Zum Stand der Verfahren vom 13.6. / Nr. 2
Seit dem 13.6. sind inzwischen vier Monate vergangen.
Wie schon aus vielen anderen §129a-Verfahren bekannt ist, mauert die Bundesanwaltschaft grundsätzlich mit der Herausgabe von Akten, das setzt zur Zeit auch in den Verfahren vom 13.6. die Verteidigung faktisch außer Kraft. Im Klartext: Nach fast vier Monaten Haft von Anderas, Rainer, Ralf und Werner liegen nicht mehr vor als zwei Ordner mit kopierten "radikal"-Artikeln und einem Stimmgutachten zur angeblichen Identifizierung der Beschuldigten und - seit dem 21.9.95 - das Abhörprotokoll des LKA Rheinland-Pfalz von dem Treffen des angeblichen Redaktiosnkollektivs der "radikal" in der Eifel im Herbst ´93. Dieses Treffen in Baar-Wanderath stellt nach Aussagen der BAW den Ausgangspunkt der Ermittlungen gegen die jetzt Beschuldigten dar.
Der Lauschangriff war im Juni 1993 vom Amtsgericht Mayen genehmigt worden aufgrund des Verdachts, daß sich in der Eifel-Hütte Mitglieder der RAF träfen. Das Treffen der angeblichen "radikal"-RedakteurInnen wird von der BAW als Zufallsfund bezeichnet. Die Herausgabe des Abhörprotokols aus der Eifel ist als direkte Reaktion aus Karlsruhe auf die Haftbeschwerde zweier Rechtsanwälte zu werten - nach dem Motto: "Werfen wir ihnen ein bißchen in den Napf, sollen sie dran kauen." Die Haftbeschwerde fußte auf der fehlenden Akteneinsicht. Ein Anwalt antwortete auf dieses abgekartete Karlsruher Spiel mit einer Haftbeschwerde-Erweiterung, in der begründet wird, daß die "radikal" 148 keinen strafbaren Inhalt enthält. Nun hüllt sich Karlsruhe in Schweigen.
Die Abhöraktion zog sich vom 4. Juni 1993 bis zum 5. Januar 1994 hin, zunächst legitimiert mit dem rheinland-pfälzischen Polizei- und Ordnungsbehördengesetz. Der Bundesgerichtshof erklärte in einem Beschluß, nach vorläufiger Prüfung sei es im gegenwärtigen Verfahrensstadium zuzulassen, daß die geheim erlangten Informationen, die bislang nur "präventiv" einer unmittelbaren Gefahrenabwehr dienen sollten, auch "repressiv" bei der Strafverfolgung verwendet werden dürfen.
Sowohl die Weitergabe der Daten aus auch ihre strafprozessuale Verwendung sind juristisch mehr als zweifelhaft, und die anmaßende "Ermächtigung" des BGH müßte alle VerteidigerInnen eines demokratischen Rechtsstaat herausfordern.
Am 21.9.1995 hat bei Andreas, der in Lübeck einsitzt, die zweite Haftprüfung stattgefunden. Andreas wurde von Lübeck zum Polizeipräsidium nach Hamburg transportiert. Schon vor dem Transport wurde er an Händen und Füßen gefesselt durch die Gänge des Knastes getrieben. Im Bullenauto wurden Hände und Füße zusammengebunden, so das er nur gebückt sitzen konnte. Vorne saß ein Bulle mit MP, neben ihm einer mit Tonfa. Der Transportwagen wurde von zwei weiteren PKW´s begleitet. Sowohl vor der Haftprüfung als auch hinterher wurde Andreas einer vollständigen Leibesvisitation unterzogen. Auch die Anwältin wurde kontrolliert. Während der ganzen Zeit hatten Andreas und seine Anwältin keine Gelegenheit, unüberwacht miteinander zu sprechen.
Wir denken, daß diese Behandlung, ebenso wie die verschärften Haftbedingungen, denen die vier unterliegen, der Einschüchterung, der Abschreckung und dem Mürbemachen dienen soll. Eben die Behandlung, die du als linksradikaler Gefangener zu erwarten hast, wenn du nach § 129a einfährst.
Nach Angaben von Beyer und BAW sind inzwischen Disketten teilweise entschlüsselt, die den Gefangenen zugeordnet werden. Sie sagen, von Andreas gäbe es drei mittlerweile entschlüsselte Disketten. Datiert seien sie im Frühjahr 1995, inhaltlich ab Dezember ´94.
Inhaltlich ginge es in erster Linie um Diskussionen (z.B. Kontakt zu anderen Zeitschriften wie "interim") und verfahrenstechnische Fragen im Zusammenhang mit der Herstellung und Verbreitung von "radikal" sowie um festgestellte polizeiliche Observationsmaßnahmen. Sie sagen weiter, daß in den Texten die ihnen bekannten Codewörter wie "Flut", "Welle", "Fraß", "Ente", "Kabel" usw. und Decknamen mehrfach enthalten seien.
Der Anwältin Akteneinsicht bezüglich der Disketteninhalte zu geben verweigerten sie mit der Begründung, sie rechneten mit der Beeinträchtigung ihrer Untersuchungen, wenn die Inhalte dem Beschuldigten zugänglich gemacht würden. In der letzten Haftprüfung mußten diese verschlüsselten Disketten als einer der Hauptgründe für die Aufrechterhaltung der Haft herhalten. Jetzt wird gesagt, gerade weil Andreas nicht an der Entschlüsselung mitgewirkt habe, bestehe nach wie vor Verdunklungsgefahr. Beyer wies auch noch einmal ausdrücklich auf die Fluchtgefahr hin. Man sähe das ja an den Gesuchten, die sich trotz fester Arbeit/Studium und sozialer Bindungen dem Zugriff des Staates entzögen.
Die Haftprüfung endete also mit der Aufrechterhaltung der Haft. Nach Ansicht von Beyer ist die U-Haft bisher nicht unverhältnismäßig. Nach sechs Monaten könne das neu geprüft werden. Er verwies an der Stelle auf PKK-Verfahren, in denen Beschuldigte nach sechs Monaten aus der U-Haft entlassen wurden.
Ohne zu verkennen, daß diese Bemerkung Beyers nicht ernster zu nehmen ist als andere gelegentlich hingeworfene Zuckerkrümel, sollte die Tatsache, daß mit sechs Monaten eine U-Haft normalerweise abgeschlossen sein muß und für eine Verlängerung besondere Begründungen geliefert und geprüft werden müssen (nach sechs Monaten Verfahrensdauer hat der 3. Strafsenat des BGH über die Haftfortdauer der Gefangenen zu entscheiden), als wichtiger Termin für die Verfahrensbegleitung und Orientierungspunkt für die Soli-Arbeit gesehen werden.
Die Ausführungen von Ermittlungsrichter Beyer und dem Staatsanwalt der BAW Hofmann während der Haftprüfung und einige andere Kernsätze aus verschiedenen Beschlüssen haben noch einmal deutlich gemacht, in welche Richtung das Konstrukt gegen die "radikal" laufen soll. Nach unserem jetzigen Erkenntnisstand versucht die BAW radikale Widerstandspresse und militante Aktionen auch organisatorisch zu vermengen.
Für BAW und BGH ist die "radikal" keine Zeitung. Vielmehr sei sie als Untergrunddruckschrift das Werk einer kriminellen Vereinigung, durch die die Kommunikation zwischen sämtlichen bundesweit agierenden "linksterroristischen Gruppierungen" erst hergestellt würde. Die "radikal" würde diese Strukturen aufrechterhalten und außerdem neue Mitglieder für diese Vereinigungen anwerben.
Die BAW versucht, direkte Verbindungen zwischen den angegriffenen Gruppen herzustellen. Beispiele dafür:
* RAF und "radikal" würden gleiche Treffpunkte benutzen, wie z.B. die Eifel-Hütte
* In Bremen werden drei Personen sowohl der Mitgliedschaft und/oder Unterstützung der "kriminellen Vereinigung radikal" als auch der "terroristischen Vereinigung AIZ" beschuldigt.
* Und aktuell aus der Haftprüfung: Auf einer kürzlich entschlüsselten Diskette befände sich ein Text zu Kurdistan, und daran ließe sich die Verbindung zum K.O.M.I.T.E.E. erkennen.
Weitergehender noch als die Darstellung der "radikal" als "Vereinsblatt" aller sogenannten linksterroristischen Vereinigungen ist die Behauptung der BAW, von der Zeitung gehe eine "Gefahr für Leib und Leben" aus, indem die "radikal" sozusagen mitverantwortlich für jeden Anschlag gemacht wird, der einer als "linksterroristisch" definierten Gruppe zugeordnet wird. Damit zeichnet die BAW letztlich das Bild einer großen "Vereinigung", die arbeitsteilig mit austauschbaren Rollen und unterschiedlichen Schwerpunkten agiert. Die konkrete Durchführung von Anschlägen wird mit der Dokumentation in einer Zeitung quasi gleichgesetzt.
Mehr gibt es von uns aus nicht zu berichten. Die Haftbeschwerde und dieser zweite Haftprüfungstermin bei Andreas haben zum Teil erreicht, was beabsichtigt war: Die Gegenseite (BGH/BAW) sollte Position beziehen. Wie für sie der Hase laufen soll, ist jetzt deutlicher. Es ist an uns, dagegen die Soliarbeit zu entwickeln.
Einige Soligruppen orientieren in ihrer Öffentlichkeitsarbeit/Kampagnenplanung schon auf Mitte Dezember, wenn sechs Monate U-Haft voll sind. Dieser Zeitpunkt ist auch juristisch wichtig. Wir halten es für erstrebenswert und realisierbar, dazu bundesweit etwas hinzukriegen. Macht!
Wenn sich für die Einschätzung Neues ergibt, melden wir uns wieder.
An Euch Gefangene und Gesuchte unsere Liebe und Kraft - Venceremos !!!
Oktober 1995
Arbeitsgruppe der bundesweiten Treffen zu den laufenden Verfahren.