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Fri Sep 20 10:43:48 1996
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Dokumentation --- Zensur von www.xs4all.nl
Text date: 19.09.1996
Author: Niklaus Habluetzel
Quelle/Source: http://www.taz.de/
Karlsruher Faustrecht
Das Internetverbot der Zeitschrift "radikal" untergraebt den
Gesetzentwurf fuer Informations- und Kommunikationsdienste
Noch in diesem Jahr will der Deutsche Bundestag ein Gesetz
verabschieden, das die bislang ungeklaerten Rechte und Pflichten von
Internetprovidern regelt. Das Bonner Kabinett hat dem Entwurf
zugestimmt, doch dem Generalbundesanwalt in Karlsruhe ist das
"Informations- und Kommunikationsdienstegesetz" (IuKDG) zu liberal.
Es stellt im Artikel 1, Paragraph 5 ausdruecklich fest:
"Diensteanbieter sind fuer fremde Inhalte, zu denen sie lediglich den
Zugang zur Nutzung vermitteln, nicht verantwortlich."
"Diensteanbieter" im Sinn des Gesetzes sind Unternehmen und
Institutionen, die irgendeinen Zugang zum Internet zur Verfuegung
stellen, Internetprovider, Onlinedienste mit eigenem Netz und
Universitaeten. Traete der Paragraph in Kraft, waeren Staatsanwaelte
wieder darauf verwiesen, Straftaeter zu ermitteln, statt sich an den
Brieftraegern schadlos zu halten.
Weil ihr das im Internet schwerfaellt, versucht die Bundesanwaltschaft
zur Zeit auf eigene Faust Fakten zu schaffen. Anlass bot die
Zeitschrift radikal, deren neuste Ausgabe nach Karlsruher Lehrmeinung
unter anderem gegen die Strafrechtsparagraphen 129a und 130a verstoesst
(Unterstuetzung einer terroristischen Vereinigung und Aufruf zur
Gewalt). Anders als die amerikanischen Puritaner, die mit ihrem
Zensurgesetz gegen das Internet in diesem Fruehjahr gescheitert sind,
koennen die deutschen Terroristenjaeger einen gewissen Erfolg vermelden.
Auf ihre Anweisung hin haben die Internetprovider, die dem
Interessenverband "Electronic Commerce Forum" (eco) angeschlossen
sind, den Zugang zu dem niederlaendischen Rechner "xs4all" gesperrt,
der die Zeitschrift ins Netz stellt.
Politisch unauffaellige, mittelstaendische Firmen stehen ploetzlich im
Verdacht der Beihilfe zu den traditionellen Tatvorwuerfen gegen
Linksradikale. Dabei hatte schon ihr Interessenverband, mehr noch aber
seine ahnungsvoll ins Leben gerufene Hauspolizei gegen mutmasslich
strafbare Post aus dem Cyberspace, die sogenannte Internet Content
Task Force, bei alten Netzhasen den Verdacht Zensur geweckt. Heute
fuehlen sie sich in ihren schlimmsten Befuerchtungen bestaetigt. Seit
zwei Wochen kennt die Newsgroup "de.soc.zensur" nur noch ein Thema:
Rechtsanwalt Michael Schneider, eco-Vorstandsmitglied und Miterfinder
der Internet Content Task Force. "Ein Haufen aengstlicher Huehnchen"
gehoert noch zu den milderen Ausdruecken, mit denen der Pruegelknabe
beider Seiten hier bedacht wird. Mitarbeiter von eco- Providern
versuchen sich zu rechtfertigen, aber auch sie koennen nicht leugnen,
dass die Generalbundesanwaltschaft ("Weichbirnen") in Schneider eine
dankbare Adresse gefunden hat, an der sie ihren Mut kuehlen kann.
Die erste Aufforderung zur Blockade des radikal-Servers erreichte den
Rechtsanwalt am 30. August. Ende letzter Woche liess die
Bundesanwaltschaft durchblicken, sie habe nun die angedrohten
Ermittlungen gegen diejenigen Provider aufgenommen, die der ersten
Mahnung nicht gefolgt seien.
Die wussten nur selbst nicht recht, was sie tun sollten, sowenig wie
die Bundesanwaltschaft selbst. Schneider hatte zunaechst nur
empfohlen, die numerische Adresse zu sperren, unter der die
Netzcomputer den niederlaendischen Server bislang angewaehlt hatten.
Irgendein Erfolg war damit nicht zu erzielen. Die niederlaendischen
Netzprofis fuehrten ein System ein, das dem Namen "xs4all" in
schneller und unregelmaessiger Folge immer neue Nummernadressen
zuordnet. Damit blieb die radikal weiter verfuegbar. Die militaerische
Herkunft des Internet schien sich zu bewaehren. Selbst die Sperrung
einer ganzen Nummernklasse fuehrte nicht zum verlangten Ziel: die
radikal kam auch durch diese Schranke.
Der Generalbundesanwalt setzte nach. Per Fax verlangte er Ende
letzter Woche wirksamere Massnahmen. Tatsaechlich ist xs4all von
eco-Providern aus seither nicht mehr erreichbar, wenigstens nicht
direkt. Es genuegt jedoch, den Umweg ueber den sogenannten Anonymizer
(http://www. anonymizer .com) zu gehen. Dahinter steckt der Rechner
einer privaten Firma in den USA, die sich mit Werbung finanziert. Er
uebernimmt die Anfrage und liefert unter seinen eigenen Adresse die
verlangten Dokumente zurueck - auch an eco-Kunden, deren Hausrechner
nicht sofort herausfinden kann, was die aktuell angewaehlte Gegenstelle
treibt.
Welcher Trick heute den regulaeren Weg zu xs4all tatsaechlich
abschneidet, will Schneider nicht verraten. Er moechte der Gegenseite
keine Gelegenheit zu weiteren Eskalationen bieten. Der Streit ist zum
Praezedenzfall geworden. Um die Zeitschrift radikal geht es schon
lange nicht mehr. Sie ist inzwischen auf ueber dreissig anderen
Internetrechnern, sogenannten Mirrors, jederzeit abrufbar.
Den Schaden haben nicht die paar deutschen Linksradikalen, sondern
der niederlaendische Rechnerbetreiber. Kunden wollen ihren Vertrag
kuendigen. Einer von ihnen, schreibt xs4all, habe mit seinen
wirtschaftlichen Interessen in Deutschland argumentiert, die es ihm
nicht erlaubten, vom Internet abgeschnitten zu sein. Der Brief fordert
Schneider auf, noch in dieser Woche oeffentlich zu erklaeren, dass die
Blockade aufgehoben sei.
Durchaus kompromissbereit bietet xs4all die radikal nicht mehr zur
Onlinelektuere an. Die Zeitschrift ist in eine Archivdatei verpackt.
Nach wie vor aber drohen die Niederlaender mit Schadensersatzklagen
gegen Deutschland und den eco-Verband. Schneider glaubt, damit
zumindest einen Punktsieg errungen zu haben. Er hofft, noch in dieser
Woche die Rechnersperre wegen nachweislichen Misserfolgs wieder
aufheben zu koennen. Nicht zuletzt die Aussicht auf internationale
Schadensersatzklagen werde in Karlsruhe ihre Wirkung nicht verfehlen,
hofft Schneider.
Hausbesuche von Karlsruher Ermittlern hat bisher kein Provider
erdulden muessen. Am allerwenigsten die Telekom und CompuServe. Der
amerikanische Onlinedienst hat lediglich die Website der
PDS-Vorstaendlerin Angela Marquard geloescht, die einen Link zur
radikal enthielt - Schneider hat sie auf seinen Server uebernommen,
(http://www.anwalt.de/ictf/mirror/ radilink.htm), allerdings ohne den
radikal-Link "zur Vermeidung strafrechtlicher Konsequenzen", wie der
Anwalt schreibt.
Die umstrittene Adresse selbst hingegen ist ueber CompuServe
unbehindert erreichbar. Auch der Sprecher von "T-Online versichert,
dass die Telekom "keine einzige Webadresse" gesperrt habe. Aber
Schneider weiss, dass die bislang auffaellig verschonte Konkurrenz mit
Interesse auf den Ausgang der radikal-Affaere wartet. Nicht nur der
Generalbundesanwalt hat ihn als Sparringspartner entdeckt. Letzte
Woche ging ein Schreiben der Staatsanwaltschaft von
Nordrhein-Westfalen in seiner Kanzlei ein. Es enthielt wieder die
Aufforderung, einen Server zu sperren, diesmal wegen der Verbreitung
von Kinderpornographie. Schneider nahm die Sache selbst in Augenschein
und folgte der Anweisung. Nicht einmal den Puristen der Newsgroup
de.soc.zensur war dieser Fall eine Debatte wert. Sie nahmen lediglich
hoehnisch Schneiders schriftliche Aufforderung an den Rechnerbetreiber
zur Kenntnis, die strafbaren Dinge zu entfernen.
Natuerlich liegt bis heute keine Antwort vor, inzwischen ist der
Server auch von Amerika aus nicht mehr erreichbar. Daher muessen
selbst die Kunden von T-Online auf dieses Angebot verzichten, jedoch
nicht, weil die Telekom Straftaten vereitelt hat: Bei T-Online ist
von einer staatsanwaltlichen Anweisung, irgendeinen Pornoserver zu
sperren, nichts bekannt.
Niklaus Habluetzel