurz vorgestellt, aber ein paar Seiten weiter geht der in der
ersten Nummer ausgelöste Streit mit der Frauenbewegung ernsthaft los. (Die
COURAGE war einige Zeit lang das linke Gegenstück zur EMMA,
ging aber nach einigen Jahren pleite.) Die Frauen von VIVA-Repro hatten sich
geweigert die Filme für die zweite radikal herzustellen.
Auslöser war der erwähnte "effe"-Artikel in der ersten
Nummer mit seiner Kritik am "Separatismus" der Frauenbewegung im
allgemeinen und am Berliner Frauenzentrum.
Die VIVA-Frauen begründeten ihren Schritt so: "Die Frauenbewegung
wird als sektiererische Gruppe angesehen, in der Frauen mit einer abgehobenen,
zerstörerischen Ideologie konfrontiert werden. Tatsache ist, daß die
Frauenbewegung aus vielen Frauengruppen mit verschiedenen Ansätzen
besteht, wo Frauen versuchen, gerade die Symptome, die die Autorin als
Auswirkungen beschreibt, in ihren gesellschaftlich (patriarchalisch
kapitalistischen) Auswirkungen zu begreifen und neue Ansätze und
Möglichkeiten solidarischer Verhaltensweisen zu entwickeln. Die Trennung
Frau/Mann ist keine von der Frauenbewegung konstruierte, sondern eine
gesellschaftlich vorhandene. Gerade weil viele Frauen anfingen, dies zu
begreifen, ist die Frauenbewegung entstanden. Sie ist der Versuch, sich der
Verstümmelung durch die Gesellschaft bewußt zu werden und keine
Anti-Mann-Bewegung, wie der Artikel suggeriert. Sie richtet sich solange gegen
Männer, solange diese ihre 'degenerierten barbarisch verformten
Bedürfnisstrukturen und Lustformen' (radikal Nr. 1) nicht
aufbrechen und damit auch jeden notwendigen Ansatz von Frauen, die dies
versuchen, unterdrücken, weil es für sie jetzt SELBST
Veränderung bedeuten würde. Gerade durch die Polemiken wie sie in der
radikal erscheinen werden diese Veränderungsversuche, die wir
unterstützen wollen, boykottiert." Die radikal-Autorin
verteidigt in derselben Ausgabe ihre Position noch einmal.
In späteren Nummern wird immer wieder über diese Auseinandersetzung
berichtet, mal dürfen Handverkäuferinnen die radikal in einer
Frauenkneipe nicht anbieten, mal bekam die radikal eine provokative
Rechnung von der COURAGE für den Nachdruck eines Artikels, die dann
nicht bezahlt wird, mal schreiben radikal-Männer über die
Frauenbewegung, wobei sie das Zeitungsmotto der "linken Einheit"
aus sozialistischer Sicht auf die Frauen(bewegung) ausdehnen und sie zur
Rückkehr in die Linke auffordern. Diese Position war Mitte der 70er Jahre
weitverbreitet, der Kampf um die Anerkennung von Frauenautonomie in
Organisation, Theorie und Praxis war jung und heftig.
Im März 1977 weigert sich dann die radikal-Druckerei contrast
einen Artikel zu drucken, in dem die Frauenzeitung Schwarze Botin
heftig - und unsolidarisch - als reaktionär bezeichnet worden war.
contrast zitiert den Ausspruch eines radikal-Machers, der den
"historischen Materialismus als die wissenschaftliche Methode, mit der
alles zu erklären, zu analysieren, zu verändern ist"
bezeichnet hätte, lehnt diese Art von "Kanzeltheorien und
Dogmatismus" ab und wendet sich gegen Haupt- und
Nebenwiderspruchstheorien. In einer folgenden Erklärung der
radikal-Frauen gestehen sie der Druckerei das Recht zu, Sazz und Druck
von Artikeln vorerst zu verhindern, bis in einer Diskussion die Punkte
geklärt werden können.
Kurz zuvor hatte sich ein anderes linkes Kollektiv, nämlich AGIT-Druck,
geweigert, das Rotfront-Stadt-Info des KB zu drucken, weil in ihm das
Frauenzentrum angegriffen wurde. Es wäre also auch der radikal
möglich gewesen, in der Linken bereits bekannte fortschrittlichere
Positionen zu beziehen.
Aus heutiger Sicht lag die radikal damals voll daneben, wenn auch
vielleicht weniger als diverse Massensekten. Deren Positionen zur
Frauenbewegung wurden in der Nr. 5 ausführlich wiedergegeben. Der
Kommunistische Bund Westdeutschland KBW lehnte den SS 218 ab ("Die
Arbeiterklasse muß ihn zu Fall bringen"), betont in einer Beilage
seiner Kommunistischen Volkszeitung jedoch: "ein Schreckbild des
Fortschritts ist der bürgerliche Feminismus. Dieser rücksichtslose
bürgerliche oder kleinbürgerliche Individualismus hat mit der
Befreiung der Frau im Zuge der sozialistischen Revolution nicht das geringste
zu tun. Er ist vielmehr direkt gegen diese Revolution gerichtet."
Überdies werde "mit der Losung 'mein Bauch gehört mir',
wie sie die Trotzkisten aufgestellt haben, nichts in Bewegung gesetzt".
Die KPD wähnte "die Ziele der bürgerlichen Frauenbewegung
weitgehend erreicht", denn: "der vollen Konkurrenzfähigkeit
der Frau mit dem Mann stehen in der BRD nahezu keine juristischen Hemmnisse
mehr entgegen", ansonsten müsse der "Kampf um die
Emanzipation der Frau als Teil des Emanzipationskampfes der Arbeiterbewegung
geführt" werden. KB und GIM äußern sich eher positiv zur
Frauenbewegung, betonen aber, daß endgültige Befreiung erst nach der
sozialistischen Revolution möglich sei, für deren Durchführung
eine gemeinsame Organisation nötig sei.
In der Nr. 3 wurde der von Beginn an formulierte Vermittlungsanspruch der
radikal anläßlich der Bundestagswahl umgesetzt und
Stellungnahmen der diversen "Zentralkomitees", "Leitenden
Gremien" oder Ausschüssen von Gruppen eingeholt, die sonst nie
gemeinsam auftraten oder veröffentlichten. KBW, KPD, KPD/ML, DKP,
Spartacus-Bund, GIM, SB erklärten nebeneinander auf jeweils 100 Zeilen,
wieso sie selbst zur Wahl antraten, sie boykottierten oder zur Wahl des
"kleineren Übels" rieten.
In den dokumentierten Stellungnahmen fiel der Unterschied zur Sprache der
anderen radikal-Artikel augenfälligst auf. Das brachte
irgendjemanden dazu, in die Nr. 7 einen Grundkurs im "K-deutsch für
Anfänger" zu setzen.
Auch wenn die Stellungnahmen heute eher anachronistisch klingen, trug dieser
Ansatz später zur Gründung der Berliner Alternativen Liste bei, auf
deren konstituierender Versammlung sehr viele ehemalige und noch aktive
Mitglieder einiger dieser Gruppen mitstimmten (nach Erinnerung von Anwesenden
um die 70% der Versammelten) und zu AL-Mitgliedern wurden. Die radikal
war ein sowohl offenes als auch über ihre damaligen
Redaktionsmitglieder informelles Forum bei der Diskussion über ein
Zusammengehen in der AL gewesen.
Die "Alternativzeitungen"
Im Selbstverständnis der ersten Redaktion war die radikal so
etwas wie eine Stattzeitung und wollte nicht nur einen politischen, sondern
auch praktischen Informations- und Gebrauchswert für den Alltag der
(linken) LeserInnen haben. Deshalb Veranstaltungshinweise, Kleinanzeigen oder
z.B. ab Nr. 4 ein großer roter Punkt zum Ausschneiden auf der letzten
Seite. In die Windschutzscheibe geklebt, war er Symbol der
"Rote-Punkt-Aktion" und signalisierte die Bereitschaft zum
Mitnehmen von allen, denen die Preiserhöhungen der Verkehrsbetriebe auch
nicht gefielen. Neben dem Punkt stand ein "offener Brief an die Berliner
Linke", in dem zu "Automaten entwerten, Kartenklau,
Kartennachdruck, Brandsätze..." aufgefordert wurde.
Die zunehmenden Verkaufsstellen der radikal in Kneipen, Kiosken und
linken Kinos sollten auf einen größeren Vertrieb hinauslaufen - der
nie zustande kam -, und eine Möglichkeit zu abonnieren gab es ab der
dritten Nummer, ausgerechnet über die Adresse der damals noch linken
Wohlthat'schen Buchhandlung in Berlin, die heute sicher nicht mehr die
radikal, aber Ramschbücher und auch "Erotikfilme der etwas
härteren Gangart" im Sortiment hat.
Der ewige Anspruch Wochenzeitung wurde für kurze Zeit im Sommer
1977 realisiert, aber nur die Nummern 20-22 erschienen in dieser
Geschwindigkeit, dann waren die RedakteurInnen völlig geschafft, und es
wurde wieder auf den zweiwöchentlichen, gelegentlich monatlichen
Erscheinungstermin umgestellt.
Die typische Frage aller Zeitungsmenschen, "Wer liest uns
eigentlich?", fand sich auf einem beigelegten Fragebogen im März
1977. "Liest Du regelmäßig radikal? Wie gefällt
Dir der Name? Womit setzt sich radikal zuwenig/zuviel auseinander? Wie
gefällt Dir das Layout, Format usw.? Hast Du Verbesserungsvorschläge?
Welche anderen linken Zeitungen liest Du? Wärst Du bereit, in irgendeiner
Form bei radikal mitzuarbeiten?" Die letzte Frage war gezielt,
denn die zunehmende Arbeit in Herstellung und Vertrieb verlangte nach mehr und
neuen Leuten. Die Redaktion bestand zwar zeitweise aus 16 Personen, aber die
Fluktuation war abgesehen von einer Kerngruppe ziemlich hoch.
Berichte von Gruppen kamen eher selten von selbst, sondern mußten
angemahnt, wenn nicht eh selbst verfaßt werden. Ein Stimmungsbild unter
der Überschrift "Wie eine neue radi entsteht" begann
folglich, daß die Frage eher sei: "Entsteht eine neue
radi?"
Trotz der zeitungsinternen Probleme wurde fast von Beginn an an einer
Vernetzung mit anderen Zeitungen gearbeit. In Westberlin existierten seinerzeit
ca. 20 "alternative" Zeitungen und Zeitschriften, von KOZ -
Kreuzberger Obdachlosen Zeitung, Extra-Dienst und Info-BUG
über den Weddinger Hammer bis hin zur Keule, dem Chamisso
Blatt, der Posaune Neukölln und den Schwarzen
Protokollen.
Auf Anregung der radikal entstand das monatliche
Alternativzeitungstreffen Westberlin, über das es in der Nr. 14
hieß: "Unsere Interessen berühren sich an wichtigen
Punkten, die ein gemeinsames Handeln erfordern:
1. Gemeinsam kämpfen wir gegen das bürgerliche Meinungsmonopol und
die subtile Hetze aus dem Hause Springer, gegen das Prinzip der
profitorientierten Produktion von Information und Meinung.
2. Daraus folgt, daß wir uns permanent wehren müssen
- gegen Zensur und Beschlagnahmepraktiken,
- gegen den allgegenwärtigen ökonomischen Druck und den daraus
resultierenden Stress, den es bedeutet, 'nebenher' eine Zeitung zu
machen. Unsere technischen Mittel sind sehr begrenzt.
-Gegen die Unterdrückung unserer Zeitungen an den Kiosken und die
Aussperrung vom bürgerlichen Vertriebssystem,
- gegen das Versacken in der bornierten Isolation einer kleinen Szene
einerseits und gegen Integration und Aufgabe unseres alternativen Ansatzes
andererseits (kein Profit, möglichst geringe Arbeitsteilung, keine
Hierarchie, keine abgehobene Professionalisierung etc.),
- gegen die Konkurrenz untereinander (nicht zu verwechseln mit politischer
Auseinandersetzung),
- schließlich ganz allgemein gegen die Bedeutungslosigkeit, zu der wir
verurteilt sind, solange wir uns mehr mit uns selbst und unseren
Gegensätzen, als mit unseren Zielen und Gemeinsamkeiten
beschäftigen."
Die Resonanz auf die Einladung zu diesem Treffen war enttäuschend,
zunächst kamen nur fünf Projekte. Als Gründe wurden
"Genosse Schlendrian, möglicherweise prinzipielles Mißtrauen
und Berührungsängste" vermutet. Das sei aber überwindbar,
immerhin gehe es um konkret benennbare (gemeinsame) Interessen wie
"Informationsaustausch, Technische Koordination, Koordination von
Schwerpunktthemen, gegenseitige Unterstützung bei Angriffen von Bullen und
Justiz".
Überregionale Treffen brachten sehr verschiedene
"Alternativzeitungen" zusammen. Das Blatt - Stadtzeitung
für München (Auflage 14.000 vierzehntäglich) war ebenso
vertreten wie der Giessener Anzünder (500,
unregelmäßig), Wat löppt aus Wuppertal (2.000
monatlich), Kieler Fresse (800, unregelmäßig) oder Kompost
- Grüne Kraft (5.000, viermal jährlich "zu den
Zeitenwenden"). Die Unterschiede erlaubten jenseits persönlichen
Kennenlernens nur Minimalkonsensentscheidungen, z.B. auf dem dritten
überregionalen Treffen im Januar 1977 die Einrichtung eines
Solidaritätsfonds gegen die Prozeßflut, der einige Projekte
ausgesetzt waren. (Einzahlungen blieben allerdings freiwillig, und es entzieht
sich der Kenntnis d.A., wie nützlich dieser Fond später war.) Auch
sollten die "ins Schußfeld der Zensurbehörden geratenen
Zeitungen" durch den "Abdruck der angegriffenen
Veröffentlichung" unterstützt werden. Um die Kräfte zu
bündeln, wurde die zeitgleiche bundesweite Behandlung von
Schwerpunktthemen vereinbart, für den zurückliegenden Dezember waren
es bereits die "Kernkraftwerke" gewesen, im März
"Werkschutz", im April "Knast", im Mai
"Neofaschismus in der BRD".
Bei späteren bundesweiten Treffen stand neben der Repression die
Tageszeitungsdebatte und die Existenz des ID im Zentrum.
Repression
In der Nr. 18 erschienen am 21.4.77 auf zwei Seiten Artikel unter der
Überschrift "Buback." (der Punkt hinter dem Namen war sicher
Absicht), in denen unterschiedliche Bewertungen zu seiner Erschiessung durch
die RAF nachzulesen waren. Der eine beginnt mit den Worten: "In der
radikal-redaktion gibt es keine einheitliche einschätzung über
die sache mit buback. das finde ich auch in ordnung, denn wir sind keine
homogene masse. und unsere zeitung lebt gerade durch die möglichkeit,
verschiedener meinung zu sein, sie aber auch äußern und plazieren zu
können, im gegensatz zu parteizeitungen." Am 5.6.1978 kam es wegen
anderer Passagen in dieser radikal zu einem Prozeß vor dem
Amtsgericht Tiergarten wegen "Verunglimpfung des Andenkens Verstorbener
(SS 189 StGB)". Kriminalisiert werden sollten Zitate wie "sich
als Mann der Praxis in die Tradition der politischen Justiz stellte, die auch
durch den Faschismus nicht durchbrochen worden war", oder
"karrieristischer Technokrat", "Bulle" und
"rücksichtsloser Menschenjäger" bzw. "Die
Ermordung von Holger Meins, Siegfried Hausner und Ulrike Meinhof markieren
seinen Weg".
Die Anklage lief gegen den im Impressum genannten presserechtlich
Verantwortlichen. Im Verlauf des Prozesses versuchte die politische
Staatsanwaltschaft noch eine "Verletzung der Sorgfaltspflicht des
presserechtlich Verantwortlichen (SS 19.2 Berliner Pressegesetz)"
einzuführen, die aber im Urteil nicht vorkommt. Schlußendlich gab es
25 Tagessätze à 35 DM (=875 DM) plus ca. 700 DM Gerichtskosten. In
der folgenden Nummer kündigte die radikal an, Berufung einzulegen.
Daß die dann wieder zurückgezogen wurde, gehört in die
unvermeidliche Rubrik: Streitereien in linken Projekten. Als der
Berufungstermin am 2.4.79 anstand, war der presserechtlich Verantwortliche
schon AL-Abgeordneter in Schöneberg geworden, und in der Redaktion
saßen z.T. andere Leute - die aber seinen Namen noch im Impressum
gelassen hatten. Aus Gründen, über die sich die Betroffenen schon
damals nicht einig waren, wurde der Termin der Berufungsverhandlung in der
radikal nicht mal angekündigt, und weil sich der alte
"Verantwortliche" allein gelassen fühlte, zog er die
Berufung kurzfristig zurück. (Dahinter stand auch die nicht unberechtigte
Einschätzung, daß der später noch als
"Honecker-Richter" bekannter gewordene Berufungsrichter
Bräutigam das alte Urteil eher verschärft hätte). Die
radikal-Redaktion schrieb dazu im Intro der Nr. 58 am 6.4.79:
"Betroffen und wütend mußten wir mitansehen, wie die
Berufung zurückgezogen wurde und mußten uns eingestehen, das wir in
diesem Moment nicht in der Lage waren, den Prozess kollektiv zu führen.
Das passiert uns nicht noch einmal." (Genau das sicherzustellen
sollte eine der Funktionen der später verwirklichten
"Zeitungskooperative" sein.)
Die radikal wurde in ihren ersten Jahren weit weniger vom Staatsschutz
behelligt als z.B. das Info-BUG. Anhand der radikal Nr. 27 vom
21.10.77 läßt sich die Repression und das, was als "Deutscher
Herbst" in die Geschichte der Linken eingegangen ist, beleuchten. Auf
dem Titel sind die Fotos von Jan Carl Raspe, Andreas Baader, Gudrun Ensslin und
Irmgard Möller mit dem unsäglichen Wort
"ENDLÖSUNG?" riesig untertitelt. In der fettgedruckten
Stellungnahme des "radikal - Redaktionskollektiv" wird die
staatliche Selbstmordthese detailliert angezweifelt, und sie endet damit,
daß sich die Redaktion "der Forderung nach einer
internationalen, unabhängigen Untersuchungskommission der Vorfälle in
Stammheim mit allem Nachdruck" anschließt. Es steht auch drin,
daß "dieser Artikel nicht leichtfertig verfaßt wurde. Wir
wissen, daß uns das gleiche blühen kann, wie den Info-Genossen, die
schon nach SS 129 mit einer Razzia überzogen wurden." An
anderer Stelle schreibt ein radikal-Redakteur: "Die
Gasgranaten und Willkürurteile in Malville (der Baustelle des
'Schnellen Brüters', wo 1977 ein Demonstrant von einer Schockgranate
getötet und viele vor Schnellrichter gestellt wurden, Anm.), die
Bürgerkriegsmanöver an den Kraftwerken in Brokdorf, Kalkar und
Grohnde, die praktizierten Todesschüsse, die Praxis des
Isolationsfoltergesetzes (gemeint ist das 'Kontaktsperregesetz', Anm.)
sprechen eine eindeutige Sprache. Ich habe Angst vor einer Mentalität, die
die Todesstrafe fordert und das Verlangen nach Lynchjustiz duldet. Und Angst
vor einer 'öffentlichen Meinung' und 'gleichgeschalteten'
Presse, die nichts mehr zu hinterfragen scheint."
Ein Artikel behandelt die Drohung aus CDU-Kreisen, die K-Gruppen zu verbieten,
ein anderer berichtet über die staatlichen Maßnahmen gegen 48
Professoren und Anwälte, die eine Solidaritätsveröffentlichung
des "Mescalero"-Nachrufs auf Buback unterschrieben hatten. (Die
meisten dieser "Promis" gaben klein bei, nur der
Psychologieprofessor Peter Brückner wurde auf Dauer von der Hannoverschen
Uni suspendiert, Anm.) Eine neue Kampagne gegen BILD wird auf einer
Seite mit Erinnerung an den "Sturm auf BILD 1968"
vorgeschlagen; Günter Wallraf hatte gerade enthüllt, was er dort
während seiner Arbeit unter falscher Identität erlebt hatte. Die
Arbeitsgruppe "Linke Tagesmedium/Tageszeitung", Keimzelle der
taz, stellt ihren Diskussionsstand vor und läd dazu ein, sich bei
der "Kontaktadresse Anwaltsbüro Ströbele" zu melden.
Berichte von den Unis oder über Repression gegen Schülerzeitungen -
eine hatte einen Bausatz für einen "Rasen-Sprenger"
veröffentlicht... - gehen in dieser radikal - Ausgabe eher unter.
Die letzte Seite berichtet über eine Durchsuchung im Anwaltsbüro
Ströbele, der eine ungenehmigte Zeitung an einen Gefangenen weitergeleitet
haben sollte, und über die eingangs erwähnte Razzia gegen das
Info-BUG:
"Am 17.10. durchsuchte ein Großaufgebot von insgesamt 240
Polizisten und 'Staatsschützern' 38 'Objekte', u.a. die
Druckerei AGIT, den Buchvertrieb Maulwurf, linke Buchläden (Commune,
Politisches Buch), das Büro des INFO und der Roten Hilfe, sowie zahlreiche
Privatwohnungen. Dabei wurden 11 Genossen festgenommen (einer direkt vom
Arbeitsplatz weg) und zu Verhör in die Friesenwache gebracht. Sie wurden
mit zum Teil erheblicher Gewaltanwendung erkennungsdienstlich behandelt. Gegen
den Geschäftsführer von AGIT wurde wegen 'Fluchtgefahr'
Haftbefehl erlassen. Tags drauf wurde der zweite Geschäftsführer
verhaftet. (Insgesamt kamen vier AGIT-DruckerInnen in U-Haft und wurden zu z.T.
längerem Knast verurteilt. Anm.) Die Durchsuchungsbefehle lauten
sämtlich auf 'Herstellung und Verbreitung der periodischen Druckschrift
Info-BUG', dem die 'Unterstützung terroristischer Vereinigungen nach
SS 129 a' vorgeworfen wird."
Unterschrieben ist der Bericht mit dem Aufruf, "massenhaft ab 17 Uhr
zur Herstellung des nächsten INFO in den Mehringdamm 99
(Keller)" zu kommen. Genau dieses Treffen, zu dem fast 200 Leute
gekommen waren, wurde von Staatsschutz und zwei Hundertschaften gestürmt,
wobei an die 40 GenossInnen festgenommen wurden. Das war der Punkt, ab dem das
Info-BUG nicht mehr öffentlich produziert und offen vertrieben
werden konnte.
Die Ereignisse gingen an der radikal-Redaktion nicht spurlos vorbei, im
Intro der Dezemberausgabe 1977 steht zu lesen: "Der Charakter der
Zeitung hat sich im Lauf des Jahres 1977 offensichtlich verändert.
Eindeutig haben die sogenannten kopflastigen Artikel zugenommen, die Berichte
von der 'Basis', also von arbeitenden Gruppen, Initiativen usw.
abgenommen. Dies kann Ausdruck der veränderten politischen Situation sein,
des immer größer werdenden Drucks, der den Öffentlichkeitsdrang
vieler Genossen lähmt. Dieser Eindruck wurde auf dem letzten nationalen
Treff der Westdeutschen Alternativzeitungen von vielen geteilt.
Ein weiterer Aspekt ist, daß nach den Aktionen Buback/Ponto/Schleyer
die Diskussion um die Frage der Gewalt und nach dem angedrohten K-Gruppenverbot
die Diskussion um Aktionseinheit und linke Bündnisse sich auch in der
radikal widergespiegelt hat. An den Fragen zum Thema Linke & Gewalt und
Aktionseinheit drohte die Spaltung der Redaktion.
Die Gründe können nur angedeutet werden: Angespannte
Arbeitssituation und die Dominanz einiger politischer
'Großköpfe' schufen ein angespanntes Diskussionsklima, die
rasche Abfolge der letzten Ereignisse, die Hilflosigkeit und die Ohnmacht
gegenüber dem verschärften Druck des Staates ließ die einzelnen
mit ihren unterschiedlichen politischen Standpunkten mit potenzierter Kraft
aufeinanderprallen. Gemeinsame Diskussion war nicht mehr möglich.
Wir fordern Euch alle nochmal auf, im neuen Jahr die radikal mehr als EURE
Zeitung zu benutzen und zu unterstützen."
Die "Zeitungskooperative"
Anfang September 1978 nahm der Plan einer Zeitungskooperative Gestalt an
und ließ sich bald realisieren, weil zwei linke Druckereien fusionierten
und dadurch Räume und Technik frei wurden. In einer Fabriketage der
Eisenbahnstraße 4 in Kreuzberg SO 36 standen Fotosatzgerät und
anderes zur Verfügung, die in Form der neugegründeten Firma
"Gegensatz - Druck- und Verlagsgesellschaft mbH" den technischen
Boden für die Kooperation von Zeitungen wie radikal, Dicke
Luft, HEZ (HeimerzieherZeitung), Junge Presse (ein
Zusammenschluß von Schülerzeitungen), Einundzwanzig -
Stadtteilzeitung für Moabit, das Foto-Archiv Zwielicht u.a.m.
bildeten. Der Sazz von von Zeitungen in Eigenregie sollte sie billig und
unabhängig machen, freie Kapazitäten konnten anderen
"alternativen Projekten zu solidarischen Preisen" zur
Verfügung gestellt werden. Die Zeitungskooperative selbst sollte als
Verein Gesellschafter von Gegensatz werden. Zudem sollte der
Zusammenschluß von mehreren Zeitungen und Projekten einen gewissen Schutz
vor zunehmenden Repressions- und Zensurmaßnahmen abgeben.
Tatsächlich bestand die Zeitungskooperative Anfang der 80er Jahre nur aus
der radikal, der Heimerzieherzeitung und der Dicken Luft
sowie dem Sazz- und Reprobereich. Einige aus der Redaktion gingen zu dem neuen
Berlin-Teil der taz und überließen den
Links-radikalen, die einige Sympathien für die damals schon nicht
mehr aktive Bewegung 2. Juni hatten, die Zeitung.
Die Zeitungskooperative stand weiter im Impressum der radikal, was ihrem
(formalen) Vorsitzenden Jahre später einen bekannten Prozeß eintrug.
Aber das ist eine andere Geschichte...
radikal - damals und heute
Es ist hier kein Platz, die Jahre der ersten radikal - Phase bis
1980 im Detail auszubreiten. Der Artikel hat auch nicht den Anspruch von
exakter Geschichtsschreibung, sondern will einen Eindruck von der Zeit und dem
Zeitungsprojekt geben. Vieles, was damals die Seiten füllte und irre
wichtig und heiß umkämpft war, fehlt hier.Die ausufernden Debatten
umThemen wie taz, Wochenzeitung, Anti-AKW und Netzwerk gehörten
dazu.
Was (leider) heute noch aktuell klingt, sind z.B. Berichte von Anfang 1978
über die Abschiebung von Pakistanis, die vor der Militärdiktatur
flüchteten und über die DDR nach Westberlin einreisen konnten. Schon
damals argumentierte der Senat mit angeblich zu vielen unberechtigt Asyl
suchenden Flüchtlingen, räumte Pensionen, richtete eine zentrale
Sozialhilfestelle ein usw. Ein "Ausländer" - diese
Bezeichnung ist auch bei linken Zeitungen gängig - berichtet in der
radikal: "Beim Verlassen der U-Bahn bzw. auf offener Straße
vor dem Betreten der Ausländerpolizei werden die Ausländer in
Mannschaftswagen verladen und in Polizeikasernen gebracht. Hier werden ihnen
Erklärungen vorgelegt, aus denen ersichtlich ist, daß sie in ihrer
Heimat keine Arbeit finden konnten und daher nach Berlin gekommen sind, um hier
zu arbeiten. Wird diese Erklärung unterschrieben, hat man kein Asyl
beantragt und eine Abschiebung ist 'rechtmäßig'. Ein
eventueller, nach dem Gesetz notwendiger gerichtlicher Prüfungstermin wird
zwar angesetzt, findet aber in der Regel erst statt, wenn der Ausflug, d.h. die
Abschiebung bereits gelaufen ist. Da die Pakistani keinerlei Möglichkeit
haben, überhaupt an einen Rechtsanwalt heranzukommen, ist ihnen die
Möglichkeit irgendwelcher Gegenmaßnahmen von vornherein
verschlossen."
Die antifaschistische Theorie und Praxis der späten 70er Jahre richtet
sich gegen die "Faschisierung des Staates" und gegen die
neofaschistischen NPD - Aktivitäten, auch die Mun-Sekte lief unter
"faschistisch", und wurden so militant angegriffen, daß
zwei Leute deswegen einige Zeit im Knast saßen. Insgesamt hatten diese
Themen aber nicht die heutige Bedeutung, und entsprechend klein waren die
Artikel in der Regel. Ein ganzseitiger Artikel in der Nr. 40 ist eine Ausnahme,
dort wird über das Treffen einer "Volkssozialistischen
Einheitsfront", das Ende April 1978 unter einem Transparent
"Rotfront verrecke!" stattgefunden hatte, berichtet. Aber
eigentlich geht es mehr darum, daß die Jusos (!) die "politische
Breitenwirkung ihrer 'Stoppt die Neo-Nazis und
Reaktionäre'-Veranstaltung nicht durch das Bemühen um eine
Aktionseinheit mit all den Menschen und Organisationen, die seit langem
faschistische Gedanken und Handlungen bekämpfen", gesucht hatten.
Knast war in der Linken seinerzeit ein wichtigeres Thema, und ziemlich
früh fand Knastkampf auch in der radikal Raum, das galt sowohl
für eigene Berichte über die Zustände im
"Normalvollzug" als auch dafür, daß ziemlich früh
das Berliner Knastblatt allen Ausgaben beilag. Auch Erklärungen von
politischen Gefangenen finden sich - Erklärungen zu militanten Aktionen
allerdings so gut wie nie in jenen Jahren, die standen immer im
Info-BUG.
Die radikal dieser Zeit war besser als ihr Ruf in späteren Jahren
und zu Unrecht wird sie heute erst ab 1980 wahrgenommen, denn auch die ersten
Hefte spiegeln einen wichtigen Teil der linken Geschichte. Die radikal
war kaum anders als die Linke jener Jahre, in manchem schlechter, in vielem
besser. Und das gilt wohl nicht nur für die ersten ihrer 20 Jahre.
Das Ende der ersten Phase und den Beginn der nächsten läutete das
nachfolgend dokumentierte Flugblatt aus dem April 1980 ein.