Dokumentation --- Zensur von www.xs4all.nl
Text date: 13.09.1996
Author: Detlef Borchers
Quelle/Source: Die Zeit

Bulkware: Radikal anonym


von Detlef Borchers



Wer seinen Internet-Zugang über einen deutschen Internet-Provider erkauft, hat in der vergangenen Woche gewiß seltsame Post von seinem Dienstleister bekommen. In gedrechselten Erklärungen an alle Kunden war da zu lesen, zu welchen Internet-Anbietern der Zugang ab sofort versperrt sei.

Hintergrund der fürsorglichen Auslagerung war eine Aktion der Bundesanwaltschaft gegen die Zeitschrift Radikal, die ihre letzten beiden Ausgaben Seite für Seite ins Internet stellte, da sie auf Papier hier verboten ist. Die Bundesanwaltschaft in Karlsruhe ist der Ansicht, das Organ leite zu terroristischen Straftaten an. So schrieb sie nun an die Lobbyorganisation der Internet-Provider namens ECO, die das an ihre Mitglieder weitergab: "Sie werden darauf hingewiesen, daß Sie sich möglicherweise einer Beihilfe zu diesen Straftaten strafbar machen, soweit Sie auch weiterhin den Abruf dieser Seiten über Ihre Zugangs- und Netzknoten ermöglichen sollten."

Die Sache hat einen Haken. Die digitalen radikalen Seiten liegen nicht auf deutschen Computern, sondern auf einem holländischen Server beim Provider Xs4all. Das heißt "Access for all". Als kompromißloser Graswurzel-Server will Xs4all Netzzugang für alle schaffen und Platz für alle Inhalte bieten. Er reagierte auf die Aktivitäten der Justiz mit einem weltweiten Appell im Internet. Innerhalb von wenigen Stunden waren die Radikal-Ausgaben auf zwei Dutzend Server von Grönland bis Tuvalu kopiert. Deutsche Provider hätten schon eine Standleitung zu den Bundesanwälten schalten müssen, um die Ausschlußliste annähernd aktuell zu halten.

Die Information an die betroffenen Internet-Nutzer war meist ebenso verstaubt wie geschraubt. Vielfach zitierten die Provider lediglich Paragraphen des Strafgesetzbuches. Nur wenige hatten den Mut, den Titel der Zeitschrift zu nennen. Selbstverständlich informierte keiner seine Kunden auch nur zart darüber, wie leicht im Internet solche Sperren zu umgehen sind. Der Ausschluß betrifft ja immerhin ganze Server, nicht nur spezifische Inhalte dort. Xs4all etwa beherbergt auch Universitätsdaten und die Seiten der israelischen Botschaft in den Niederlanden.

Wie simpel man um Sperren herum an einen verwunschenen Platz im World Wide Web gelangt, wurde hier bereits einmal beschrieben. Sehr beliebt ist der Anonymizer , der alle Seiten im Auftrag besorgt. Der Server erfährt dabei nicht den Namen des Nutzers, der Provider des Nutzers nicht, woher die Seite stammt.

Der Briefkasten von Radikal arbeitet übrigens ähnlich. Die elektronische Leserpost muß an einen automatischen Remailer im Netz geschickt werden, der den Autorennamen durch eine anonyme Kennung ersetzt.

Just vergangene Woche nun stellte der traditionsreichste der fünf großen Remail-Server, anon.penet.fi in Finnland, seinen Betrieb ein. Der Hintergrund ist eine Klage der Scientology-Sekte aus den USA. Abtrünnige Scientologen hatten vor Jahren interne Dokumente anonym über Finnland ins Internet geschickt. Scientology zeigte daraufhin den Betreiber des finnischen Systems an. Weil in Finnland das Briefgeheimnis nicht für E-Mail gilt, konnte die Sekte die Herausgabe der echten Absendernamen erwirken.

Allenthalben wurde gestaunt, was für ein Computer hinter dem gefürchteten Remailer steckte. Ein prähistorischer 386er-PC hatte da jahrelang jeden Tag rund 7500 Nachrichten anonymisiert. Leistungsfähige neue Systeme lösen ihn ab, die über Kreuz und daher kaum entwirrbar verschlüsseln können, sehr zum Leid aller Behörden.

(C) DIE ZEIT Nr.38 vom 13. September 1996



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