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Für einen Kongreß merkwürdiger Religionen

Wir haben gelernt, dem Verb sein, dem Wort ist zu mißtrauen - sagen wir lieber: seht die auffallende Ähnlichkeit zwischen dem Konzept SATORI & dem Konzept REVOLUTIONIERUNG DES ALLTAGSLEBENS (RdA) - in beiden Fällen: eine Wahrnehmung des »Gewöhnlichen« mit außergewöhnlichen Konsequenzen für Bewußtsein & Aktion. Wir können nicht sagen »ist wie«, da beide Konzepte (wie alle Konzepte, was das betrifft: alle Wörter) zu sehr beladen sind - ein jedes mit der Last psycho-kulturellen Gepäcks, wie Gäste, die auffällig gut ausgerüstet zum Wochenendbesuch auftauchen.¶

Erlaubt mir den altmodischen Beat/Zen-Gebrauch von Satori und die gleichzeitige Betonung - was den situationistischen Slogan betrifft - daß eine der Wurzeln seiner Dialektik in der dadaistischen & surrealistischen Vorstellung des »Wunderbaren« zu finden ist, das aus dem Leben hervor- oder in ein Leben hineinbricht, das vom Banalen, vom Elend der Abstraktion & Entfremdung erdrückt zu werden scheint. Ich definiere meine Begriffe eher vage, um genau die Orthodoxie von Budhismus & Situationismus zu vermeiden, ihren ideologisch-semantischen Fallen zu entgehen - diesen kaputten Sprachmaschinen! Stattdessen schlage ich vor, Teile davon in einem Akt kultureller Bricolage zu plündern. »Revolution« bedeutet eine weitere Umdrehung der Kurbel - während religiöse Orthodoxie irgendeiner Art logischerweise zu einer wahren Regierung von Knallköpfen führt. Laßt uns Satori nicht dadurch erhöhen, indem wir es zum Monopol mystischer Mönche stilisieren oder zum Beitrag zu irgendeinem Moralkodex; & statt die 68er Linkspolitik zum Fetisch zu erheben, ziehen wir Stirners Terminus »Insurrektion« oder »Aufstand« vor. Er entgeht der Implikation der bloßen Veränderung der Autorität.¶

Diese Konstellation von Konzepten beinhaltet den »Regelbruch« mit der angeordneten Wahrnehmung, um bei der unmittelbaren Erfahrung anzukommen, was in etwa dem Prozeß analog ist, durch den Chaos sich spontan in fraktale, nichtlineare Ordnungen wandelt, oder der Art, wie »wilde«, kreative Energie sich in Spiel & poesis auflöst. »Spontane Ordnung« aus dem »Chaos« ruft andererseits den anarchistischen Taoismus des Tschuang-Tse hervor. Zen mag beschuldigt werden, sich nicht der »revolutionären« Implikationen des Satori bewußt zu sein, während die Situationisten dafür kritisiert werden können, die der Selbstverwirklichung & Konvivialität (die ihre Sache fordert) inhärente gewisse »Spiritualität« zu ignorieren. Durch die Gleichsetzung von Satori mit der RdA vollziehen wir so etwas wie eine Mußheirat, die so bemerkenswert ist wie das berühmte surrealistische Kopulieren von Regenschirm & Nähmaschine oder was immer das war.¶

Ich bin geneigt, darzulegen zu versuchen, in welcher Weise Satori wie die RdA »ist« - aber ich kann es nicht. Oder um es anders zu formulieren: fast alles, was ich schreibe, kreist um dieses Thema. Ich müßte nahezu alles wiederholen, um diesen einen Punkt zu erläutern. Statt dessen biete ich - als Anhang - ein weiteres merkwürdiges Zusammentreffen oder Interpenetration zweier Begriffe, der eine wiederum aus dem Situationismus & der andere dieses Mal aus dem Sufismus.¶

Dériver oder »Streunen« wurde begriffen als eine Übung zur bewußten Revolutionierung des Alltagslebens - eine Art zielloses Flanieren durch die Straßen der Stadt, ein visionärer urbaner Nomadismus, offen für die »Kultur als Natur« (wenn ich es richtig verstehe) - wodurch sich bei den Streunenden über dessen bloße Dauer eine Empfänglichkeit zur Erfahrung des Wunderbaren einstellt; nicht immer in der erfreulichen Form vielleicht, aber hoffentlich von produktiver Einsicht, - ob durch Architektur, Erotik, Abenteuer, Trinken & Drogen, Gefahr, Inspiration, was auch immer - in die Intensität der nichtmediatisierten Wahrnehmung & Erfahrung.¶

Der entsprechende Terminus des Sufismus wäre »Reisen zu den entfernten Horizonten« oder einfach »Reisen«, eine spirituelle Übung unter Zusammenfassung der urbanen & nomadischen Energien des Islam zu einem einzigen Pfad, was manchmal »die Karawane des Sommers« genannt wird. Der Derwisch verspricht, in einer gewissen Geschwindigkeit zu reisen, wobei er vielleicht nicht mehr als sieben oder vierzig Nächte in einer Stadt verbringt, annimmt, was da kommt, zieht, wohin ihn Zeichen & Zufälle oder einfach Launen führen mögen, einen Kraftpunkt nach dem anderen ansteuernd, sich der »heiligen Geographie« bewußt, der Reiseroute als Sinn, der Topologie als Symbolik.¶

Hier ist eine weitere Konstellation: Ibn Khaldun, On the Road (von Jack Kerouac & Jack London), die Form des Abenteuerromans im allgemeinen, Baron Münchhausen, Marco Polo, Knaben in einem sommerlichen Vorstadtwald, Artus-Ritter auf der Suche nach Streit, Queers, die Knaben anmachen wollen, eine Sauftour mit Melville, Poe, Baudelaire - oder eine Kanufahrt mit Thoreau in Maine ... Reisen als Anthithese zu Tourismus, Raum statt Zeit. Kunstprojekt: die Erstellung einer »Karte« des zu explorierenden Territoriums im Maßstab 1:1. Politisches Projekt: die Schaffung von beweglichen »autonomen Zonen« innerhalb eines unsichtbaren nomadischen Netzwerkes (wie die Rainbow Gatherings). Spirituelles Projekt: Erschaffung oder Entdeckung von Pilgerreisen, bei denen das Konzept »Schrein« durch das Konzept »Maximalerfahrung« ersetzt (oder esoterisiert) wurde.¶

Ich versuche hier (wie immer), eine solide Grundlage zu liefern - eine merkwürdige Philosophie, wenn man so will - für das, was ich Freie Religionen nenne, einschließlich der psychedelischen & diskordanten Strömungen, des nicht-hierarchischen Neo-Paganismus, antinomischer Häresien, Chaos & Kaos-Magik, revolutionärem HooDoo, »exkommunizierter« & anarchistischer Christen, magischen Judentums, der Moorish Orthodox Church, der Church of the SubGenius, den Feeries, radikalen Taoisten, Biermystikern, Kräuterfreaks etc. pp.¶

Im Gegensatz zu den Erwartungen der Radikalen des 19. Jahrhunderts ist Religion nicht verschwunden - vielleicht ginge es uns besser ohne sie -, sondern hat an Macht gewonnen. Der Machtzuwachs ist offensichtlich der Expansion im Bereich der Technologie & Kontrolle proportional.¶

Sowohl der Fundamentalismus wie die New-Age-Bewegung verdanken ihre Stärke tiefer & weitverbreiteter Unzufriedenheit mit dem System, das gegen jegliche Wahrnehmung des Wunderbaren arbeitet - ihr könnt es Babylon oder Spektakel, Kapital oder Imperium, Gesellschaft der Simulation oder des seelenlosen Mechanismus nennen - wie ihr wollt. Aber diese beiden religiösen Kräfte machen aus dem Wunsch nach dem Authentischen erdrückende & unterdrückerische Abstraktionen (Moral im Falle des Fundamentalismus, Vermarktung im Falle von New Age) & können aus diesem Grund zurecht als »reaktionär« bezeichnet werden.¶

Kulturradikale werden versuchen, die populären Medien zu infiltrieren & zu unterwandern, & politische Radikale werden versuchen, ähnliche Funktionen in den Bereichen Arbeit, Familie & anderen gesellschaftlichen Sektoren zu erfüllen. Die gleiche Notwendigkeit besteht für Radikale, in die Institution der Religion selbst vorzudringen, statt lediglich die Platitüden aus dem 19. Jahrhundert über atheistischen Materialismus zu wiederholen. Es passiert ohnehin - da ist es besser, dies bewußt, mit Würde & Stil zu tun.¶

Da ich einmal in der Nähe des Hauptquartiers des Weltkirchenrates gewohnt habe, mag ich die Möglichkeit der Parodie Freier Kirchen - Parodie als eine unserer Hauptstrategien (oder nennt es détournement oder Dekonstruktion oder kreative Destruktion) - eine Art loses Network (ich mag das Wort nicht; laßt es uns lieber »Webwork« nennen) seltsamer Kulte & von Individuen, die an Konversation & gegenseitiger Hilfe interessiert sind, woraus ein Trend oder eine Tendenz oder »Strömung« (um den magischen Ausdruck zu verwenden) entstehen könnte, stark genug, etwas psychische Verwüstung unter den Fundis und New Agern oder gar unter den Ajatollahs & dem Papsttum anzurichten, konvivial genug, damit wir untereinander nicht übereinstimmen müssen & dennoch spitzenmäßige Parties organisieren können - oder Konklaven, oder ökumenische Räte, oder Weltkongresse - die wir mit Lust antizipieren.¶

Die Freien Religionen bieten vielleicht ein paar der einzig möglichen spirituellen Alternativen zu den televangelischen Sturmtruppen & den dummköpfigen Kristall-Channellers (von den etablierten Religionen ganz zu schweigen) & werden daher wichtiger & wichtiger, vitaler & vitaler in einer Zukunft, in der die Forderung nach der Eruption des Wunderbaren in das Gewohnte zur lautesten, schärfsten & tumultuösesten aller politischen Forderungen werden wird - eine Zukunft, die (einen Moment, ich muß einen Blick auf meine Uhr werfen) ... 7, 6, 5, 4, 3, 2, 1 ... JETZT beginnt.¶

Saurier, 0.28k



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