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eine Zeitung als kriminelle vereinigung????


  • Subject: eine Zeitung als kriminelle vereinigung????
  • From: ID-SCHLESWIGHOLSTEIN@BIONIC.zerberus.de (ID-Schleswig-Holstein)
  • Date: 16 Aug 1995 12:21:00 +0000

  • 
    
    
    Wir dokumentieren einen Artikel aus der Zeitschrift der IG-Medien
    "Menschen machen Medien" Nr. 8-9 August/September '95
    von Oliver Tolmein
    
    
    *********************************************************************
    
    
    Eine Zeitung als "Kriminelle Vereinigung?"
    Die Zeitschrift "radikal" mal wieder im Schußfeld der Bundesanwaltschaft
    
            Nein, sie ist kein Blatt für jedermann und jede Frau - und das  
    nicht nur, weil sie am Kiosk gar nicht zu kaufen ist und auch Abonneten  
    nur äußerst unregelmäßig erreicht: Die Zeitschrift "radikal", die nach  
    ersten Zugriffen von Polizei und Staatsanwaltschaft seit Jahren nur noch  
    über eine Adresse im Ausland zu erreichen ist, hat z.B. heute noch ein  
    Layout, das so gezielt chaotisch und gegen jede Lese-Gewohnheit gestaltet  
    ist, wie wir es von den Stadtzeitungen aus den siebziger Jahren kennen -  
    und auch die Texte des seit fast zwanzig Jahren erscheinenden Blattes  
    grägt die Mischung aus Subversivität und Militanz, aus nüchterner  
    Informationsvermittlung über die Herstellung von Buttersäure und bisweilen  
    großspuriger Formelhaftigkeit über den besten Weg zur Revolution der  
    ganzen Gesellschaft, die uns an das Milieu erinnert, aus dem sich heutige  
    Minister der Grünen rekrutieren. Nur - die siebziger Jahre sind lange  
    vergangen und die Bundesanwaltschaft hat sich seit Kurt Rebmanns Tagen  
    einiges einfallen lassen, um auch eine Linke, die an Bedeutung und  
    Gefährlichkeit längst beachtlich verloren hat, noch wie den Staatsfeind  
    Nr. 1 verfolgen zu können. Da auch die Gangart, die die Justiz gegenüber  
    Medien einschlägt, zunehmend schärfer wird, werden die Macherinnen und  
    Macher der "radikal" deswegen wahrscheinlich anders als z.B. die  
    Redakteure des längst von der Bildfläche verschwundenen alten Frankfurter  
    Spontiblattes "Pflasterstrand" nicht in grünen Ministerbüros enden -  
    sondern, zumindest vorübergehend, im Gefängnis. Vorausgesetzt jedenfalls,  
    die Bundesanwaltschaft setzt sich mit ihrer kürzlich vorgestellten  
    Rechtsauffassung durch, die ein Novum in der Geschichte des  
    bundesdeutschen Strafrechts ist - und durchaus auch für andere Medien  
    Folgen haben kann: Danach ist die Herausgabe und Verbreitung der, wie es  
    in einer Pressemitteilung der Bundesanwaltschaft heißt, "linksextremen /  
    linksterroristischen Zeitung radikal" Werk einer kriminellen Vereinigung  
    nach Par. 129 Strafgesetzbuch. Voraussetzung für eine Verurteilung nach  
    diesem traditionsreichsten Pragraphen des politischen Strafrechts ist, daß  
    festgestellt wird, die "radikal" werde nicht etwa produziert, damit andere  
    sie lesen und sich darüber streiten oder auch nicht, sondern sie werde  
    hergestellt, "um Straftaten zu begehen".
            Vier Männer, von denen Kay Nehm und seine Behörde annehmen, sie  
    seien Redakteure des in wenigen tausend Auflage verbreiteten Blattes,  
    sitzen deswegen seit dem 13. Juni in Heft. Ein weiterer Mann, dem nichts  
    weiter zur Last gelegt wird, als daß er keine Aussagen machen will, von  
    denen sich die Ermmittlungsbehörden weitere Informationen über "radikal"  
    versprechen, ist für fünf Monate in Beugehaft gesteckt worden. Uns soll  
    hier nicht die Frage beschäftigen, welcher Art genau die von der  
    Ermittlungsbehörde so genannten "präventiv polizeilichen Erkenntnisse"  
    über eine Sitzung der vier in einer entlegenen Hütte in der Eifel 1993  
    sind, die zwei Jahre später, also eher nachträglich als präventiv, zur  
    Verhaftung des Quartetts geführt haben. Obwohl durchaus interessant wäre  
    zu wissen, ob hier nicht vielleicht der große Lauschangriff auf  
    Privaträume bereits vorweggenommen wurde, über den sich die Parteien im  
    Bundestag noch erbittert streiten, der also erst noch erlaubt werden muß.  
    Noch wichtiger ist hier nämlich die Frage, wie eng die Grenzen künftig  
    sein werden, an die die Meinungsfreiheit hierzulande stoßen wird: Ob dazu  
    auch die Freiheit gehört, diesen Staat mit drastischen Worten abzulehnen,  
    gegen das staatliche Gewaltmonopol zu polemisieren, Debatten über  
    antifaschistische Aktionen zu führen, oder ein Interview mit der Gruppe  
    "Klasse gegen Klasse" zu veröffentlichen, die es für fortschrittlich hält,  
    Brandsätze z.B. in Feinkostgeschäfte zu werfen, um den Kiez von Yuppies  
    freizuhalten.
            Die 1976 gegründete "radikal" ist auch in den zurückliegenden  
    Jahren häufiger Gegenstand von Ermittlungsverfahren und Prozessen gewesen  
    - stets ging es dabei darum, ob der Abdruck einzelner Texte, vor allem von  
    Bekennerschreiben, den Tatbestand der "Werbung für eine terroristische  
    Vereinigung" erfüllt. Das dokumentierte schon kein besonders weitgehendes  
    Verständnis der Meinungsfreiheit - und wurde von Medienverbänden, ja sogar  
    dem Börsenverein des Deutschen Buchhandels in der Vergangenheit  
    kritisiert. Die Grünen reagierten in ihrer Frühzeit auf ihre Weise, indem  
    sie zwei zu Haftstrafen verurteilte "radikale" als Abgeordnete ins  
    Europäische Parlament entsandten, wo sie für ein paar Jahre durch  
    parlamentarische Immunität geschützt waren. Der Bundesgerichtshof selber  
    hat dann 1990 das 1984 gefällte, auf zweieinhalb Jahre Haft lautende  
    Urteil des Kammergerichts Berling gegen die beiden als "radikal"- 
    Herausgeber ausgewiesene Personen, kassiert: Der Tatbestand des Werbens  
    für eine "terroristische Vereinigung" müsse restriktiv ausgelegt werden  
    und sei nicht etwa schon automatisch gegeben, wenn ein Bekennerbrief von  
    RAF und "Revolutionären Zellen" abgedruckt werde. Daß die  
    Bundesanwaltschaft mit ihrem aktuellem Vorgehen die Gesetze alles andere  
    als restriktiv auslegt, versucht sie wohl durch die Schwere des Vorwurfs  
    zu überspielen. Daß die Verhaftung der mutmaßlichen "radikal"-Macher  
    kurzerhand mit der Razzia gegen die zur zweiten RAF hochstilisierte  
    Antiimperialistische Zelle zusammengelegt wurde, obwohl die  
    Bundesanwalschaft selber eingestehen muß, daß die eine mit der anderen  
    nichts zu tun hat, war so gesehen wahrscheinlich auch kein Versuch, die  
    Arbeit der politischen Polizeien zu rationalisieren, sondern ein Versuch,  
    den Unterschied zwischen dem Gründen einer Vereinigung zur Herstellung  
    einer Zeitung und dem Gründen einer Vereinigung zur Durchführung von  
    Sprengstoffanschlägen zu verwischen.
    
    von Oliver Tolmein
    
    
    
    
    
    
                      Was wahr ist wird auch in Zukunft
                geschrieben, gesetzt, gedruckt und vertrieben
    
                                  -------
                                  projekt
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