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Wed Sep 25 23:25:41 1996
 

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Die Geschichte der Vorgeschichte zur Geschichte

Die radikal von 1976 - 1980

Vielleicht wäre es nie zu einer 20jährigen Geschichte gekommen, wenn die radikal nicht radikal genannt worden wäre, sondern Berliner Rote, agit 76, Berliner Linke oder Reissbrett - Zeitung für Sozialismus. Diese Namen waren Anfang 1976 im Gründungskreis im Gespräch - einig wurde man sich zunächst nur auf den Untertitel Sozialistische Zeitung. (Die Ortsangabe für Westberlin kam kurz vor dem Druck der ersten Nummer hinzu.) Ein Jahr später war der Name radikal noch so umstritten, daß er in stattbild umgeändert werden sollte. Der Beschluß wurde erst nach Protesten von LeserInnen gekippt.
Der Gründungskreis war zusammengekommen durch eine Kleinanzeige im Berliner Extra-Dienst Anfang 1976, die ein ehemaliger 883-Redakteur aufgegeben hatte, um ein neues Zeitungsprojekt zu initieren. (Die 883 war um 1970 die wichtigste militante Zeitschrift, gegen fast alle Nummern hatte es Beschlagnahmebeschlüsse gegeben. Sie war 1972 nach internen Auseinandersetzungen eingestellt worden.)
Wie sah es 1976 in Westberlin aus? Die APO hatte sich gründlich zerlegt in rivalisierende Imitate der alten KPD, in Spontigruppen, Frauenbewegung, ungezählte Basisinitiativen vom Kinderladen bis zur Kneipe und nicht zuletzt in die verschiedenen Stadtguerillas.
KPD/AO, KPD/ML, KBW oder SEW waren im Gegensatz zu heutigen Organisationen keine winzigen Splittergrüppchen, sondern Massensekten, die durchaus Demos und Veranstaltungen mit ein paar tausend Leuten machen konnten. Auch das Sozialistische Büro SB, von dem nur noch die Zeitschrift links geblieben ist, die Proletarische Linke/Parteiinitiative PL/PI, Betriebsgruppen oder die Rote Hilfe - damals eine Spontigruppe ohne "e.V.", die mit "e.V." war die Konkurrenzgründung einer KPD - konnten nötigenfalls gut mobilisieren.
Die kommunistischen Parteizeitungen - die "Massenorgane" - führten je nach Linienstreit Marx, Engels und Lenin plus Stalin und Mao im Kopf. Offiziell hatten sie fünfstellige Auflagen, aber de facto füllten Rote Fahnen, Roter Morgen usw. die Keller der Mitglieder, die gezwungen waren, so und so viele Exemplare pro Ausgabe zum Verkauf abzunehmen. Endlose Reden und andere Ergüsse der kleinen Großen Vorsitzenden füllten die Seiten, die Parteien jubelten sich jeweils zur Avantgarde des Proletariats hoch und die anderen sich um Nuancen anders abkürzenden KPDs tief runter. Zustimmung oder Ablehnung zu Flügeln der chinesischen KP waren bedeutsamer als die Praxis im BRD-Alltag. Kurz gesagt, die meisten Parteizeitungen waren unlesbar.
Von Berliner Undogmatischen Gruppen gab es seit 1973 das INFO-BUG, zunächst als zusammengeheftete Text- und Flugblättersammlung, später in kommunikativer Funktion und Aussehen der INTERIM ähnelnd, allerdings von einer offenen Redaktionsgruppe an bekanntem Ort und mit der ausdrücklichen Einladung gemacht, zu Redaktionssitzungen und zum Zusammenlegen vorbeizukommen.
Daneben gab es seit kurzem die ersten Stattzeitungen wie HOBO, dem Vorläufer von ZITTY, und Faltblätter von Bürgerinitiativen, z.B. der BI gegen das heute längst verwirklichte Kraftwerk Oberhavel. Überregional existierte seit 1973 der ID - Informationsdienst für unterbliebene Nachrichten, der wöchentlich in einer Auflage von einigen tausend Exemplaren das bedeutendste Medium der undogmatischen Linken war und bis Anfang der 80er Jahre blieb.
Die Ende der 60er Jahre noch einig wirkende Linke war wie gesagt zerfallen, manchmal bis zu innigstem Haß aufeinander. Zusammen mit dem Rollback durch den sozialdemokratischen Sicherheitsstaat des "Modells Deutschland" war das die Situation, in der die radikal entstand.
Im internen Zeitungskonzept der noch namenlosen radikal, das hier zum ersten Mal ausführlich abgedruckt wird, fand das seinen Niederschlag:
"Die gegenwärtige Linke ist stark differenziert mit ihrer Vielzahl von Gruppen, Organisationsformen und politischen Linien. Mit der Herausbildung von dezidierten politischen Positionen verlief aber auch die Entwicklung zu ideologischer Abgrenzung und organisatorischer Spaltung.
Heute ist die Situation gekennzeichnet durch einen Verlust an innerem Meinungsaustausch und fruchtbarer politischer Auseinandersetzung. Durch die Zersplitterung verstärkte sich der Mangel an Information und Koordination, so daß Doppelarbeit, Konkurrenzverhalten, Sektiererei und andere Übel um sich griffen. So blieb die Arbeit der Linken weitgehend wirkungslos und ihre Ausstrahlung oft negativ.
Es ist klar, daß dieser Prozeß in Beziehung steht zu der Verschlechterung der Lebensbedingungen als Folge der spezifischen Bedingungen des Kapitalismus und der fortschreitenden Repression durch Justiz und Staatsapparat. Radikalenerlaß, Berufsverbote, Einschränkung der Verteidigerrechte, Terrorurteile, der neue Zensurparagraph 88a, Mobile Einsatzkommandos, Aufrüstung des BGS und BKA usw. schaffen für jeden einzelnen ein gesellschaftliches Umfeld an Bedrohung, das ein möglichst einheitliches Vorgehen aller Betroffenen unerläßlich macht.
Es erscheint uns dringend notwendig, über das Mittel eines zentralen Informationsträgers das Netz der Verbindungen unter den Linken enger zu knüpfen, über Aktionen und Kämpfe in dieser Stadt, die auf die Einschränkung der staatlich-kapitalistischen Macht gerichtet sind und die eine neue Gesellschaftsform anstreben, zu berichten sowie die Diskussion über alle wichtigen Fragen in demokratischger Offenheit zu führen. Durch eine unbedingt solidarische Form müssen diese Debatten bei Wahrung aller Unterschiede die Gemeinsamkeiten der verschiedenen linken Anstrengungen immer wieder hervorheben und stärken.
Mit der Zeitung sollen also die innere Auseinandersetzung, Klärung und Verständigung der linken Gruppen technisch und inhaltlich verbessert und die politische Ausstrahlung der Gruppen nach außen vergrößert werden.
Eine weitere wichtige Zielsetzung liegt in der Unterstützung aller Ansätze, die persönlichen Lebensprobleme der Genossen durch verschiedene praktische Dienste zu erleichtern und Ansätze zu einer eigenen, den politischen Kampf unterstützenden Ökonomie zu stärken. Gerade hier in dem Versuch der ansatzweisen Aufhebung der Trennung der politischen Arbeit vom persönlichen Privatbereich sehen wir eine Chance zur Erhöhung der politischen Schlagkraft.
Es scheint uns wichtig, daß die Linke mehr als bisher konkrete Formen entwickelt, um bei Arbeitslosigkeit, Berufsverbot, Wohnungssuche, Kindererziehung usw. Hilfen zu geben, die keimhaft Strukturen der neuen Gesellschaft vorbereiten.
Wenn solche Formen stets unter dem Primat der Politik stehen und eingebunden in den allgemeinen Kampf vorangetrieben werden, schätzen wir die innewohnende Gefahr zu illusionärem und reformistischem Handeln relativ gering ein.
Die Zeitung wendet sich an alle Gruppen und Individuen, die eine Überwindung des kapitalistischen Systems und den Aufbau einer ausbeutungsfreien Gesellschaft für nötig halten. Sie rechnet also mit Lesern der ML-Organisationen, der SEW, der Trotzkisten ebenso wie mit Interessierten aus linken Fraktionen bürgerlicher Parteien, Gewerkschaften und Jugendorganisationen.
Zu dem möglichen Leserkreis zählen auch Mitglieder sozial engagierter Berufsgruppen, Basisgruppen wie Kinderläden und Bürgerinitiativen. Weiten Raum möchte die Zeitung den 'sprachlosen' Einzelgenossen und kleineren Aktionsgruppen ohne eigene Zeitung einräumen.
Ein linkes Blatt, das lebendig gemacht ist, das sich um die Belange der eigenen Leute kümmert, das die theoretische Debatte wieder zusammenfaßt, berichtet und offen und solidarisch austrägt, wird auch über die linken Zirkel und stärker nach außen wirken.
Letztlich also bemüht sich die Zeitung um Basisverbreiterung."
Erst als dieses Zeitungskonzept ausdiskutiert war, wurden per Aufruf und Briefe linke Gruppen und Individuen zu einem Informationstreffen zum Aufbau einer sozialistischen Wochenzeitung in Westberlin eingeladen.
Am 20.5.1976, um 20 Uhr im SZ, dem "Sozialistischen Zentrum" in der Moabiter Stephanstraße 60, einem heute längst vergessenen Zentrum der Linken in Westberlin, und ein paar folgenden Donnerstagen entstand die erste Redaktionsgruppe, etwa zehn Leute, mehr Männer als Frauen, mit einer Ausnahme um die 20, also Nach-68erInnen.
Organisiert war - nach den Erinnerungen einiger von damals - niemand, höchstens an der Uni im USTA, dem Unabhängigen Studenten-Ausschuß. Erfahrungen im Zeitungsmachen brachte einer von 883 mit, andere höchstens von Schüler- oder Studentenzeitungen. Das Geld für die erste Ausgabe wurde per Spenden, durch ein paar Buchladen- und Kneipenanzeigen und von den radikal-MacherInnen aufgetrieben. Ein stadtbekannter FU-Professor gab einen Kleinkredit - der nie zurückgezahlt werden konnte.
Die radikal sollte in jeder Hinsicht gut lesbar sein. Sprachlich sollten die Artikel nicht wie die Organisationssprechblasen oder das öde Szenekauderwelsch klingen, sondern für alle angepeilten LeserInnenkreise verständlich formuliert werden. In visueller Hinsicht wurde für damalige Verhältnisse modern gesäzzt mit einem IBM-Kugelkopf-Composer (PCs gab's noch nicht), dessen Papierausdrucke mit einer Reprokamera abfotografiert werden mußten.
Das Layout sollte viele Fotos und Karikaturen enthalten, was sich bei Klebelayout mit Letra-set und hohen Reprokosten für Fotos allerdings selten einlösen ließ. Dennoch unterschied sich die radikal von Anfang an nicht nur inhaltlich, sondern auch im Aussehen von den ML-Blättern oder dem einfacher gemachtem Info-BUG.
Zudem bekamen 1976 die ersten linken Druckereien größere Offsetmaschinen, wodurch das damalige A3-Zeitungsformat der radikal erst möglich wurde.

Die erste radikal
Am 18.6.1976 erschien die erste Nummer in einer Auflage von 3.000 Exemplaren, die bis auf ein paar hundert im Handverkauf und von einigen Kneipen und Buchläden Westberlins verkauft wurden. Abonnements gab es noch nicht, und so gut wie keine Zeitung wurde außerhalb der Stadt vertrieben. Das Titelbild zeigte einen überdimensionalen Daumenabdruck, untertitelt mit einem indirekten Zitat des knapp ein Jahr später von der RAF erschossenen Generalbundesanwalts Buback: "Es sei wünschenswert, wenn die Fingerabdrücke sämtlicher Staatsbürger der Bundesrepublik aufgenommen würden. Dies sei zur Zeit aus politischen Gründen leider noch nicht erreichbar."
Auf 16 Seiten fanden sich Berichte von einem "Mieterfest" in der Kurfürstenstraße, mit dem sich eine Mieterinitiative gegen Schnellstraßenpläne des Senats wehrte, einer "gemeinsamen" (das war im Original dick unterstrichen) Aktion von KB, KBW und Anti-Apartheid-Bewegung gegen den Auftritt eines deutschen Chors aus Südafrika, oder über das Therapiezentrum Friedenau, in dem bewegungsgestörte Kinder gemeinsam mit nichtbehinderten Kindern aufwuchsen, und "Elternproteste gegen Sparmaßnahmen in der Schule". Auf Seite vier findet sich eine kleine Meldung der "Bürgerinitiative Westtangente", in der gegen den Plan protestiert wird, den Tiergarten durch einen Tunnel zu zerstören - was damals verhindert werden konnte feiert heute als Hauptstadt-Berlin-Projekt einen späten Sieg. Die trotzkistische GIM (Gruppe Internationaler Marxisten) wirbt auf derselben Seite für ihr Organ, die internationale, daneben der Laden für Spielmaterial - "Keine privaten Profite!" - des Kinderzentrums, und gegenüberliegend finden sich "Wichtige Hinweise für Demonstranten! AUFBEWAHREN!", mit Tips zu Kleidung, Demoverhalten und Juristischem. Eine halbe Seite Kleinanzeigen ist extra getitelt mit "dienste".
Die nächsten vier Seiten drehen sich grafisch und textlich um Berufsverbote, Aufrüstung, Todesschußgesetz und was der spezialdemokratische Sicherheitsstaat noch so mit sich brachte. Seite 10/11 enthält die Rubrik "forum", eingeleitet mit der Bitte: "Genossen, wenn ihr den Platz im FORUM nutzt, versucht möglichst klar und kurz zu argumentieren." Der ASTA/USTA schreibt dort über seine Entstehungsgeschichte "mit Stellungnahme von KBW, GIM, KB", schließend mit einem Dutschke-Zitat: "Die bürgerliche Öffentlichkeit ist so auf den Hund gekommen, da ist kein Licht mehr, da ist nur noch Dunkel und Verdunkelung." Ein zeitlos wahrer Satz.
Mit dem Artikel auf Seite 12 setzte sich die radikal in ihr erstes dickes Fettnäpfchen. "effe - Provokation für eine intensive politische Auseinandersetzung in der Frauenbewegung" kritisierte den "insularischen separatismus" (fettgedruckt im Original) als "ausdruck repressiver bedürfnisstrukturen unter den gegenwärtigen produktionsverhältnissen, die von den menschen isolation und selbstaufgabe zur aufrechterhaltung der herrschaftsverhältnisse fordert". Für die Autorin des Artikels war "die selbst gewählte frauenisolation nur ein teil eines chaotischen kleinkapitalistischen sektiererhaufens von gesellschaftlichen individuen, die sich bis zur apokalypse dreht und wendet, aber nicht für einen neuaufbau zusammenbricht, höchstens am rande etwas abbröckelt." Bei soviel sozialistisch-orthodoxer Ignoranz half auch der gegenüberstehende Aufruf für das "Erste Frauenfest an der Pädagogischen Hochschule am 25.6." nichts, die Reaktionen aus der Frauenbewegung auf die radikal folgten und spielten in den nächsten Ausgaben und - da sind sich die damals beteiligten RedakteurInnen nicht ganz einig - bei den Redaktionssitzungen selbst eine ziemliche Rolle.
Das heute noch existierende "Terzo Mondo", eine griechische Kneipe in Charlottenburg, ist mit einer Anzeige vertreten. Der damalige Wirt, ein linker Patriarch, den seine Angestellten später heftig und mit Hilfe von Aufrufen in der radikal bestreikten, ist heute der griechische Wirt in der "Lindenstraße"...
Seite 14/15 berichtet über den "Pfingstkongreß des Sozialistischen Büros in Frankfurt", dessen Thema politische Repression und ökonomische Ausbeutung sowie die "Frage der Organisation sozialistischer Politik" waren und der damals aufgrund der großen TeilnehmerInnenzahl verschiedenster Linker als Erfolg angesehen wurde.
Seite 16 ist die Terminseite, wo ein "DRITTE WELT FORUM mit Berichten ausl. Stud. über ihre Heimatländer, Diskussion", oder eine "IRAN-CHILE-SOLIDARITÄTSVERANSTALTUNG von MIR (Bewegung der revolutionären Linken, eine militante chilenische Organisation, Anm.) und CISNU (linke iranische Organisation, die die meisten Anti-Schah-Aktionen trug, Anm.)" in der alten TU-Mensa sowie ein "Solidaritätskonzert für die politischen Gefangenen in Spanien im Audi Max der TU" angekündigt wurden.
Im Frauenzentrum gab es "montags und donnerstags 19.00 Schwangerschafts- und Verhütungsberatung" und "BIFF (Beratung u. Information für Frauen: Rechtsberatung, Ausbildung, Mieterberatung, Psychologie usw.) jeden Montag 10 -12, 20 - 22 Uhr".
Die lakonische Bemerkung der radikal-Redaktion: "Die KPD teilte uns auf telefonische Anfrage mit, daß sie in dieser Zeitung keineTermine veröffentlichen will" beendet diese erste radikal.
Das Titelbild der zweiten spiegelt stark symbolisiert unterschiedliche Positionen in der Redaktion wie auch der damaligen Linken generell: Ein Gemälde von "Emile Henry, der 1894 eine Bombe gegen trinkende und prassende Bourgeois in einem Pariser Lokal warf" ist untertitelt mit dem Mao-Zitat "Wenn das Bewußtsein der Massen noch nicht geweckt ist, und wir dennoch einen Angriff unternehmen, so ist das Abenteurertum".
Im Intro von Nummer zwei geht es nochmal um das Selbstverständnis der radikal.
"radikal will in erster Linie nützliche Sachen tun, die potentiell allen Linken Vorteile bringen: Umfassender Veranstaltungskalender, Kleinanzeigen, juristische Tips, Bücherlisten, möglichst viele Berichte über Aktivitäten an der Basis, Raum für Diskussion, Gegenüberstellung von Standpunkten, Platz für Leserbriefe und Zuschriften von unorganisierten Genossen. Wir sagen klar: das ist ein linkspluralistisches Konzept, obwohl dies Wort den weitgehendsten Verdächtigungen die Tür öffnen mag. Wir machen mit radikal den Versuch, ein Kommunikationsmittel anzubieten, das als Drehscheibe, Mittler oder Multiplikator dienen soll für Praxis und Theorie von Organisationen und Einzelgenossen. Dabei ist ein Hauptmotiv unserer Arbeit, einen Beitrag zu leisten auf dem schwierigen Weg zur Solidarisierung der Linken.
Noch einen wichtigen Punkt möchten wir klären. Wir sind oft auf unser Verhältnis zum Info-BUG angesprochen worden. Wir stehen nicht in Konkurrenz dazu, sonst hätten wir gar nicht angefangen. Das Info vertritt die undogmatischen Gruppen. Es befaßt sich stark mit Vorgängen in der 'Sponti-Scene'. Seine Verbreitung ist auf diesen Bereich beschränkt."
Im Zentrum der Ausgabe steht anläßlich des Todes von Ulrike Meinhof Anfang Mai die "Frage der revolutionären Gegengewalt". Ein "Onkel Tupa" verteidigt Ulrike als Genossin und kritisiert das Verhalten vieler Linker, die Stadtguerilla nicht mehr als Teil der revolutionären Politik anerkennen. Gerade in Hinsicht auf die KPDs, die wortgewaltig vom Aufstand des Proletariats und "Volkskrieg" reden, aber keinerlei praktische Schritte in diese Richtung unternähmen. Kritisiert wird auch das heute noch existierende "Komitee zur Verteidigung demokratischer Grundrechte", welches "schon wieder fleißig gewaltlose Formen des Widerstands vorschlägt, natürlich nur ganz allgemein mit mitleidig resignativer Haltung denen gegenüber, die erzählten, daß sie bei eben solchem Widerstand von den Bullen bedenkenlos aufgemischt wurden". Als Beipiel für eine "solidarische Kritik an Gueriallaaktionen" wird ein Redebeitrag "Frankfurter Genossen" auf dem Pfingstkongreß des SB erwähnt. Dort hieß es u.a.:
"Wir können uns aber nicht einfach von den Genossen der Stadtguerilla distanzieren, weil wir uns dann von uns selbst distanzieren müßten, weil wir unter demselben Widerspruch leiden, zwischen Hoffnungslosigkeit und blindem Aktionismus hin- und herschwanken. Aber aus demselben Grund müssen wir die Aktionen der Genossen der Stadtguerilla entschieden angreifen, weil wir wissen und fühlen, daß sie Selbstaufgabe bedeuten, den Verzicht auf Leben, den Kampf bis zum Tod und damit die Selbstvernichtung. Gerade weil unsere Solidarität den Genossen im Untergrund gehört, weil wir uns mit ihnen so eng verbunden fühlen, fordern wir sie von hier aus auf, Schluß zu machen mit diesem Todestrip, runter zu kommen von ihrer 'bewaffneten Selbstisolation', die Bomben wegzulegen und die Steine und einen Widerstand, der ein anderes Leben meint, wieder aufzunehmen."
Der Redner wird nicht namentlich erwähnt, aber es sei verraten, daß er heute wieder gegen Steine und für Bomben ist - Joschka Fischer, damals Vorsprecher der Frankfurter Spontigruppe RK (Revolutionärer Kampf).
Auf Seite vier wird die eben erschienene Nullnummer der Frauenzeitschrift COURAGE kurz vorgestellt, aber ein paar Seiten weiter geht der in der ersten Nummer ausgelöste Streit mit der Frauenbewegung ernsthaft los. (Die COURAGE war einige Zeit lang das linke Gegenstück zur EMMA, ging aber nach einigen Jahren pleite.) Die Frauen von VIVA-Repro hatten sich geweigert die Filme für die zweite radikal herzustellen. Auslöser war der erwähnte "effe"-Artikel in der ersten Nummer mit seiner Kritik am "Separatismus" der Frauenbewegung im allgemeinen und am Berliner Frauenzentrum.
Die VIVA-Frauen begründeten ihren Schritt so: "Die Frauenbewegung wird als sektiererische Gruppe angesehen, in der Frauen mit einer abgehobenen, zerstörerischen Ideologie konfrontiert werden. Tatsache ist, daß die Frauenbewegung aus vielen Frauengruppen mit verschiedenen Ansätzen besteht, wo Frauen versuchen, gerade die Symptome, die die Autorin als Auswirkungen beschreibt, in ihren gesellschaftlich (patriarchalisch kapitalistischen) Auswirkungen zu begreifen und neue Ansätze und Möglichkeiten solidarischer Verhaltensweisen zu entwickeln. Die Trennung Frau/Mann ist keine von der Frauenbewegung konstruierte, sondern eine gesellschaftlich vorhandene. Gerade weil viele Frauen anfingen, dies zu begreifen, ist die Frauenbewegung entstanden. Sie ist der Versuch, sich der Verstümmelung durch die Gesellschaft bewußt zu werden und keine Anti-Mann-Bewegung, wie der Artikel suggeriert. Sie richtet sich solange gegen Männer, solange diese ihre 'degenerierten barbarisch verformten Bedürfnisstrukturen und Lustformen' (radikal Nr. 1) nicht aufbrechen und damit auch jeden notwendigen Ansatz von Frauen, die dies versuchen, unterdrücken, weil es für sie jetzt SELBST Veränderung bedeuten würde. Gerade durch die Polemiken wie sie in der radikal erscheinen werden diese Veränderungsversuche, die wir unterstützen wollen, boykottiert." Die radikal-Autorin verteidigt in derselben Ausgabe ihre Position noch einmal.
In späteren Nummern wird immer wieder über diese Auseinandersetzung berichtet, mal dürfen Handverkäuferinnen die radikal in einer Frauenkneipe nicht anbieten, mal bekam die radikal eine provokative Rechnung von der COURAGE für den Nachdruck eines Artikels, die dann nicht bezahlt wird, mal schreiben radikal-Männer über die Frauenbewegung, wobei sie das Zeitungsmotto der "linken Einheit" aus sozialistischer Sicht auf die Frauen(bewegung) ausdehnen und sie zur Rückkehr in die Linke auffordern. Diese Position war Mitte der 70er Jahre weitverbreitet, der Kampf um die Anerkennung von Frauenautonomie in Organisation, Theorie und Praxis war jung und heftig.
Im März 1977 weigert sich dann die radikal-Druckerei contrast einen Artikel zu drucken, in dem die Frauenzeitung Schwarze Botin heftig - und unsolidarisch - als reaktionär bezeichnet worden war. contrast zitiert den Ausspruch eines radikal-Machers, der den "historischen Materialismus als die wissenschaftliche Methode, mit der alles zu erklären, zu analysieren, zu verändern ist" bezeichnet hätte, lehnt diese Art von "Kanzeltheorien und Dogmatismus" ab und wendet sich gegen Haupt- und Nebenwiderspruchstheorien. In einer folgenden Erklärung der radikal-Frauen gestehen sie der Druckerei das Recht zu, Sazz und Druck von Artikeln vorerst zu verhindern, bis in einer Diskussion die Punkte geklärt werden können.
Kurz zuvor hatte sich ein anderes linkes Kollektiv, nämlich AGIT-Druck, geweigert, das Rotfront-Stadt-Info des KB zu drucken, weil in ihm das Frauenzentrum angegriffen wurde. Es wäre also auch der radikal möglich gewesen, in der Linken bereits bekannte fortschrittlichere Positionen zu beziehen.
Aus heutiger Sicht lag die radikal damals voll daneben, wenn auch vielleicht weniger als diverse Massensekten. Deren Positionen zur Frauenbewegung wurden in der Nr. 5 ausführlich wiedergegeben. Der Kommunistische Bund Westdeutschland KBW lehnte den SS 218 ab ("Die Arbeiterklasse muß ihn zu Fall bringen"), betont in einer Beilage seiner Kommunistischen Volkszeitung jedoch: "ein Schreckbild des Fortschritts ist der bürgerliche Feminismus. Dieser rücksichtslose bürgerliche oder kleinbürgerliche Individualismus hat mit der Befreiung der Frau im Zuge der sozialistischen Revolution nicht das geringste zu tun. Er ist vielmehr direkt gegen diese Revolution gerichtet." Überdies werde "mit der Losung 'mein Bauch gehört mir', wie sie die Trotzkisten aufgestellt haben, nichts in Bewegung gesetzt".
Die KPD wähnte "die Ziele der bürgerlichen Frauenbewegung weitgehend erreicht", denn: "der vollen Konkurrenzfähigkeit der Frau mit dem Mann stehen in der BRD nahezu keine juristischen Hemmnisse mehr entgegen", ansonsten müsse der "Kampf um die Emanzipation der Frau als Teil des Emanzipationskampfes der Arbeiterbewegung geführt" werden. KB und GIM äußern sich eher positiv zur Frauenbewegung, betonen aber, daß endgültige Befreiung erst nach der sozialistischen Revolution möglich sei, für deren Durchführung eine gemeinsame Organisation nötig sei.
In der Nr. 3 wurde der von Beginn an formulierte Vermittlungsanspruch der radikal anläßlich der Bundestagswahl umgesetzt und Stellungnahmen der diversen "Zentralkomitees", "Leitenden Gremien" oder Ausschüssen von Gruppen eingeholt, die sonst nie gemeinsam auftraten oder veröffentlichten. KBW, KPD, KPD/ML, DKP, Spartacus-Bund, GIM, SB erklärten nebeneinander auf jeweils 100 Zeilen, wieso sie selbst zur Wahl antraten, sie boykottierten oder zur Wahl des "kleineren Übels" rieten.
In den dokumentierten Stellungnahmen fiel der Unterschied zur Sprache der anderen radikal-Artikel augenfälligst auf. Das brachte irgendjemanden dazu, in die Nr. 7 einen Grundkurs im "K-deutsch für Anfänger" zu setzen.
Auch wenn die Stellungnahmen heute eher anachronistisch klingen, trug dieser Ansatz später zur Gründung der Berliner Alternativen Liste bei, auf deren konstituierender Versammlung sehr viele ehemalige und noch aktive Mitglieder einiger dieser Gruppen mitstimmten (nach Erinnerung von Anwesenden um die 70% der Versammelten) und zu AL-Mitgliedern wurden. Die radikal war ein sowohl offenes als auch über ihre damaligen Redaktionsmitglieder informelles Forum bei der Diskussion über ein Zusammengehen in der AL gewesen.


Die "Alternativzeitungen"
Im Selbstverständnis der ersten Redaktion war die radikal so etwas wie eine Stattzeitung und wollte nicht nur einen politischen, sondern auch praktischen Informations- und Gebrauchswert für den Alltag der (linken) LeserInnen haben. Deshalb Veranstaltungshinweise, Kleinanzeigen oder z.B. ab Nr. 4 ein großer roter Punkt zum Ausschneiden auf der letzten Seite. In die Windschutzscheibe geklebt, war er Symbol der "Rote-Punkt-Aktion" und signalisierte die Bereitschaft zum Mitnehmen von allen, denen die Preiserhöhungen der Verkehrsbetriebe auch nicht gefielen. Neben dem Punkt stand ein "offener Brief an die Berliner Linke", in dem zu "Automaten entwerten, Kartenklau, Kartennachdruck, Brandsätze..." aufgefordert wurde.
Die zunehmenden Verkaufsstellen der radikal in Kneipen, Kiosken und linken Kinos sollten auf einen größeren Vertrieb hinauslaufen - der nie zustande kam -, und eine Möglichkeit zu abonnieren gab es ab der dritten Nummer, ausgerechnet über die Adresse der damals noch linken Wohlthat'schen Buchhandlung in Berlin, die heute sicher nicht mehr die radikal, aber Ramschbücher und auch "Erotikfilme der etwas härteren Gangart" im Sortiment hat.
Der ewige Anspruch Wochenzeitung wurde für kurze Zeit im Sommer 1977 realisiert, aber nur die Nummern 20-22 erschienen in dieser Geschwindigkeit, dann waren die RedakteurInnen völlig geschafft, und es wurde wieder auf den zweiwöchentlichen, gelegentlich monatlichen Erscheinungstermin umgestellt.
Die typische Frage aller Zeitungsmenschen, "Wer liest uns eigentlich?", fand sich auf einem beigelegten Fragebogen im März 1977. "Liest Du regelmäßig radikal? Wie gefällt Dir der Name? Womit setzt sich radikal zuwenig/zuviel auseinander? Wie gefällt Dir das Layout, Format usw.? Hast Du Verbesserungsvorschläge? Welche anderen linken Zeitungen liest Du? Wärst Du bereit, in irgendeiner Form bei radikal mitzuarbeiten?" Die letzte Frage war gezielt, denn die zunehmende Arbeit in Herstellung und Vertrieb verlangte nach mehr und neuen Leuten. Die Redaktion bestand zwar zeitweise aus 16 Personen, aber die Fluktuation war abgesehen von einer Kerngruppe ziemlich hoch.
Berichte von Gruppen kamen eher selten von selbst, sondern mußten angemahnt, wenn nicht eh selbst verfaßt werden. Ein Stimmungsbild unter der Überschrift "Wie eine neue radi entsteht" begann folglich, daß die Frage eher sei: "Entsteht eine neue radi?"
Trotz der zeitungsinternen Probleme wurde fast von Beginn an an einer Vernetzung mit anderen Zeitungen gearbeit. In Westberlin existierten seinerzeit ca. 20 "alternative" Zeitungen und Zeitschriften, von KOZ - Kreuzberger Obdachlosen Zeitung, Extra-Dienst und Info-BUG über den Weddinger Hammer bis hin zur Keule, dem Chamisso Blatt, der Posaune Neukölln und den Schwarzen Protokollen.
Auf Anregung der radikal entstand das monatliche Alternativzeitungstreffen Westberlin, über das es in der Nr. 14 hieß: "Unsere Interessen berühren sich an wichtigen Punkten, die ein gemeinsames Handeln erfordern:
1. Gemeinsam kämpfen wir gegen das bürgerliche Meinungsmonopol und die subtile Hetze aus dem Hause Springer, gegen das Prinzip der profitorientierten Produktion von Information und Meinung.
2. Daraus folgt, daß wir uns permanent wehren müssen
- gegen Zensur und Beschlagnahmepraktiken,
- gegen den allgegenwärtigen ökonomischen Druck und den daraus resultierenden Stress, den es bedeutet, 'nebenher' eine Zeitung zu machen. Unsere technischen Mittel sind sehr begrenzt.
-Gegen die Unterdrückung unserer Zeitungen an den Kiosken und die Aussperrung vom bürgerlichen Vertriebssystem,
- gegen das Versacken in der bornierten Isolation einer kleinen Szene einerseits und gegen Integration und Aufgabe unseres alternativen Ansatzes andererseits (kein Profit, möglichst geringe Arbeitsteilung, keine Hierarchie, keine abgehobene Professionalisierung etc.),
- gegen die Konkurrenz untereinander (nicht zu verwechseln mit politischer Auseinandersetzung),
- schließlich ganz allgemein gegen die Bedeutungslosigkeit, zu der wir verurteilt sind, solange wir uns mehr mit uns selbst und unseren Gegensätzen, als mit unseren Zielen und Gemeinsamkeiten beschäftigen."
Die Resonanz auf die Einladung zu diesem Treffen war enttäuschend, zunächst kamen nur fünf Projekte. Als Gründe wurden "Genosse Schlendrian, möglicherweise prinzipielles Mißtrauen und Berührungsängste" vermutet. Das sei aber überwindbar, immerhin gehe es um konkret benennbare (gemeinsame) Interessen wie "Informationsaustausch, Technische Koordination, Koordination von Schwerpunktthemen, gegenseitige Unterstützung bei Angriffen von Bullen und Justiz".
Überregionale Treffen brachten sehr verschiedene "Alternativzeitungen" zusammen. Das Blatt - Stadtzeitung für München (Auflage 14.000 vierzehntäglich) war ebenso vertreten wie der Giessener Anzünder (500, unregelmäßig), Wat löppt aus Wuppertal (2.000 monatlich), Kieler Fresse (800, unregelmäßig) oder Kompost - Grüne Kraft (5.000, viermal jährlich "zu den Zeitenwenden"). Die Unterschiede erlaubten jenseits persönlichen Kennenlernens nur Minimalkonsensentscheidungen, z.B. auf dem dritten überregionalen Treffen im Januar 1977 die Einrichtung eines Solidaritätsfonds gegen die Prozeßflut, der einige Projekte ausgesetzt waren. (Einzahlungen blieben allerdings freiwillig, und es entzieht sich der Kenntnis d.A., wie nützlich dieser Fond später war.) Auch sollten die "ins Schußfeld der Zensurbehörden geratenen Zeitungen" durch den "Abdruck der angegriffenen Veröffentlichung" unterstützt werden. Um die Kräfte zu bündeln, wurde die zeitgleiche bundesweite Behandlung von Schwerpunktthemen vereinbart, für den zurückliegenden Dezember waren es bereits die "Kernkraftwerke" gewesen, im März "Werkschutz", im April "Knast", im Mai "Neofaschismus in der BRD".
Bei späteren bundesweiten Treffen stand neben der Repression die Tageszeitungsdebatte und die Existenz des ID im Zentrum.


Repression
In der Nr. 18 erschienen am 21.4.77 auf zwei Seiten Artikel unter der Überschrift "Buback." (der Punkt hinter dem Namen war sicher Absicht), in denen unterschiedliche Bewertungen zu seiner Erschiessung durch die RAF nachzulesen waren. Der eine beginnt mit den Worten: "In der radikal-redaktion gibt es keine einheitliche einschätzung über die sache mit buback. das finde ich auch in ordnung, denn wir sind keine homogene masse. und unsere zeitung lebt gerade durch die möglichkeit, verschiedener meinung zu sein, sie aber auch äußern und plazieren zu können, im gegensatz zu parteizeitungen." Am 5.6.1978 kam es wegen anderer Passagen in dieser radikal zu einem Prozeß vor dem Amtsgericht Tiergarten wegen "Verunglimpfung des Andenkens Verstorbener (SS 189 StGB)". Kriminalisiert werden sollten Zitate wie "sich als Mann der Praxis in die Tradition der politischen Justiz stellte, die auch durch den Faschismus nicht durchbrochen worden war", oder "karrieristischer Technokrat", "Bulle" und "rücksichtsloser Menschenjäger" bzw. "Die Ermordung von Holger Meins, Siegfried Hausner und Ulrike Meinhof markieren seinen Weg".
Die Anklage lief gegen den im Impressum genannten presserechtlich Verantwortlichen. Im Verlauf des Prozesses versuchte die politische Staatsanwaltschaft noch eine "Verletzung der Sorgfaltspflicht des presserechtlich Verantwortlichen (SS 19.2 Berliner Pressegesetz)" einzuführen, die aber im Urteil nicht vorkommt. Schlußendlich gab es 25 Tagessätze à 35 DM (=875 DM) plus ca. 700 DM Gerichtskosten. In der folgenden Nummer kündigte die radikal an, Berufung einzulegen.
Daß die dann wieder zurückgezogen wurde, gehört in die unvermeidliche Rubrik: Streitereien in linken Projekten. Als der Berufungstermin am 2.4.79 anstand, war der presserechtlich Verantwortliche schon AL-Abgeordneter in Schöneberg geworden, und in der Redaktion saßen z.T. andere Leute - die aber seinen Namen noch im Impressum gelassen hatten. Aus Gründen, über die sich die Betroffenen schon damals nicht einig waren, wurde der Termin der Berufungsverhandlung in der radikal nicht mal angekündigt, und weil sich der alte "Verantwortliche" allein gelassen fühlte, zog er die Berufung kurzfristig zurück. (Dahinter stand auch die nicht unberechtigte Einschätzung, daß der später noch als "Honecker-Richter" bekannter gewordene Berufungsrichter Bräutigam das alte Urteil eher verschärft hätte). Die radikal-Redaktion schrieb dazu im Intro der Nr. 58 am 6.4.79: "Betroffen und wütend mußten wir mitansehen, wie die Berufung zurückgezogen wurde und mußten uns eingestehen, das wir in diesem Moment nicht in der Lage waren, den Prozess kollektiv zu führen. Das passiert uns nicht noch einmal." (Genau das sicherzustellen sollte eine der Funktionen der später verwirklichten "Zeitungskooperative" sein.)
Die radikal wurde in ihren ersten Jahren weit weniger vom Staatsschutz behelligt als z.B. das Info-BUG. Anhand der radikal Nr. 27 vom 21.10.77 läßt sich die Repression und das, was als "Deutscher Herbst" in die Geschichte der Linken eingegangen ist, beleuchten. Auf dem Titel sind die Fotos von Jan Carl Raspe, Andreas Baader, Gudrun Ensslin und Irmgard Möller mit dem unsäglichen Wort "ENDLÖSUNG?" riesig untertitelt. In der fettgedruckten Stellungnahme des "radikal - Redaktionskollektiv" wird die staatliche Selbstmordthese detailliert angezweifelt, und sie endet damit, daß sich die Redaktion "der Forderung nach einer internationalen, unabhängigen Untersuchungskommission der Vorfälle in Stammheim mit allem Nachdruck" anschließt. Es steht auch drin, daß "dieser Artikel nicht leichtfertig verfaßt wurde. Wir wissen, daß uns das gleiche blühen kann, wie den Info-Genossen, die schon nach SS 129 mit einer Razzia überzogen wurden." An anderer Stelle schreibt ein radikal-Redakteur: "Die Gasgranaten und Willkürurteile in Malville (der Baustelle des 'Schnellen Brüters', wo 1977 ein Demonstrant von einer Schockgranate getötet und viele vor Schnellrichter gestellt wurden, Anm.), die Bürgerkriegsmanöver an den Kraftwerken in Brokdorf, Kalkar und Grohnde, die praktizierten Todesschüsse, die Praxis des Isolationsfoltergesetzes (gemeint ist das 'Kontaktsperregesetz', Anm.) sprechen eine eindeutige Sprache. Ich habe Angst vor einer Mentalität, die die Todesstrafe fordert und das Verlangen nach Lynchjustiz duldet. Und Angst vor einer 'öffentlichen Meinung' und 'gleichgeschalteten' Presse, die nichts mehr zu hinterfragen scheint."
Ein Artikel behandelt die Drohung aus CDU-Kreisen, die K-Gruppen zu verbieten, ein anderer berichtet über die staatlichen Maßnahmen gegen 48 Professoren und Anwälte, die eine Solidaritätsveröffentlichung des "Mescalero"-Nachrufs auf Buback unterschrieben hatten. (Die meisten dieser "Promis" gaben klein bei, nur der Psychologieprofessor Peter Brückner wurde auf Dauer von der Hannoverschen Uni suspendiert, Anm.) Eine neue Kampagne gegen BILD wird auf einer Seite mit Erinnerung an den "Sturm auf BILD 1968" vorgeschlagen; Günter Wallraf hatte gerade enthüllt, was er dort während seiner Arbeit unter falscher Identität erlebt hatte. Die Arbeitsgruppe "Linke Tagesmedium/Tageszeitung", Keimzelle der taz, stellt ihren Diskussionsstand vor und läd dazu ein, sich bei der "Kontaktadresse Anwaltsbüro Ströbele" zu melden. Berichte von den Unis oder über Repression gegen Schülerzeitungen - eine hatte einen Bausatz für einen "Rasen-Sprenger" veröffentlicht... - gehen in dieser radikal - Ausgabe eher unter. Die letzte Seite berichtet über eine Durchsuchung im Anwaltsbüro Ströbele, der eine ungenehmigte Zeitung an einen Gefangenen weitergeleitet haben sollte, und über die eingangs erwähnte Razzia gegen das Info-BUG:
"Am 17.10. durchsuchte ein Großaufgebot von insgesamt 240 Polizisten und 'Staatsschützern' 38 'Objekte', u.a. die Druckerei AGIT, den Buchvertrieb Maulwurf, linke Buchläden (Commune, Politisches Buch), das Büro des INFO und der Roten Hilfe, sowie zahlreiche Privatwohnungen. Dabei wurden 11 Genossen festgenommen (einer direkt vom Arbeitsplatz weg) und zu Verhör in die Friesenwache gebracht. Sie wurden mit zum Teil erheblicher Gewaltanwendung erkennungsdienstlich behandelt. Gegen den Geschäftsführer von AGIT wurde wegen 'Fluchtgefahr' Haftbefehl erlassen. Tags drauf wurde der zweite Geschäftsführer verhaftet. (Insgesamt kamen vier AGIT-DruckerInnen in U-Haft und wurden zu z.T. längerem Knast verurteilt. Anm.) Die Durchsuchungsbefehle lauten sämtlich auf 'Herstellung und Verbreitung der periodischen Druckschrift Info-BUG', dem die 'Unterstützung terroristischer Vereinigungen nach SS 129 a' vorgeworfen wird."
Unterschrieben ist der Bericht mit dem Aufruf, "massenhaft ab 17 Uhr zur Herstellung des nächsten INFO in den Mehringdamm 99 (Keller)" zu kommen. Genau dieses Treffen, zu dem fast 200 Leute gekommen waren, wurde von Staatsschutz und zwei Hundertschaften gestürmt, wobei an die 40 GenossInnen festgenommen wurden. Das war der Punkt, ab dem das Info-BUG nicht mehr öffentlich produziert und offen vertrieben werden konnte.
Die Ereignisse gingen an der radikal-Redaktion nicht spurlos vorbei, im Intro der Dezemberausgabe 1977 steht zu lesen: "Der Charakter der Zeitung hat sich im Lauf des Jahres 1977 offensichtlich verändert. Eindeutig haben die sogenannten kopflastigen Artikel zugenommen, die Berichte von der 'Basis', also von arbeitenden Gruppen, Initiativen usw. abgenommen. Dies kann Ausdruck der veränderten politischen Situation sein, des immer größer werdenden Drucks, der den Öffentlichkeitsdrang vieler Genossen lähmt. Dieser Eindruck wurde auf dem letzten nationalen Treff der Westdeutschen Alternativzeitungen von vielen geteilt.
Ein weiterer Aspekt ist, daß nach den Aktionen Buback/Ponto/Schleyer die Diskussion um die Frage der Gewalt und nach dem angedrohten K-Gruppenverbot die Diskussion um Aktionseinheit und linke Bündnisse sich auch in der radikal widergespiegelt hat. An den Fragen zum Thema Linke & Gewalt und Aktionseinheit drohte die Spaltung der Redaktion.
Die Gründe können nur angedeutet werden: Angespannte Arbeitssituation und die Dominanz einiger politischer 'Großköpfe' schufen ein angespanntes Diskussionsklima, die rasche Abfolge der letzten Ereignisse, die Hilflosigkeit und die Ohnmacht gegenüber dem verschärften Druck des Staates ließ die einzelnen mit ihren unterschiedlichen politischen Standpunkten mit potenzierter Kraft aufeinanderprallen. Gemeinsame Diskussion war nicht mehr möglich.
Wir fordern Euch alle nochmal auf, im neuen Jahr die radikal mehr als EURE Zeitung zu benutzen und zu unterstützen."


Die "Zeitungskooperative"
Anfang September 1978 nahm der Plan einer Zeitungskooperative Gestalt an und ließ sich bald realisieren, weil zwei linke Druckereien fusionierten und dadurch Räume und Technik frei wurden. In einer Fabriketage der Eisenbahnstraße 4 in Kreuzberg SO 36 standen Fotosatzgerät und anderes zur Verfügung, die in Form der neugegründeten Firma "Gegensatz - Druck- und Verlagsgesellschaft mbH" den technischen Boden für die Kooperation von Zeitungen wie radikal, Dicke Luft, HEZ (HeimerzieherZeitung), Junge Presse (ein Zusammenschluß von Schülerzeitungen), Einundzwanzig - Stadtteilzeitung für Moabit, das Foto-Archiv Zwielicht u.a.m. bildeten. Der Sazz von von Zeitungen in Eigenregie sollte sie billig und unabhängig machen, freie Kapazitäten konnten anderen "alternativen Projekten zu solidarischen Preisen" zur Verfügung gestellt werden. Die Zeitungskooperative selbst sollte als Verein Gesellschafter von Gegensatz werden. Zudem sollte der Zusammenschluß von mehreren Zeitungen und Projekten einen gewissen Schutz vor zunehmenden Repressions- und Zensurmaßnahmen abgeben.
Tatsächlich bestand die Zeitungskooperative Anfang der 80er Jahre nur aus der radikal, der Heimerzieherzeitung und der Dicken Luft sowie dem Sazz- und Reprobereich. Einige aus der Redaktion gingen zu dem neuen Berlin-Teil der taz und überließen den Links-radikalen, die einige Sympathien für die damals schon nicht mehr aktive Bewegung 2. Juni hatten, die Zeitung.
Die Zeitungskooperative stand weiter im Impressum der radikal, was ihrem (formalen) Vorsitzenden Jahre später einen bekannten Prozeß eintrug. Aber das ist eine andere Geschichte...


radikal - damals und heute
Es ist hier kein Platz, die Jahre der ersten radikal - Phase bis 1980 im Detail auszubreiten. Der Artikel hat auch nicht den Anspruch von exakter Geschichtsschreibung, sondern will einen Eindruck von der Zeit und dem Zeitungsprojekt geben. Vieles, was damals die Seiten füllte und irre wichtig und heiß umkämpft war, fehlt hier.Die ausufernden Debatten umThemen wie taz, Wochenzeitung, Anti-AKW und Netzwerk gehörten dazu.
Was (leider) heute noch aktuell klingt, sind z.B. Berichte von Anfang 1978 über die Abschiebung von Pakistanis, die vor der Militärdiktatur flüchteten und über die DDR nach Westberlin einreisen konnten. Schon damals argumentierte der Senat mit angeblich zu vielen unberechtigt Asyl suchenden Flüchtlingen, räumte Pensionen, richtete eine zentrale Sozialhilfestelle ein usw. Ein "Ausländer" - diese Bezeichnung ist auch bei linken Zeitungen gängig - berichtet in der radikal: "Beim Verlassen der U-Bahn bzw. auf offener Straße vor dem Betreten der Ausländerpolizei werden die Ausländer in Mannschaftswagen verladen und in Polizeikasernen gebracht. Hier werden ihnen Erklärungen vorgelegt, aus denen ersichtlich ist, daß sie in ihrer Heimat keine Arbeit finden konnten und daher nach Berlin gekommen sind, um hier zu arbeiten. Wird diese Erklärung unterschrieben, hat man kein Asyl beantragt und eine Abschiebung ist 'rechtmäßig'. Ein eventueller, nach dem Gesetz notwendiger gerichtlicher Prüfungstermin wird zwar angesetzt, findet aber in der Regel erst statt, wenn der Ausflug, d.h. die Abschiebung bereits gelaufen ist. Da die Pakistani keinerlei Möglichkeit haben, überhaupt an einen Rechtsanwalt heranzukommen, ist ihnen die Möglichkeit irgendwelcher Gegenmaßnahmen von vornherein verschlossen."
Die antifaschistische Theorie und Praxis der späten 70er Jahre richtet sich gegen die "Faschisierung des Staates" und gegen die neofaschistischen NPD - Aktivitäten, auch die Mun-Sekte lief unter "faschistisch", und wurden so militant angegriffen, daß zwei Leute deswegen einige Zeit im Knast saßen. Insgesamt hatten diese Themen aber nicht die heutige Bedeutung, und entsprechend klein waren die Artikel in der Regel. Ein ganzseitiger Artikel in der Nr. 40 ist eine Ausnahme, dort wird über das Treffen einer "Volkssozialistischen Einheitsfront", das Ende April 1978 unter einem Transparent "Rotfront verrecke!" stattgefunden hatte, berichtet. Aber eigentlich geht es mehr darum, daß die Jusos (!) die "politische Breitenwirkung ihrer 'Stoppt die Neo-Nazis und Reaktionäre'-Veranstaltung nicht durch das Bemühen um eine Aktionseinheit mit all den Menschen und Organisationen, die seit langem faschistische Gedanken und Handlungen bekämpfen", gesucht hatten.
Knast war in der Linken seinerzeit ein wichtigeres Thema, und ziemlich früh fand Knastkampf auch in der radikal Raum, das galt sowohl für eigene Berichte über die Zustände im "Normalvollzug" als auch dafür, daß ziemlich früh das Berliner Knastblatt allen Ausgaben beilag. Auch Erklärungen von politischen Gefangenen finden sich - Erklärungen zu militanten Aktionen allerdings so gut wie nie in jenen Jahren, die standen immer im Info-BUG.
Die radikal dieser Zeit war besser als ihr Ruf in späteren Jahren und zu Unrecht wird sie heute erst ab 1980 wahrgenommen, denn auch die ersten Hefte spiegeln einen wichtigen Teil der linken Geschichte. Die radikal war kaum anders als die Linke jener Jahre, in manchem schlechter, in vielem besser. Und das gilt wohl nicht nur für die ersten ihrer 20 Jahre.
Das Ende der ersten Phase und den Beginn der nächsten läutete das nachfolgend dokumentierte Flugblatt aus dem April 1980 ein.