Zum Konflikt aus heutiger Sicht
Tja, immer noch harter Tobak, das Ganze. Und es macht uns immer noch
leicht sprachlos, wenn wir uns wieder an diese Zeit zurückerinnern. Wir
kämpfen auch heute noch mit der Verbitterung im Herzen, daß wir kurz
davor standen, beide Standbeine (sowohl das strukturelle wie das inhaltliche)
zum ersten Mal in der Geschichte der illegalen radi in Einklang
miteinander gebracht zu haben. Was können wir dem jetzt hier
hinzufügen? Wir versuchen uns vorsichtig ranzutasten, indem wir erst mal
ein Zitat herauskramen, daß einem von uns damals in die Hände
gefallen war. "In einem gesellschaftlichen Umbruch stehen sich nie zwei Klassen
allein, mit genau umschriebenen Interessen gegenüber, sondern immer sind
auch die kämpfenden Lager selbst in sich vom Antagonismus angegriffen, der
die Triebkraft des ganzen gewaltsamen Zusammenstoßes ausmacht. Immer wird
die Wucht des Angriffs, in der wir alle nach Einheit suchen, nach gemeinsamer
Handlung, nach Verständnis und Solidarität, begleitet vom Gären
der verschiedenartigen Auffassungen, Bestrebungen, Zielrichtungen, immer ist
der Wunsch, übereinzukommen in den Richtlinien, zusammenzuwirken vor dem
gemeinsamen Feind, konfrontiert mit dem Drang zur Verwirklichung dessen, was
von den einen als das absolut Richtige und Wahre erkannt wird, und was sich in
den Augen der anderen doch wieder von deren Wahrheit unterscheidet. (...)
Gleich nach den Schritten des Anfangs (ist) die Krise da, in die bedenkenlose
Überzeugung mischt sich das Zerwürfnis, die Einfachheit der Handlung
wird zerstört von der Kompliziertheit der Gedanken, die sich gegenseitig
aufheben wollen. So entsteht die paradoxe Situation, daß es zwischen all
denen, die Gemeinsames anstreben, schärfste Trennungslinien gibt, und dies
bis zur Selbstzerfleischung." (Peter Weiss, Die Ästhetik des
Widerstands)
Vielleicht ist es manchem/r zu schwulstig - was auch kein Wunder
wäre, schließlich ist es vor etlichen Jahren geschrieben worden und
nicht aus der Erfahrung und dem Wortschatz gängiger autonomer Praxis
entstanden. Es bezieht sich auf die Auseinandersetzungen innerhalb der KPD
während des Faschismus. So wohl es tat, wahrzunehmen, daß die
destruktive Debatte innerhalb der radikal geschichtlich kein Einzelfall
ist, so runterziehend ist die Erkenntnis, daß die Geschichte des
Scheiterns von linksradikalen Organisationsansätzen sich permanent
wiederholt. Es läßt sich auch leider auf sehr viel weitere Debatten
innerhalb der radikalen Linken anwenden. Wir erinnern nur an die Zergliederung
der Solidarität zu den Kaindl-Angeklagten in mehrere
Unterstützungs-Komitees oder an die völlig eskalierte Debatte
zwischen der RAF und Gefangenen aus der RAF.
Damit wollen wir uns historisch weder mit der KPD noch mit der RAF in eine
Linie stellen. Wir sehen die heftige Auseinandersetzung innerhalb unseres
Projektes auch als eine Folge der politischen jahrelangen
Sprachlosigkeit. Wir standen zwar permanent in der Auseinandersetzung über
das Wie der Organisierung - aber der inhaltliche Rahmen, in den sich die
politisch tragenden Gruppen der radi einordneten, kam immer zu kurz. Als
dann die strukturellen Freiräume erstmals gegeben waren, aktiver und
genauer ein Zeitungsverständnis vieler verschiedener Gruppen zu
entwickeln, brachen die Widersprüche ungehemmt auf.
(Vermeintlich) in den Griff bekommen ließen sich diese nur noch durch die
Entwicklung eines technischen und bürokratischen Modells - politische
Lösungen, die Utopie und reale Situation miteinander versuchten in
Einklang zu bringen, hatten keine Chance, auch nur angedacht zu werden.
Die technische Lösung, die die einzelnen radi-Ausgaben zu einem
Fall für den Rechenschieber machte, um zu errechnen, ob alle Gruppen
gleichviel Seiten zugesprochen bekommen hatten - scheiterte bekanntlich sofort,
weil ein Teil währendessen ausstieg.
Für das bessere Verständnis dieser Zeilen sei gesagt, daß uns
dieser Teil, diese Tendenz im Konflikt näher stand, auch wir waren
Befürworter einer verstärkten inhaltlichen Debatte gewesen. Der
Verlauf des Konfliktes sowie der Ausstieg hat uns im Hinblick auf die
radi ein gutes Jahr lang völlig demotiviert. Wir waren zwar nicht
direkt in den Konflikt einbezogen gewesen - aber dennoch im Konflikt mit
eigenen Postionen präsent. Wir stürzten uns danach
ausschließlich in die inhaltlich-theoretische Arbeit. Aus heutiger Sicht
würden wir sagen, Verdrängung 1A pur, aber wenigstens konstruktiv
gewendet.
Mit der Tendenz, die übrig geblieben war, wollten wir in der ersten Zeit
danach nicht mehr viel zu tun haben. Ihre Haltung im Konflikt war nicht die
unserige, zudem begannen die strukturellen Aufgaben wieder derart überhand
zu nehmen, daß an innovative Überlegungen, welche Rolle die
radi innerhalb der radikalen Linken spielen könnte, nicht (mehr) zu
denken war. Angesichts einer sowieso bescheidenen Anzahl kontinuierlich
arbeitender Gruppen innerhalb der radikalen Linken war es um so bitterer, sich
einzugestehen, daß wir genau daran gescheitert waren, diese in ein
handlungsfähiges Konzept einzubinden.
Für uns kann es jetzt, zwei Jahre später, nicht um eine
Aufwärmung des Konfliktes gehen, sondern nur um den Versuch, daraus die
richtigen Erfahrungen zu ziehen. Das Stichwort dazu findet sich in der
Austrittserklärung einer Frauen-Combo: "für uns gibt es
keine Arbeitsgrundlage mehr".
Darum soll es sich im folgenden drehen. Was kann künftig eine
Arbeitsgrundlage innerhalb der radikal sein, wie können sich
unterschiedliche politische linksradikale Gruppen innerhalb des Projektes
begegnen. - Fragen, die sich für uns nicht nur in Bezug auf die
radi stellen.
Schaut mensch sich die radikale Linke an, dann scheint die Unfähigkeit
innerhalb unseres Projektes nur ein bescheidener Spiegel der
Kompromißunfähigkeit innerhalb dieser Linken zu sein.
So peinlich uns manchmal unser Konfliktchen erschien, so lächerlich
muß Außenstehenden die Zerstrittenheit der Linksradikalen und deren
Unfähigkeit, sich aufeinander einzulassen, erscheinen.
Vieles an Gegenüberstellungen ist in den Stellungnahmen grundsätzlich
benannt worden, wir wollen hier der Übersichtlichkeit halber noch einmal
zusammenfassen:
- Unterschiedliche Auffassung über den Begriff der
"Autonomie" einer Gruppe innerhalb der radikal
- Den Einen ist die Struktur das Wesentliche, den anderen das Produkt
derselben
- Unterschiedliche Auffassung über den Stellenwert der inhaltlichen
Diskussion zwischen den einzelnen Gruppen
- Stellenwert und Wichtigkeit der O.L.G.A.
- persönliche Unvereinbarkeiten
- Der Wandel von einer kleinen, übersichtlichen Struktur zu einem
vielschichtigen Geflecht, bei dem sich viele durch Vorschläge für
eine konkrete radikal beteiligen.
Die letzten beiden Punkte haben wir absichtlich ans Ende gesetzt, denn die
persönlichen Unvereinbarkeiten, resultierend sowohl aus politischen
Differenzen wie aus jahrelangen Erfahrungen miteinander, machten die konkrete
Problemstellung des Wandels von der übersichtlichen Struktur mit
Improvisierungen hin zu einem verläßlichen Projekt mit fest
umrissenen Konzept, in dem die unterschiedlichen Vorstellungen einen Platz
finden, unlösbar.
Insofern fanden wir den damaligen Schritt zum Austritt der einen Seite
letztlich konsequent und richtig - auch wenn er uns selbst und die
radikal zurückgeworfen hat.
Die Gewichtung zwischen inhaltlicher und struktureller Arbeit hatte in den
meisten Jahren der radikal eine erhebliche Schieflage zugunsten der
Struktur. Während einerseits völlig akzeptiert wurde, wenn
GenossInnen ausschließlich Verteilungs- und Logistikarbeiten
übernahmen - es entsprach und entspricht dem Konzept der radikal,
daß sich alle, egal an welcher Stelle des Netzes, zu allen Fragen
einbringen sollten - wurde andererseits während des Konflikts nicht
akzeptiert, wenn einige Grenzen steckten und sagten, "Wir wollen vor
allem am Inhalt der radikal arbeiten". "Vor allem"
ist in diesem Zusammenhang ohnehin vorsichtig zu genießen. Eine
ausschließliche Konzentrierung auf inhaltliche Arbeit hat es in der
Geschichte der radi sowieso nie gegeben, und hätte es bisher auch
nie geben können.
Das Problematisieren von drohenden Hierarchien zwischen Kopf- und Handarbeit
ist so alt wie die Ausweitung der radikal-Struktur selbst - wir
strebten nie eine Aufteilung an, in der die einen eine Ausgabe verteilen und
die anderen sie erstellen. Dem haben wir immer durch die verschiedensten
Vermittlungsmodelle Rechnung getragen. Aber natürlich müssen diese
Modelle immer die jeweils besonderen Rahmenbedingungen berücksichtigen.
Wer mit mehreren verschiedenen strukturellen Aufgaben belastet ist, kann zu
einer inhaltlichen Debatte weniger beitragen - das heißt, es besteht die
Gefahr, daß andere, die sich mehr um die Diskussion untereinander
kümmern können, bereits Punkte beackert haben, woran die anderen noch
gar nicht dachten. Aber die Gefahr besteht auch andersherum, denn linkes
(autonomes) Politikverständnis erstreckt sich oft nur auf die Betonung der
Praxis, dies ist auch in der radi nicht anders.
In einem Positionspapier in der Nr.146 steht folgendes: "Bei einigen
von uns dominiert die Arbeit an der radi den politischen Alltag. Das ist
ein Mißverhältnis, das wir gerne abbauen würden. Unsere Basis
sollte die politische Organisierung 'vor Ort' sein, da wo wir leben,
Strukturen aufbauen, organisieren, mobilisieren, Aktionen machen. Wir wollen
keine hauptberuflich 'journalistisch' arbeitenden Menschen/Gruppen sein,
sondern die radi ist für uns eine Struktur, die uns und anderen
linksradikalen Zusammenhängen für Austausch und Diskussion zur
Verfügung steht. Das entspricht unserer Meinung nach momentan auch dem
Stand und den Bedürfnissen autonomer Organisierung in den Städten und
Regionen. Da gibt es zwischen uns und 'den einen' starke Unterschiede. Wir
wollen zwar mehr politische Diskussionen unter uns, aber an der radi
eine überregionale politische Organisierung hochzuziehen, wäre
für uns im Moment ein aufgeblasener Luftballon, der der politischen
Basis/Realität davonfliegt."
Pampel & Muse ("die einen") formulieren vier Seiten weiter
hinten: "Wir streb(t)en für diese Struktur mehr an als die
regelmäßige Produktion und Verteilung der radi. In unseren Augen
hat(te) sie einen Organisierungsgrad, eine Logistik und Größe
erreicht, die über das hinausgeht, was wir sonst vorfinden; die uns
ungenutzte politische Möglichkeiten eröffnet(e). Deshalb woll(t)en
wir einen Schwerpunkt auf die gemeinsame Entwicklung legen mit der
Möglichkeit im Hinterkopf, daß sich noch ganz andere
Betätigungsfelder finden könnten, die über das 'wir machen
zusammen die radikal' hinausgehen. Dieser Ansatz scheint derzeit eher
ein Hirngespinst, da getrennte Wege eingeschlagen wurden."
Einige Zeilen vorher stellten sie aber selber fest: "Diese
Struktur ist in unseren Augen nichts Statisches, einfach Existentes, sondern
eine ständige Bewegung: hinterfragen, diskutieren und entwickeln.
Entsprechend der Sensibilität und Energie die dafür aufgewendet wird,
entwickelt sie sich weiter oder bleibt in einem Zustand hängen."
Eben - die radi ist, war und wird eine Struktur sein, die sich zur
Verfügung stellt, die versucht ein Medium zu sein, in das sich
möglichst alle verschiedenen linksradikalen Politikansätze einbringen
können. Inwieweit untereinander in der Vernetzung noch andere Sachen eine
Rolle spielen, hängt von der Qualität der Debatten und den
perspektivischen Diskussionen ab. Sowie von den politischen Grenzziehungen des
eigenen Selbstverständnisses, dazu nochmal ein Zitat aus der Nr.146: "Für uns als Frauengruppe liegt keine Perspektive im Aufbau
einer gemischten Organisierung, weder innerhalb noch außerhalb der
radikal, sondern in der Frauenorganisierung (und so, wie die
Verhältnisse derzeit sind) in erster Linie in der vor Ort. Das
schließt nicht aus, daß wir Bündnisse mit gemischten oder
Männergruppen eingehen, an Punkten, an denen uns eine Zusammenarbeit
sinnvoll bzw. notwendig erscheint."
Standen bis ca. 1990 die strukturellen Probleme der Vernetzung im
Vordergrund und bestimmten sie die internen Debatten, so prägte ab 1991
immer mehr die konkrete Erstellung einer radi die Diskussion. Wichtig
ist für uns, was wir konstruktiv aus dem damaligen Scheitern für
heute und die Zukunft rausziehen können. Denn es ist
selbstverständlich, je mehr Gruppen sich in die konkrete Gestaltung der
radi einbringen, desto wahrscheinlicher stehen sich sowohl inhaltlich
unterschiedliche Vorstellungen und Gewichtungen, Positionen gegenüber, wie
auch ein unterschiedliches Sich-Einbringen in die Struktur. Die radi
vermittelt sich als ein Blatt, in dem verschiedene Strömungen zu Wort
kommen sollen - das bedingt, daß die beteiligten Gruppen ein
funktionsfähiges Arbeitsmodell entwickeln müssen, wie sie miteinander
klar kommen, ohne daß Kriterien wie "Sympathie" oder
"einheitliches Zeitungsverständnis" eine Rolle spielen.
Zugleich gibt es unübersehbare Schwierigkeiten innerhalb einer illegalen
Struktur, denn keine Ausgabe kann in einer Vollversammlung beschlossen und
fabriziert werden, sondern es werden bei einer Produktion einige Gruppen aus
Gründen der Sicherheit und der Arbeitsaufteilung mehr Verantwortung
übernehmen müssen als andere. Dadurch besteht in entscheidenden
Phasen der Produktion eine einseitige Machtverteilung, nämlich zugunsten
derjenigen, die bei der konkreten Artikelzusammenstellung mehr Verantwortung
übernehmen. Auch wenn viele Gruppen einzelne Artikel schreiben, andere die
O.L.G.A. anfertigen, müssen immer noch welche koordinierend wirken und bei
mehreren unterschiedlichen Vorschlägen aus der Struktur schließlich
das auswählen, was auf die letzten freien Seiten gepackt werden soll.
Jemand muß das Intro machen, es muß beschlossen werden, ob der
Antifa-Block noch eine Seite mehr bekommen kann und wo die weggenommen wird,
welche Reihenfolge die Artikel haben (lacht nicht, auch dies war Thema von
Auseinandersetzungen) etc.pp.
Um das mal bildlich zu machen: Wie sollen sich eine radikalfeministische, eine
antifaschistische und eine sozialrevolutionäre Gruppe, eine Gruppe, die
vor allem Wert darauf legt, die Militanzdebatte umfassend zu dokumentieren und
voranzutreiben, zwei Gruppen, die die O.L.G.A. und das GdV erstellen, sowie
eine MigrantInnengruppe auf einen Konsens einigen, wie die nächste
radikal auszusehen hat? Dazu kommen noch etliche Beiträge, die aus
der Struktur vorgeschlagen wurden, sowie mehrere längere Artikel aus der
Post.
Jede Gruppe hat in eigenen Diskussionen wahrscheinlich bereits 40 Seiten einer
radikal gefüllt, mit dem was sie subjektiv als wichtig erachten.
Und nun? Nun hauen sich die VertreterInnen gegenseitig ihre Begründungen
um die Ohren, warum sie welche Seitenzuteilung für die einzig wahre halten
- schließlich stehen in der nächsten radikal lediglich 100
Seiten zur Verfügung.
Ergebnis: Entweder es stecken welche zurück oder lassen sich gar von den
Argumenten anderer überzeugen - oder aber spätestens nach zwei
Ausgaben, die in kräftezehrenden Auseinandersetzungen noch zu einem
Konsens getrieben wurden, knallt es ganz heftig im Karton.
Das ist kein übertriebenes Bild, das wir uns aus den Fingern saugen (von
der Zusammensetzung der Gruppen mal abgesehen), sondern war während der
Ausgaben 144 - 147 die Realität der radikal, warum sonst sind vier
Hefte nacheinander mit je zwei Teilen und jeweils über 100 Seiten zustande
gekommen? Es ging im Grunde nur noch darum, möglichst dicke Hefte zu
machen, um die Auseinandersetzungen untereinander zu entschärfen. Denn es
zeichnete sich absolut keine Lösung dafür ab, wer wie entscheidet,
was reinkommt und was raus soll.
Gleichzeitig aber konnte es sich diese Struktur gar nicht leisten, daß
die inhaltliche Debatte zur Erstellung einer einzelnen Ausgabe so dominant
wird, daß die Fragen der Vertriebslogistik usw. hintenüber fallen.
Unaufmerksamkeit können wir uns in diesem Bereich keinesfalls leisten.
Was ist also realistischerweise die Lösung? Wie kann der Gefahr der
Hierarchie begegnet werden, die entsteht, wenn nur wenige den Inhalt der
radikal bestimmen? Und wie geht es, daß die verschiedenen
politischen Haltungen nicht nur nebeneinanderstehend zur Geltung kommen,
sondern sich innerhalb eines produktiven Streites weiterentwickeln?
Wir halten die Autonomie der einzelnen Gruppen für eine unverzichtbare
Voraussetzung. Sie ist die einzige realistische Arbeitsgrundlage einer sich
immer weiter verzahnende Struktur der radikal. Da dies aber, wie oben
beschrieben, dazu führen würde, daß die radikal je nach
Gruppenanzahl immer fetter und damit unlesbarer werden würde, kann die
Schlußfolgerung nur sein, daß die letzte Entscheidungskompetenz
über die konkrete Zusammenstellung der jeweiligen Ausgaben rotierend
wechseln muß. So würde auch für die LeserInnen am deutlichsten
werden, welche Gruppe innerhalb der radikal welchen politischen Ansatz
verfolgt.
Das beinhaltet dennoch regelmäßige und feste Bereiche innerhalb der
radi.
Das bedeutet nicht, daß die Gruppen innerhalb der radikal nicht
miteinander debattieren können und sollen, ganz im Gegenteil. Alleine die
nötige Koordinierung, wer sich mit welchem Thema beschäftigen will,
relativiert die Autonomie einer Gruppe auf ein gewisses Maß. Ein festes,
nach außen vermitteltes Konzept des Modus, wie die Zusammenstellung
einer einzelnen radi zustande kommt, könnte die Debatten am
konkreten Punkt ansetzen lassen, anstatt sich im nachhinein über
Machtvorwürfe auseinanderzusetzen.
Wir reden nicht einer Liberalisierung und Beliebigkeit der radikal das
Wort - im Gegenteil, wir wollen die radikal schärfen, indem
Auseinandersetzungen zwischen den einzelnen Gruppen in Zukunft sichtbarer
werden und nicht im Streit um eine konkrete Seitenvergabe gebunkert werden. Es
heißt auch nicht, daß wir uns jetzt allen möglichen Positionen
öffnen würden.
Wir können uns eine radikal ohne die verstärkte Diskussion
zwischen den einzelnen Gruppen nicht vorstellen - genau deshalb fanden wir auch
die Zeit von 1991 bis 1993 trotz allem die anregendste Zeit innerhalb der
radi - nur müssen wir die richtigen Konsequenzen aus dem
vorläufigen Scheitern dieser Entwicklung ziehen.
Unsere Zielvorstellung ist nicht eine immer bessere radi, ausgerichtet
nach den Vorstellungen einiger weniger Gruppen, sondern das Anregen und
Bestärken des politischen Streits über die verschiedenen Ansätze
innerhalb der radikalen Linken. Das ist das Wahrnehmen von verschiedenen
Ausgangsbedingungen und Identitäten, die politische Positionen erst
erklärbar machen.
Machen wir uns nichts vor, linksradikale Politikansätze sind im Moment am
Überwintern, es geht in der nächsten Zukunft vor allem darum, ein
bestimmtes erreichtes Terrain nicht deshalb wieder zu verlassen, weil mit einem
Krisenszenario herumlamentiert wird, das die gesellschaftliche Isolierung
einseitig der Verantwortung linksradikaler (militanter) Politik zuschreibt.
Neue Zuversicht in Hinsicht auf linksradikale Praxismöglichkeiten zu
gewinnen, heißt auch, den Bündnischarakter der radikalen Linken
stärker vom politischen Anspruch zur realen Praxis zu machen.
Zu guter Letzt noch ein Zitat aus einem Positionspapier in der Nummer 146: "Das Verhältnis rassistischer, sexistischer und kapitalistischer
Unterdrückungsstrukturen zueinander, Infragestellung von militanter und
bewaffneter Politik, Zusammenwirken von politischen und sozialen Bewegungen,
Handlungs- und Interventionsmöglichkeiten in die gesellschaftliche
Realität hinein usw. sind Fragen, die sich für uns aus unserer
eigenen Geschichte und Praxis stellen. Für uns ist die Arbeit an der
radi nicht davon losgelöst, sondern wir wollen das Projekt selbst
ständig hinterfragen und überlegen, welche Bedeutung und Funktion die
radi in solchen grundsätzlichen Diskussionen haben kann. Es ist
bezeichnend für unseren Zustand innerhalb der radi, daß wir
im eigenen Konfliktsumpf versinken und bislang nicht in der Lage waren, uns
dazu zu äußern, wo es doch teilweise ähnliche Probleme sind,
mit denen auch wir uns herumschlagen. Das Problem, daß eine verdeckte
Struktur halt eben über ihre Praxis (in unserem Fall der Vertrieb der
radi) zusammengehalten wird und die politische Bestimmung eher zu kurz
kommt, scheint uns nicht nur unser Problem zu sein, sondern z.B. auch in der
Zusammenarbeit der RZ eine Rolle zu spielen."
Mit halber Kraft vorwärts
Nach diesen Überlegungen zu Möglichkeiten künftiger
konzeptioneller Abfederungen, sollte die radi zum zweiten Mal den
"Luxus" erleben, von der Beteiligung verschiedenster
Gruppen überrollt zu werden - zurück in den radi-Alltag.
Acht Monate hat es gedauert, bis sich die radi nach den Wirren des
"Konflikts" im November 1993 mit der Nummer 148 wieder in
der Öffentlichkeit zurückmeldete. "Einige haben aufgehört - abgesehen von einzelnen technischen
Aufgaben, die trotz der vorhandenen Gräben zusammen gelöst werden
können. Sie sahen darin - in Anbetracht der zerstrittenen Situation - die
einzige Möglichkeit, die Weiterexistenz von radi zu
gewährleisten. Die alten Probleme spielen im Augenblick kaum eine Rolle,
wir haben uns damit abgefunden und sehen in ihrer Aufarbeitung keine
Hauptaufgabe, obwohl sie in Diskussionen immer wieder auftauchen. Wir rechnen
immer noch mit inhaltlichen Beiträgen der anderen."
Kurz und knapp wurde im Intro das bittere Ende unseres Konflikts vermittelt. Um
zwei zentrale Zusammenhänge geschwächt, raffen sich die verbliebenen
Gruppen mit einzelnen Neuzugängen wieder auf, versuchen ihre letzten
Energien zu mobilisieren, um einen neuen Start zu wagen. Einige, die sich
während des Konflikts den "AussteigerInnen" verbunden
fühlen, bleiben zwar dabei, sind zunächst vorsichtig bereit zur
"nötigen Strukturarbeit", bleiben aber skeptisch.
Im Vordergrund steht wieder die Aufbauarbeit, gemeinsame inhaltliche
Diskussionen treten notgedrungen wieder in den Hintergrund. Wieder existiert
eine Phase, in der unheimlich viel Energie in die Struktur investiert werden
muß. Allerdings findet der Bruch in der radi selbst nicht den
Niederschlag, wie zu befürchten war. Mittlerweile macht sich die
jahrelange gemeinsame Erfahrung bemerkbar, die "Techniks" lassen
sich wesentlich übersichtlicher und streßfreier erledigen als
früher. Zwar haben sich Gruppen aus der Fraktion zurückgezogen, die
für mehr eigene Beiträge plädiert hatte, dennoch erscheinen
spätestens ab der Nummer 149 wieder recht viele von radi-Gruppen
verfasste Artikel. Auch die Diskussion innerhalb einzelner kontinuierlich
inhaltlich arbeitender Zusammenhänge ging weiter. So beginnt die
"Gegen das Vergessen"-Combo in der Nummer 149 mit ihrer
Auseinandersetzung über die Entwicklung der Geschlechterverhältnisse,
eine Gruppe beschäftigt sich regelmäßig mit der
Flüchtlingspolitik, die O.L.G.A.-Gruppe und deren Projekt entwickelt sich
weiter, ein Zusammenhang konzentriert sich auf eine intensivere
Auseinandersetzung mit der Kurdistan-Solidarität und auch die Diskussion
um Organisiserung der Linken sowie militanten und bewaffneten Widerstand findet
sich, wenn auch zu knapp, kontinuierlich in der radi. Die
"Ausgestiegenen" übernehmen weiterhin Aufgaben und bleiben
auch in der Zeitung präsent.
Langsam stabilisiert sich die Struktur wieder, die Bedeutung eigener
Beiträge und die Rolle der O.L.G.A. waren mittlerweile weniger umstritten
und alle finden Platz in der radi, um ihre Schwerpunkte zu setzen.
Innerhalb der Struktur entwickelt sich eine Atmosphäre, in der gemeinsames
Diskutieren und Arbeiten wieder möglich wird. Die Widersprüche, die
uns über Jahre blockiert hatten, scheinen wieder diskutierbar zu sein.
Nachdem trotzdem über mehrere Nummern das sichere Fortbestehen der Zeitung
im Vordergrund steht, wollten wir uns nach der radi 152 im März
1995 wieder eine interne Verdauungspause gönnen, um nach den Erfahrungen
der vergangenen fünf Nummern Resümee zu ziehen und weitere Schritte
zu bestimmen. Vieles mußte und muß geklärt werden. Über
die anstehenden Fragen und Diskussionen haben wir uns recht ausführlich in
unserem Intro in der Nummer 153 geäußert. [Das Intro wird auf den
folgenden Seiten dokumentiert, Anm.] Da es unserem aktuellen Diskussionsstand
entspricht, machen wir an dieser Stelle mit der Aufarbeitung einen großen
Punkt.
The future ...
Der Angriff der Bundesanwaltschaft hat die radi in der
linksradikalen Öffentlichkeit wieder mehr ins Gespräch gebracht. Ein
beschissener Anlaß, und doch läuft dadurch jetzt eine Diskussion,
die ohnehin für die Zukunft der Zeitung existentiell notwendig ist. So
können wir einige unserer wichtigsten Fragen nicht nur an uns selbst,
sondern auch an die linke Szene richten, die unserer Meinung nach mitbestimmen
sollte, was mit der radi weiter passiert. "Doch wie haltet ihr, wie hält es die
UnterstützerInnenszene eigentlich mit uns? Inwieweit ist das jetzige
Aufbäumen mehr als die Betroffenheit darüber, daß GenossInnen
im Knast sind oder abtauchen mußten?" haben wir deshalb in
unserem Intro in der Nummer 153 die LeserInnen gefragt. Wir wollten mit dem von
derartigen Appellen strotzenden Intro dafür sorgen, durch eine Diskussion
über die Möglichkeiten und den Sinn des Fortbestehens der radi
mehr Klarheit zu bekommen. Diese Diskussion ist in den letzten Monaten
langsam in Gang gekommen. In der nächsten radi (Nummer 154) werden
wir verschiedene Stellungnahmen veröffentlichen und natürlich auch
unseren eigenen Senf dazu abgeben.
Die radi hat eine nicht zu verachtende Kontinuität bewiesen, die
doch immer wieder von Brüchen begleitet war. Brüche, die immer ihre
Entsprechung im Zustand der radikalen Linken hatten. Vom sozialistischen
Stadtblatt über eine Bewegungszeitung mit avangardistischen
Kreativitätsmomenten bis zur - von militanter und bewaffneter Politik
inhaltlich bestimmten - verdeckt organisierten Struktur. Und jetzt?
Die radi soll auch weiterhin die Plattform darstellen, auf der über
die unterschiedlichen Wahrnehmungen und Sichtweisen gestritten werden kann. In
der Zeitung soll kommuniziert, sollen Erfahrungen ausgetauscht, soll radikale
Kritik an den herrschenden Verhältnissen nicht nur geäußert,
sondern auch propagiert werden. Sie wird weiterhin Forum revolutionärer
Praxis bleiben.
So viel ist klar. In diesem Sinne wird die radi weder ein Linienblatt
einer linksradikalen Fraktion noch eine rein zufällige Zusammenstellung
irgendwelcher Aktivitäten sein.
Wie aber ist es bestellt um diese Fraktionen? Die radikale Linke hat mehr
Fragen und Widersprüche als je zuvor. Diese Widersprüche spiegeln
sich natürlich auch in unserer Struktur wieder. Wie wir in unserem Intro
beschrieben haben, existieren unterschiedliche Einschätzungen über
die Rolle militanter Kämpfe und bewaffneter Politik. So wird darüber
gestritten werden müssen, welche Bedeutung diese Entwicklung für die
radi hat oder - andersrum - welche Bedeutung die radi für -
gegen? - diese Entwicklung haben kann. Hat die Zeitung genau die Aufgabe, in
Zeiten der allgemeinen Skepsis bezüglich solcher Angriffe ein Mehr an
Auseinandersetzung einzufordern? Oder stellt die Situation die Notwendigkeit
der radi in Frage, weil sie als Organ von Militanten anachronistisch
ist?
Oder geht es etwa darum, den Raum innerhalb linksradikaler
Kommunikationsstrukturen zu definieren, den eine staatlich nicht
kontrollierbare Zeitung, die bundesweit vernetzt ist, einnehmen muß? Wo
ist dieser Raum zwischen freien Radios, (wenigen) Stadtzeitungen, linken
Medien, die eine ganz bestimmte politische Linie vorgeben, und dem Internet?
Fragen, die wir nicht alleine beantworten wollen und auch nicht werden. Die
radi ist keine Zeitung zum Konsumieren. Sie wird sich weder einer
Mainstream-Stimmung der hoffnungslosen Wirklichkeit anpassen noch die
Wirklichkeit ignorieren.
Die Veränderung der Bedingungen der Linken wird die radi
verändern. Wie, das hängt von allen ab, die auf der Notwendigkeit
unkontrollierter Kommunikation bestehen. Wird die Zeitung genutzt und
gebraucht, wird sie auch in zehn Jahren noch existieren. Gemacht von denen,
für die linke Kommunikation mehr ist als die einseitige, hierarchische
Vermittlung von Information. Um so mehr sich an der dafür notwendigen
Struktur beteiligen, um so umfassender, regelmäßiger, aktueller und
differenzierter könnte die radi werden. Aufbauend auf einer
elfjährigen Erfahrung verdeckt organisierter Zeitungsproduktion. Elf Jahre
Auseinandersetzungen um eine Struktur, die trotz illegaler Bedingungen immer
wieder ihre Handlungsfähigkeit bewiesen hat. Eine Struktur, die sich
ständig veränderten Bedingungen anpassen mußte, organisiert von
den verschiedensten Menschen, aus den unterschiedlichsten linksradikalen
Spektren, die trotz vieler Niederlagen gelernt haben, verbindlich miteinander
umzugehen. Und ohne Verbindlichkeit, Zähigkeit und ständiges Ringen
mit- und gegeneinander wird kein Versuch von Organisierung, legal oder illegal,
erfolgreich sein.