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Online seit:
Wed Apr 23 09:03:18 1997
 

junge Welt, Sonnabend/Sonntag, 19./20. April 1997
>> Radikaler Eingriff ins Internet

> Wegen "radikal" sperrt groesster deutscher Internet-Provider
> Zugang zu Server

Sie schreiben einen Brief an einen Freund in den Niederlanden.
Weil die Bundespost befuerchtet, dass Sie vielleicht einen Brief
mit illegalem Inhalt als Antwort erhalten, schmeisst der
umsichtige Postbote Ihren Brief einfach weg und sagt auch
noch, er waere rechtlich dazu verpflichtet.
Was im normalen Postdienst kaum denkbar ist, wird im Internet
praktiziert. Der Verein Deutsches Forschungsnetz (DFN),
welcher die Internet-Anbindung aller deutschen Universitaeten
zur Verfuegung stellt, hat seit Freitag, dem 11. April 1997,
den Zugriff auf den Rechner www.xs4all.nl in den Niederlanden
gesperrt. Die verschickten IP-Pakete werden auf den DFN-
Rechnern einfach "weggeschmissen".

Dieses sogenannte IP-Filtering verhindert, dass Anfragen, die
an den Rechner gestellt werden, weitergeleitet werden.
Der Rechner www.xs4all.nl enthaelt die Internet-Ausgabe der
kriminalisierten Zeitschrift "radikal". Durch die Sperrung des
gesamten Rechners sind allerdings auch Tausende von
anderen Seiten nicht mehr abrufbar.

Strafrechtlich unbedenkliche Inhalte wie Universitaetsseiten,
Verschluesselungsprogramme, Informationen ueber Scientology und
6 000 private Homepages sind nicht mehr erreichbar.

Veranlasst wurde die Sperrung vom administrativen
Geschaeftsfuehrer des DFN, Klaus-Eckardt Maass, der damit einer
Aufforderung des Bundeskriminalamtes vom 2. April 1997
nachkam. Gegenueber junge Welt begruendete Maass sein Vorgehen:
"Nach dem Teledienstgesetz Paragraph 5 Absatz 4 bin ich dazu
verpflichtet, die Seiten zu sperren." Das Gesetz ging
allerdings am gestrigen Freitag erst in die erste Lesung im
Bundestag, ist mithin noch laengst nicht in Kraft. Maass meint
jedoch: "Unsere Juristen haben mir bestaetigt, dass die Inhalte
der radikal 154 im Internet in Deutschland rechtswidrig sind.
Ich moechte wegen der radikal-Seiten nicht ins Gefaengnis
gehen."

"So lange, bis die aergerlichen Inhalte von dem Server
verschwunden sind", bleibe der Server gesperrt, so Maass
weiter.

Felipe Rodriguez, Betreiber des niederlaendischen Rechners,
denkt mitnichten an eine Zensur des eigenen Rechners "ohne
eine ordentliche Gerichtsentscheidung". Als Provider will er
nicht "die Redefreiheit seiner Kunden einschraenken".

Ilja Gerhardt (ilja@so36.de)