|  
        
        
          Online seit:
        
       
     | 
     
        
        
          Sat Oct  7 02:43:58 1995
         
       
     | 
  
  
  
   
    |   | 
  
 
[Prev][Next][Index]
eine Zeitung als kriminelle vereinigung????
Wir dokumentieren einen Artikel aus der Zeitschrift der IG-Medien
"Menschen machen Medien" Nr. 8-9 August/September '95
von Oliver Tolmein
*********************************************************************
Eine Zeitung als "Kriminelle Vereinigung?"
Die Zeitschrift "radikal" mal wieder im Schußfeld der Bundesanwaltschaft
        Nein, sie ist kein Blatt für jedermann und jede Frau - und das  
nicht nur, weil sie am Kiosk gar nicht zu kaufen ist und auch Abonneten  
nur äußerst unregelmäßig erreicht: Die Zeitschrift "radikal", die nach  
ersten Zugriffen von Polizei und Staatsanwaltschaft seit Jahren nur noch  
über eine Adresse im Ausland zu erreichen ist, hat z.B. heute noch ein  
Layout, das so gezielt chaotisch und gegen jede Lese-Gewohnheit gestaltet  
ist, wie wir es von den Stadtzeitungen aus den siebziger Jahren kennen -  
und auch die Texte des seit fast zwanzig Jahren erscheinenden Blattes  
grägt die Mischung aus Subversivität und Militanz, aus nüchterner  
Informationsvermittlung über die Herstellung von Buttersäure und bisweilen  
großspuriger Formelhaftigkeit über den besten Weg zur Revolution der  
ganzen Gesellschaft, die uns an das Milieu erinnert, aus dem sich heutige  
Minister der Grünen rekrutieren. Nur - die siebziger Jahre sind lange  
vergangen und die Bundesanwaltschaft hat sich seit Kurt Rebmanns Tagen  
einiges einfallen lassen, um auch eine Linke, die an Bedeutung und  
Gefährlichkeit längst beachtlich verloren hat, noch wie den Staatsfeind  
Nr. 1 verfolgen zu können. Da auch die Gangart, die die Justiz gegenüber  
Medien einschlägt, zunehmend schärfer wird, werden die Macherinnen und  
Macher der "radikal" deswegen wahrscheinlich anders als z.B. die  
Redakteure des längst von der Bildfläche verschwundenen alten Frankfurter  
Spontiblattes "Pflasterstrand" nicht in grünen Ministerbüros enden -  
sondern, zumindest vorübergehend, im Gefängnis. Vorausgesetzt jedenfalls,  
die Bundesanwaltschaft setzt sich mit ihrer kürzlich vorgestellten  
Rechtsauffassung durch, die ein Novum in der Geschichte des  
bundesdeutschen Strafrechts ist - und durchaus auch für andere Medien  
Folgen haben kann: Danach ist die Herausgabe und Verbreitung der, wie es  
in einer Pressemitteilung der Bundesanwaltschaft heißt, "linksextremen /  
linksterroristischen Zeitung radikal" Werk einer kriminellen Vereinigung  
nach Par. 129 Strafgesetzbuch. Voraussetzung für eine Verurteilung nach  
diesem traditionsreichsten Pragraphen des politischen Strafrechts ist, daß  
festgestellt wird, die "radikal" werde nicht etwa produziert, damit andere  
sie lesen und sich darüber streiten oder auch nicht, sondern sie werde  
hergestellt, "um Straftaten zu begehen".
        Vier Männer, von denen Kay Nehm und seine Behörde annehmen, sie  
seien Redakteure des in wenigen tausend Auflage verbreiteten Blattes,  
sitzen deswegen seit dem 13. Juni in Heft. Ein weiterer Mann, dem nichts  
weiter zur Last gelegt wird, als daß er keine Aussagen machen will, von  
denen sich die Ermmittlungsbehörden weitere Informationen über "radikal"  
versprechen, ist für fünf Monate in Beugehaft gesteckt worden. Uns soll  
hier nicht die Frage beschäftigen, welcher Art genau die von der  
Ermittlungsbehörde so genannten "präventiv polizeilichen Erkenntnisse"  
über eine Sitzung der vier in einer entlegenen Hütte in der Eifel 1993  
sind, die zwei Jahre später, also eher nachträglich als präventiv, zur  
Verhaftung des Quartetts geführt haben. Obwohl durchaus interessant wäre  
zu wissen, ob hier nicht vielleicht der große Lauschangriff auf  
Privaträume bereits vorweggenommen wurde, über den sich die Parteien im  
Bundestag noch erbittert streiten, der also erst noch erlaubt werden muß.  
Noch wichtiger ist hier nämlich die Frage, wie eng die Grenzen künftig  
sein werden, an die die Meinungsfreiheit hierzulande stoßen wird: Ob dazu  
auch die Freiheit gehört, diesen Staat mit drastischen Worten abzulehnen,  
gegen das staatliche Gewaltmonopol zu polemisieren, Debatten über  
antifaschistische Aktionen zu führen, oder ein Interview mit der Gruppe  
"Klasse gegen Klasse" zu veröffentlichen, die es für fortschrittlich hält,  
Brandsätze z.B. in Feinkostgeschäfte zu werfen, um den Kiez von Yuppies  
freizuhalten.
        Die 1976 gegründete "radikal" ist auch in den zurückliegenden  
Jahren häufiger Gegenstand von Ermittlungsverfahren und Prozessen gewesen  
- stets ging es dabei darum, ob der Abdruck einzelner Texte, vor allem von  
Bekennerschreiben, den Tatbestand der "Werbung für eine terroristische  
Vereinigung" erfüllt. Das dokumentierte schon kein besonders weitgehendes  
Verständnis der Meinungsfreiheit - und wurde von Medienverbänden, ja sogar  
dem Börsenverein des Deutschen Buchhandels in der Vergangenheit  
kritisiert. Die Grünen reagierten in ihrer Frühzeit auf ihre Weise, indem  
sie zwei zu Haftstrafen verurteilte "radikale" als Abgeordnete ins  
Europäische Parlament entsandten, wo sie für ein paar Jahre durch  
parlamentarische Immunität geschützt waren. Der Bundesgerichtshof selber  
hat dann 1990 das 1984 gefällte, auf zweieinhalb Jahre Haft lautende  
Urteil des Kammergerichts Berling gegen die beiden als "radikal"- 
Herausgeber ausgewiesene Personen, kassiert: Der Tatbestand des Werbens  
für eine "terroristische Vereinigung" müsse restriktiv ausgelegt werden  
und sei nicht etwa schon automatisch gegeben, wenn ein Bekennerbrief von  
RAF und "Revolutionären Zellen" abgedruckt werde. Daß die  
Bundesanwaltschaft mit ihrem aktuellem Vorgehen die Gesetze alles andere  
als restriktiv auslegt, versucht sie wohl durch die Schwere des Vorwurfs  
zu überspielen. Daß die Verhaftung der mutmaßlichen "radikal"-Macher  
kurzerhand mit der Razzia gegen die zur zweiten RAF hochstilisierte  
Antiimperialistische Zelle zusammengelegt wurde, obwohl die  
Bundesanwalschaft selber eingestehen muß, daß die eine mit der anderen  
nichts zu tun hat, war so gesehen wahrscheinlich auch kein Versuch, die  
Arbeit der politischen Polizeien zu rationalisieren, sondern ein Versuch,  
den Unterschied zwischen dem Gründen einer Vereinigung zur Herstellung  
einer Zeitung und dem Gründen einer Vereinigung zur Durchführung von  
Sprengstoffanschlägen zu verwischen.
von Oliver Tolmein
                  Was wahr ist wird auch in Zukunft
            geschrieben, gesetzt, gedruckt und vertrieben
                              -------
                              projekt
                               idsh