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Dokumentation --- Zensur von www.xs4all.nl
Text date: 03.09.1996
Author: Rechtsanwalt Michael Schneider
Quelle/Source: http://www.anwalt.de/ictf/p960901d.htm

Mitteilung der Internet Content Task Force (ICTF) vom 03.09.1996

RA Michael Schneider, eco e.V.

Am 30.08. ist uns ein Telefax der Bundesanwaltschaft zugegangen, in dem der eco e.V. über ein laufendes Ermittlungsverfahren informiert wird. Wir wurden in diesem Zusammenhang gebeten, allen an die ICTF (Internet Content Task Force) angeschlossenen Internet-Service-Providern wörtlich folgendes mitzuteilen:

"Unter folgenden Adressen im Internet:

http://www.serve.com/spg/154/
http://www.xs4all.nl/~tank/radikal//154/

sowie unter Benutzung des Links auf der Seite

http://ourworld.compuserve.com/homepages/angela1/radilink.htm

ist die Gesamtausgabe der Druckschrift "radikal Nr. 154" abrufbar. Teile des Inhalts dieser Druckschrift begründen den Anfangsverdacht eines nach § 129a Abs.3 StGB strafbaren Werbens für eine terroristische Vereinigung, einer nach § 140 Nr.2 StGB strafbaren öffentlichen Billigung von Straftaten sowie den Anfangsverdacht eines Vergehens der Anleitung zu Straftaten gemäß § 130a Abs.1 StGB. Der Generalbundesanwalt hat daher ein Ermittlungsverfahren gegen die Verbreiter dieser Druckschrift eingeleitet.

Sie werden darauf hingewiesen, daß Sie sich möglicherweise einer Beihilfe zu diesen Straftaten strafbar machen, soweit Sie auch weiterhin den Abruf dieser Seiten über Ihre Zugangs- und Netzknoten ermöglichen sollten."


Namens der ICTF habe ich den Vorgang - einschließlich aller unter den angegebenen URLs abrufbaren Dokumente - dokumentiert und das Schreiben wie folgt beantwortet (Auszug):

I.

Die in Ihrem Schreiben enthaltene Mitteilung habe ich an die bei ECO angeschlossenen Internet-Service-Provider (ISP) mit Post vom gleichen Tage übermittelt. Die von Ihnen erbetene "Liste der Firmen, an welche wir das Schreiben übermittelt haben", möchte ich Ihnen nicht ohne vorherige telefonische Rücksprache zur Verfügung stellen.

Wie Sie wissen, versteht sich der ECO e.V. als Verband eines wesentlichen Teils der deutschen Online-Wirtschaft; als solcher sind wir jedoch in erster Linie verpflichtet, die Interessen unserer Mitglieder zu wahren. Im Hinblick auf den in Ihrem Schreiben vorbehaltenen Strafvorwurf wegen einer Beihilfe zu den Straftaten, wegen derer das Ermittlungsverfahren geführt wird, bitte ich um Verständnis für unsere augenblickliche Zurückhaltung.

Um Ihre Ermittlungen nicht zu behindern und Schaden von unseren Mitgliedern abzuwenden, werde ich mich gleichwohl unverzüglich mit Ihnen in Verbindung setzen. Die Mitarbeiter meiner Kanzlei sind im übrigen angewiesen, Anrufe und Schreiben Ihrer Behörde mit Priorität an mich weiterzuleiten.

II.

Materiellrechtlich vermag ich Ihrer Bewertung nicht zu folgen, ein ISP sei gegebenenfalls wegen Beihilfe zu bestrafen, wenn er den Zugang zu strafrechtswidrigen Dokumenten, die über das sogenannte "World Wide Web" (WWW) abrufbar sind, nicht sperrt.

Strukturell betrachtet ist das WWW ein sogenanntes "Overlay-Netz", das sich des eigentlichen Internets lediglich zur Übermittlung von Daten bedient. Der ISP ist in einer solchen Konstellation nichts anderes, als ein klassischer Daten-Carrier, der seinen Kunden als Dienstleistung lediglich die Übermittlung von sogenannten "IP-Paketen" anbietet. Die Nutzdaten, die als IP-Pakete über das Netz transportiert werden, sind für ISPs de facto nicht identifizierbar. Die Provider verfügen auch anderweitig über keinerlei Möglichkeiten, die Daten, die als IP-Pakete über ihre Infrastruktur übermittelt werden, zur Kenntnis zu nehmen, denn die auf der Applikationsebene verfüg- und auswertbaren Daten befinden sich nicht in ihrem Herrschaftsbereich und sie werden erst Recht nicht von den Providern im Internet verfügbar gemacht. In diesem Zusammenhang habe ich mir erlaubt, zu überprüfen, auf welche Weise die von Ihnen angegebenen URLs an das Internet angebunden sind. Das Ergebnis gebe ich nachfolgend auszugsweise wieder: (es folgen kommentierte Traceroutes) ...

III.

Hinzu kommt, daß auch bezweifelt werden muß, ob eine Auswertung der in den IP-Paketen enthaltenen Nutzdaten-Elemente rechtlich zulässig wäre, denn anhand der IP-Pakete läßt sich nicht eindeutig entscheiden, ob die beförderten Daten im Rahmen einer individuellen Kommunikationsbeziehung übermittelt wurden und daher gemäß § 85 Abs.3 des inzwischen in Kraft getretenen Telekommunikationsgesetzes dem Zugriff durch Dritte entzogen sind.

IV.

Die Sperrung des Zugangs zu vermeintlich strafrechtswidrigen Seiten im WWW begegnet darüber hinaus auch praktischen Bedenken.

Die von Ihnen begehrte Sperrung der URL oder gar einzelner Dokumente ist aus meiner Sicht technisch nicht darstellbar. Um dies zu erläutern, sind zunächst einige Ausführungen zu dem DNS (Domain Name Service) erforderlich. Das dem Internet zugrundeliegende Protokoll TCP/IP verwendet 4-Byte-Adressen (die beispielsweise die Form 193.155.84.22 haben), womit ein Netzelement vollständig adressiert ist. Da sich der Umgang mit derartigen Adressen für den Anwender als schwierig darstellt, wurde mit dem DNS ein Namenssystem eingerichtet, welches alphanumerische Zeichenketten auf die technischen Netzadressen abbildet. Die Auflösung NameAdresse wird aber in der Regel bereits von den Clients der Internet-Teilnehmer durchgeführt, so daß der ISP nicht mehr erkennen kann, auf welche Domain bzw. auf welche URL sein Kunde zugreift. Als Alternative zur Sperrung der URL kommt daher lediglich die Sperrung eines Hosts, eines ganzen Netzes oder die Sperrung des WWW-Ports eines Hosts in Betracht. Mit einer derartigen Maßnahme läßt sich jedoch weder gewährleisten, daß vermeintlich strafrechtswidrige Dokumente nicht mehr abgerufen werden können (bei stark frequentierten WWW-Servern ist es nicht unüblich, ein Load-Ballancing durch Verwendung mehrerer Hosts durchzuführen), noch kann sichergestellt werden, daß unkritische Datenbestände nicht von der Sperrung betroffen werden. Letzteres wiederum stellt sich aber als Verletzung einer Hauptpflicht des zwischen dem ISP und seinen Kunden geschlossenen Provider-Vertrages dar.

Anhand des von Ihnen auf Seite 2 Ihres Schreibens dargestellten Beispieles läßt sich die Problematik deutlich aufzeigen. Das vermeintlich strafrechtswidrige Dokument, das Sie erwähnen, stellt sich bei näherer Betrachtung als rechtlich kaum angreifbar dar. In der Fassung, die ich soeben abgerufen und zu meiner Akte genommen habe, schreibt der Autor ausdrücklich folgendes:

"Aus aktuellem Anlaß wird hier die Erklärung zu den Durchsuchungen und dem Verbot der »radikal« wiedergegeben. Vor dem Betätigen des unten aufgeführten Links nach Amsterdam sollte diese unbedingt gelesen werden, um Mißverständnissen vorzubeugen. Der benannte Link ist als Hinweis auf die Seiten der »radikal«, als Möglichkeit der Meinungsbildung bezüglich gerade strittiger Texte in der Zeitschrift und als Protest gegen den Versuch, eine komplette Redaktion für abgedruckte Äußerungen einzelner verantwortlich zu machen, gedacht. Jede Auslegung in Richtung Gewaltverherrlichung, Aufforderung zur Militanz oder Vertrieb einer verbotenen Publikation ist nicht gerechtfertigt. Der Querverweis auf die »radikal« stellt keine inhaltliche Aussage zu einzelnen Passagen der publizierten Ausgabe dar. Er ist ein Beitrag gegen die Zensur in der Bundesrepublik Deutschland."

Diese Ausführungen mag man aus politischer Sicht mißbilligen, strafrechtswidrig sind sie jedoch nicht. Auch der weitere Text ist aus meiner Sicht rechtlich nicht angreifbar. Selbst aus der Tatsache, daß ein Hyperlink zu der RADIKAL-Ausgabe gesetzt ist, die von Ihnen angegriffen wird, vermag ich keine strafrechtliche Verantwortung abzuleiten. Für einen ISP, dem Sie nicht mehr als eine Parallelwertung in der Laiensphäre zumuten können, gilt dies erst Recht.

Selbst wenn man aber unterstellen wollte, daß das Dokument strafrechtswidrig wäre und daß einem ISP die Pflicht obläge, den Zugang zu diesem Dokument zu sperren, wäre das praktisch nicht darstellbar. Die URL "http://ourworld.compuserve.com", die den WWW-Server bezeichnet, auf dem das Dokument abgelegt ist, wird auf die Netzadresse 149.174.213.39 abgebildet. Ein ISP müßte den Zugang zu dem gesamten Host sperren, womit er im konkreten Fall zahlreiche andere Dokumente - darunter auch solche von völlig anderen Urhebern - erfassen würde. Es wäre sogar denkbar, daß der Zugang zu allen Dokumenten, die der Online-Dienst CompuServe im Rahmen seines Web-Housing-Angebotes im Internet verfügbar macht, für die Kunden des so handelnden ISPs nicht mehr erreichbar wären.

Angesichts der nicht erkennbaren Strafrechtsrelevanz des Dokumentes wäre ein solches Vorgehen unverhältnismäßig und es würde auch einen Schadensersatzanspruch aus PFV gegen den ISP begründen.

V.

Nach alledem sehen wir uns nicht in der Lage, den ECO angeschlossenen ISPs die Sperrung der von Ihnen genannten URLs zu empfehlen, bevor uns nicht weitere Informationen vorliegen, welche die Vermutung einer strafrechtlichen Mitverantwortung begründen und die oben dargestellten Bedenken zerstreuen. In der Erwartung einer dazu geeigneten rechtlichen Stellungnahme Ihrer Behörde haben wir den ECO angeschlossenen ISPs jedoch nahegelegt, die für eine Sperrung der maßgeblichen Hosts erforderlichen Vorbereitungen zu treffen.


Die in dem Schreiben an die Bundesanwaltschaft erwähnte Empfehlung an die bei ICTF angeschlossenen Provider enthielt folgenden Vorschlag:

  1. Bitte prüfen Sie, ob Sie den Zugriff auf die angegebenen Hosts "www.serve.com" und "www.xs4all.nl" oder auf den WWW-Port der Hosts sperren können. Hinsichtlich der erwähnten Compuserve-Seite sehe ich persönlich keine Möglichkeit, den Zugriff selektiv zu sperren; ich bitte Sie jedoch, auch das noch einmal mit Ihren Technikern zu überprüfen. Bereiten Sie sodann die erforderlichen Maßnahmen vor, um eine Sperrung durchzuführen.
  2. Ich selbst werde mich bemühen, mit dem Generalbundesanwalt schnellstmöglich eine Klärung herbeizuführen. Bis dies erfolgt ist, halte ich es für vertretbar, die Sperrung aufzuschieben. Um eine Rücksprache habe ich mich noch am 30.08. bemüht, allerdings konnte ich an diesem Tag keinen Kontakt mit dem zuständigen Dezernenten herstellen.
  3. Sobald ich detailliertere Informationen habe, werde ich mit denjenigen ISPs, die den ECO-Dienst "ICTF" abonniert haben, Kontakt aufnehmen, um das weitere Vorgehen zu besprechen. ...

Zu einem Gespräch mit dem zuständigen Dezernenten kam es am Nachmittag des 03.09. Man teilte mir mit, daß die Bundesanwaltschaft eine grundlegend andere Rechtsauffassung vertritt, als die ICTF (eine kurze Zusammenfassung unserer Rechtsansicht findet sich hier). Ein Internet-Service-Provider mache sich jedenfalls dann der Beilhilfe schuldig, wenn er untätig bleibe, nachdem man ihn über die URL eines strafrechtswidrigen Dokumentes informiert hat. Ermittlungsverfahren gegen die Provider seien bislang noch nicht eingeleitet worden, weil man sich darauf verlasse, daß die Provider eine Bestrafung abwenden, indem sie dem Wunsch der Bundesanwaltschaft nach Sperrung der maßgeblichen URLs nachkommen.

Die Bundesanwaltschaft habe im vorliegenden Fall das Angebot der ICTF aufgegriffen, das Gespräch mit uns als Zentralstelle zu suchen, anstatt den sonst üblichen Weg zu gehen. Der "sonst übliche Weg" sei, die Landesjustizministerien zu kontaktieren und über diese zu veranlassen, daß polizeiliche Maßnahmen (Zwangsgeld, Ersatzvornahme) ergriffen werden. Auch weitergehende Maßnahmen seien in diesem Zusammenhang denkbar.


Die ICTF spricht daraufhin gegenüber den angeschlossenen Providern folgende Empfehlung aus:

  1. Die von der Bundesanwaltschaft angegriffenen Ausgaben der Zeitschrift "RADIKAL" sind nach einer gestern von uns durchgeführten Plausibilitätskontrolle in Teilen offensichtlich rechtswidrig. Aus diesem Grunde und aufgrund der nicht eindeutig bestimmbaren Rechtslage können sich deutsche Internet-Service-Provider einer Mitwirkung in dem laufenden Ermittlungsverfahren nicht völlig entziehen.
  2. Eine Sperrung der URL http://ourworld.compuserve.com/homepages/angela1/radilink.htm ist aus unserer Sicht aber weder notwendig noch vertretbar. Wir hatten den Eindruck, daß unsere diesbezügliche Argumentation von der Bundesanwaltschaft verstanden wurde.
  3. Die URLs http://www.serve.com/spg/154/ und http://www.xs4all.nl/~tank/radikal//154/ bzw. die zugehörigen Hosts sollten mit sofortiger Wirkung, aber zeitlich begrenzt für die Dauer von 28 Tagen, gesperrt werden.
  4. Eine Löschung der entsprechenden Einträge auf Proxy-Servern ist erforderlich. Wir empfehlen, die Seiten dort - falls das im Einzelfall möglich ist - durch den Inhalt von http://www.anwalt.de/ictf/p960901d.htm zu ersetzen.

Mit freundlichen Grüßen

- für den ECO e.V. -

Michael Schneider
(Rechtsanwalt)


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