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Sat Oct 7 02:43:58 1995
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radikal - Repressionsgeschichte
radikal - Chronologie einer Repressionsgeschichte
1976 wird die Berliner Stadtzeitung radikal gegründet - im Untertitel
"Sozialistische Zeitung für Westberlin"
1978: Erste Verfahren gegen die radikal: Verurteilung des presserechtlich
Verantwortlichen zu 875 DM Geldstrafe, wg. Abdruck d. Mescalero-Nachrufes
im Zusammenhang mit der Buback-Ermordung; andere Verfahren in diesem
Zusammenhang mußten eingestellt werden und es erfolgte ein Freispruch
1982: Durchsuchungen von 14 Privatwohnungen, 2 besetzten Häusern, 3
Druckereien, 2 Buchläden und eine Buchvertriebsstelle, 1 Verlag und eine
Fotosetzerei in Berlin.
Der Abdruck der Erklärungen der Revolutionären Zellen sollte den
Straftatbestand des Werbens für eine terroristische Vereinigung (§129a)
erfüllen.
Die radikal war zu dieser Zeit "Zeitung für unkonventionelle Bewegungen"
das wichtigste Sprachrohr der autonomen, militanten
HausbesetzerInnenbewegung in Berlin geworden und hatte als solche eine
große überregionale Bedeutung erlangt. Vor allem in ihrer
Koordinationsfunktion für die Bewegung sollte die Zeitung durch massive
Einschüchterung zerschlagen werden.
1983: Im Juni werden die beiden in der Linken bekannten Journalisten,
Schriftsteller, Hausbesetzer und Pressesprecher Benny Härlin und Michael
Klöckner verhaftet. Sie werden stellvertretend für die MacherInnen der
radikal mit dem §129a belegt. Nach einem öffentlichen Proteststurm, der
vor allem auch von einer liberalen Öffentlichkeit getragen wurde, wurden
beiden gegen 30.000 DM Kaution nach 2 Monaten Isolationshaft
Haftverschonung gewährt. (Soviel zum Thema Bedeutung öffentlichen
Protests.)
1984: Am 1.März werden Benny Härlin und Michael Klöckner zu je zweieinhalb
Jahren Knast verurteilt. Klöckner weil er redaktionell mitgearbeitet und
das Konto geführt haben soll, Härlin, weil er in einer früheren Nummer als
ViSdP zeichnete. Beweise für ihre aktuelle Verantwortlichkeit lagen dem
Richter Pahlhoff nicht vor. Im Mai werden beide auf der Liste der GRÜNEN
ins Europaparlament nach Straßburg gewählt und ihre IMMUNITÄT ALS
Abgeordnete bestätigt, wodurch sie zunächst um den Knast herumkommen.
Bereits im April wurde das Konto der radikal gesperrt und beschlagnahmt,
das Postfach überwacht und eine Person festgenommen, als sie das Postfach
leeren wollte. Hiernach stellte die taz ihre Adresse für die radikal zur
Verfügung, damit diese postalisch weiter erreichbar bleibt.
Im Mai werden die Räume der taz vom Staatsschutz durchwühlt und alle
eingegangenen Briefe für die radikal werden beschlagnahmt. Wenige Tage
später stellt die radikal ihr Erscheinen mit der Nummer 126/127 ein, die
Radaktion erklärt unter diesen Bedingungen nicht weiterarbeiten zu können.
Herbst 1984: Die radikal erscheint erstmals aus dem "Untergrund". In der
Nummer 128 schreibt die Redaktion, daß die Zeitung ab jetzt nur noch
versteckt geschrieben und produziert werden kann.
Der mit der Einstellungsverkündung der radikal schon verbuchte
Zensurerfolg zerrinnt für die Staatschützer in Sekundenschnelle ... die
Repression gegen die nun "versteckten" Strukturen der radikal geht
intensiv weiter. Da man nun nicht mehr der Redaktion habhaft werden kann,
die mutmaßlich in Holland verweilt, konzentrieren sich die Ermittlungen
auf die Verkaufsstellen und HandverkäuferInnen in der BRD.
1986/87: In zwei großangelegten Durchsuchungswellen werden insgesamt über
100 Buchhandlungen, Infoläden, Zentren, Privatwohnungen durchsucht.
Gegen 164 Buchhändler und 28 HandverkäuferInnen wird ermittelt. Gegen 38
Anklage erhoben, 12 davon erfahren eine Verhandlung, von denen wiederum 7
freigesprochen werden müssen und 5 Bewährungsstrafen erhalten.
Hier wird die neue Stoßrichtung deutlich, die der §129a ermöglicht: die
massive Einschüchterung, die gar nicht einmal eine konkrete Verhandlung
zum Ziel hat, sondern als Zensurmaßnahme Angst erzeugen soll. 192 als
"Terrorismuswerber" diffamierte Personen stehen in keinem Verhältnis zu 5
recht geringen Bewährungsstrafen (Höchststrafe 10 Monate auf Bewährung).
Die Ermittlungen gegen die weiter in unregelmäßigen Abständen erscheinende
radikal laufen zwar weiter, führen allerdings zu keinen weiteren Aktionen
seitens der Staatsanwaltschaft.
1989: In der Edition ID-Archiv wird ein Interview mit der aktuellen
Redaktionsgruppe der radikal als Broschüre herausgegeben. Die Herausgeber
betonen den Stellenwert des Interviews für die Diskussionen innerhalb der
Linken, gerade weil die radikal nicht immer ungeteilte Akzeptanz fände.
Diese Broschüre - die nicht selbst inkriminiert wird - ist Anlaß zu
abstrusen Mutmaßungen der Staatsanwaltschaften. Es wird eine Beziehung, ja
sogar eine Identität der Herausgeber des Interviews und der Redaktion der
radikal konstruiert. Ziel ist die Durchsuchung der Verlagsräume und der
Aurora-Verlagsauslieferung in Berlin, sowie der Siegener Druckerei, und
damit die konkrete Behinderung der Arbeit dieser Projekte. Beschlagnahmt
werden Geschäftsunterlagen, die im Zusammenhang mit der Herausgabe des
Interviews als Broschüre stehen. Auch hier der Versuch einzuschüchtern und
wahllos Informationen zu sammeln. Ein juristisches Nachspiel fand nicht
statt.
1995: Die großangelegte Durchsuchung von über 50 Wohnungen im gesamten
Bundesgebiet vom Dienstag, d. 13. Juni, die schon zwei Tage später als
riesiger Fahndungserfolg gegen die linksterroristische Szene in der Presse
verkündet wurde, führte zu vier Haftbefehlen gegen Menschen, denen die
redaktionelle Vorbereitung der radikal Ausgabe 148 unterstellt wird.
Angeblich hätten sich die vier im Dezember 1993(!!) zu diesem Zweck in der
Eifel getroffen.