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Sun Jan 19 15:12:38 1997
 

info zum prozess gegen birgit hogefeld nummer 1

1.12.94 Wiesbaden

Der Prozess gegen Birgit Hogefeld begann am 15.11. vor dem OLG Frankfurt. Birgit Hogefeld ist am 27.06.93 in Bad Kleinen verhaftet worden. Bad Kleinen, die Ermordung von Wolfgang Grams und die Vertuschung dieses Geschehens, in das BKA, BAW und VS verwickelt sind, sorgte damals fuer grossen Wirbel in der Oeffentlichkeit.

Birgit, die in Bad Kleinen schon ueberwaeltigt am Boden lag, bevor der erste Schuss fiel, wird nun wegen "Mord" an den GSG 9 Mann Newrzella und "Mordversuch" an weiteren GSG 9 Maennern in Bad Kleinen angeklagt. Dadurch, dass Birgit wegen Bad Kleinen angeklagt wird, besteht die Moeglichkeit, dass in dem Prozess gegen sie der gesamte Ablauf der GSG 9 Aktion, einschliesslich der Erschiessung von Wolfgang Grams, noch einmal in einem oeffentlichen Rahmen zur Sprache kommt.

Weitere Anklagepunkte betreffen Aktionen der RAF, bei denen Birgit - teilweise auf der Grundlage ausdruecklich festgestellter "geringer Wahrscheinlichkeit" - eine persoenliche Beteiligung angelastet wird: - den Sprengstoffanschlag auf die US-Airbase in Frankfurt und in dem Zusammenhang die Erschiessung des US-Soldaten Pimental 1985 - den Anschlag auf den damaligen Finanzstaatssekretaer und heutigen Praesidenten der Bundesbank Tietmeyer waehrend der Tagung des IWF 1987 - und die Sprengung des Knastneubaus in Weiterstadt 1993. Mit diesen Anklagepunkten sollen der politische Charakter der Konfrontation RAF - Staat und alle politischen Fragen und Herausforderungen, die die RAF nicht nur fuer Linke aufgeworfen hat, unter dem Deckel des kriminellen Delikts verschwinden.

Das Prozess-Info soll regelmaessig zum Verlauf des Prozesses informieren und - wo moeglich - die Hintergruende beleuchten. Die Prozesserklaerungen von Birgit Hogefeld werden vollstaendig dokumentiert. Geplant ist eine monatliche Erscheinungsweise.

Birgit als politische Gefangene in diesem Prozess nicht allein zu lassen (was angesichts der unsolidarischen Haltung vieler ihr gegenueber besonders draengend ist), die staatliche Version von Bad Kleinen nicht hinzunehmen und Gegenoeffentlichkeit zum Prozess zu schaffen, das ist stichpunktartig die Orientierung der InfoAG zum Prozess gegen Birgit Hogefeld.

Die InfoAG hat sich erst kurz vor Prozessbeginn gebildet. Ueber die Prozessarbeit hinausweisende Vorstellungen zu entwickeln, haben wir uns im Rahmen der InfoAG nicht zum Ziel gesetzt. Das bislang schwach entwickelte Verhalten direkt zum Prozess bringt allerdings schon Erfordernisse an politische Diskussion mit sich, denen wir nicht ausweichen wollen. Diese beziehen sich auf die Entwicklungen der letzten 10 Jahre, an denen wir selber unterschiedlich Anteil hatten und woraus eine Verantwortlichkeit, besonders gegenueber Birgit und allen politischen Gefangenen, erwaechst. Diese Verantwortlichkeit kann nicht an die Vertretung einer bestimmten Linie gebunden sein. Bad Kleinen, Steinmetz und die Spaltung innerhalb des Zusammenhangs RAF/Gefangene aus der RAF haben Fragen aufgeworfen, die nicht ueber "Linien", "Gegenlinien" oder Schuldzuweisungen umgangen werden koennen. Die InfoAG wendet sich gegen diese Verweigerung der Auseinandersetzung, wie sie sich in den letzten Monaten ausgedrueckt hat, auch und besonders, wo sie sich direkt gegen Birgit richtet. Massgeblich fuer diese Entwicklung war die katastrophale Unfaehigkeit der Linken, die Schaerfe der Widersprueche in der eigenen Politik und in den Wirkungsmoeglichkeiten in die Gesellschaft hinein, anzunehmen und sich darin bewusst zu bewegen. Daraus resultierte auch die Unfaehigkeit, die tastende Suchbewegung wahrzunehmen, die in den Schritten der RAF und in den verschiedenen Ueberlegungen der Gefangenen seit dem Hungerstreik 89 gelegen hatte.

Birgit wird zu allen Punkten der Anklage etwas sagen. Die Aufarbeitung der letzten 10 Jahre betrifft aber nicht nur ihren Zusammenhang. Viele dieser Fragen, Grenzen und Fehler haben ein Gewicht weit ueber den Zusammenhang RAF hinaus. Birgits Gedanken zum Wechselverhaeltnis politischer Praxis und persoenlicher Veraenderung machen das deutlich: Nur Menschen, die gelernt haben, frei und selbstbewusst zu denken und zu handeln, halten auch in Zeiten wie diesen an ihren Zielen fest. (Birgit, Prozesserklaerung 15.11.94)

Bericht von den ersten 4 Prozesstagen

Am 15.11.1994 wurde vor dem 5. Strafsenat des Oberlandesgerichts Frankfurt - dem Staatsschutzsenat - der Prozess gegen Birgit Hogefeld eroeffnet.

Prozesserklaerung
Birgit gibt schon am ersten Tag eine Prozesserklaerung ab, in der sie darstellt, welche Aspekte zu der Deeskalationsents -Entscheidung der RAF 1992 gefuehrt haben. Sie benennt Bad Kleinen als Reaktion des Staates in einem bzw. auf einen Abschnitt, in dem die RAF von der militaerischen Konfrontation abrueckte. Sie spricht davon, dass sich ab der zweiten Haelfte der 80er Jahre gravierende politische Veraenderungen vollzogen, die kaum fassbar und von der bisherigen linken Analyse nicht erfasst waren. Dazu gehoert der Zusammenbruch der sozialistischen Staaten, aber auch der weltweite gesellschaftliche, soziale und Oekologische Zerfalls- und Zerstoerungsprozess. Dieser Zersetzungsprozess, der die kapitalistische Funktionsfaehigkeit selber untergraebt, trifft direkt und bedrohlich die Lebensgrundlagen der Menschen in allen Kontinenten. Der Verfall macht auch vor den Linken nicht halt; in diesem Kontext deutet Birgit den Reflex, sich auf Fehler und Schwaechen von anderen zu stuerzen, und die Spaltung des Zusammenhanges RAF/Gefangene. Ab etwa 89/90 ging es in der RAF auch darum, die eigene Geschichte, Erfahrungen und Fehler aufzuarbeiten, um zu neuen Bestimmungen und Inhalten zu kommen. Als einen Fehler benennt Birgit die jahrelange fast ausschliessliche Ausrichtung des Kampfes an der Negation, an den Strategien und zentralen Projekten des Imperialismus. Es wurde keine gesellschaftliche Alternative zur kapitalistischen Ausrichtung formuliert und erkaempft. Dass darin das Moment des Aufbaus fehlt, ist ein Aspekt, der gegen die Entfaltung von Mobilisierungskraft gewirkt hat. In diesem Zusammenhang sagt sie auch, dass emanzipatorische Entwicklungen in vielen politischen Zusammenhaengen real nur eine untergeordnete Rolle gespielt haben, und dass das ein Grund fuer den derzeit desolaten Zustand der Linken ist. All das, und die Tatsache, dass eine soziale Gegenbewegung sich nicht entwickelte, begruendete 1992 die Entscheidung der RAF fuer die Zaesur. Verstaerkte Aufloesung von Gesellschaftlichkeit und fehlende politische und gesellschaftliche Gegenkraefte, die sozialen Sinn neu konstituieren, erlauben auch die Ausbreitung von Rassismus und Nationalismus als Identifikationsangebot im Sinne der Herrschenden. Gegen die Todeskultur des Systems muss konkret sichtbar eine Kultur des Lebens entwickelt werden. In Bad Kleinen ist aufgeschienen, in welche Richtung der Staat zu agieren bereit ist. Die Ermordung von Wolfgang war politisch nicht geplant, wurde aber von den Regierenden sofort in ihr Arsenal uebernommen und gedeckt. Birgit endet mit den Worten: Es wird keine Rueckkehr zur alten Strategie als politisches Konzept geben, aber (...) ich glaube nicht, dass wir nun widerstandslos unserer Vernichtung zusehen und ich moechte, dass sich alle ueber unsere Zukunft Gedanken machen.

Bad Kleinen
Eingebettet war die Erklaerung in den Einstellungsantrag der Verteidigung: Nach der Strafprozessordnung ist ein Verfahren dann einzustellen, wenn Verfahrenshindernisse bestehen, die ein faires Verfahren nicht zulassen oder eine Klaerung der Umstaende erkennbar verhindern. Der Einstellungsantrag war der juristische Weg, um Bad Kleinen, Methoden der Sicherheitsapparate und damit das Verfolgungsgefuege zu thematisieren, in dem ein Gerichtsverfahren das öffentlichste und damit scheinbar zivilisierteste Glied darstellt. Dass der GSG-9-Beamte Newrzella in Bad Kleinen von Wolfgang Grams erschossen wurde, dass Wolfgang Grams sich selbst toetete, ist der Kern der von allen staatlichen Stellen zur Doktrin erklaerten und von den Medien inzwischen weitgehend uebernommenen Verschleierung der Ereignisse in Bad Kleinen. Mit dieser Doktrin soll gleichzeitig einer Oeffentlichen Infragestellung des Einsatzes von Spitzeln, die vor die Muendungsfeuer massenhaft postierter Scharfschuetzen locken, das Wasser abgegraben werden. Die herrschende Version zu Bad Kleinen soll aber auch einer der unhinterfragbaren Ausgangsvorausssetzungen des Prozesses und des geplanten Urteils gegen Birgit sein. Der Einstellungsantrag benannte viele Einwaende gegen die Bad- Kleinen-Doktrin: Es gibt Zeugenaussagen zum Nahschuss auf Wolfgang, wohingegen Zeugenaussagen zur Selbsttoetung fehlen. Mehr als fuenfzig zur Verfolgung von Birgit und Wolfgang eingesetzte Maenner wollen nicht gesehen haben, wie Wolfgang zu Tode kam. Die Mauer des Schweigens derer, die das eine nicht gesehen haben wollen und das andere nicht gesehen haben koennen, ist offensichtlich. Weiterhin referierte der Einstellungsantrag zwei Gegengutachten, in denen nachgewiesen wird, dass die Selbstmordtheorie nicht haltbar ist und dass eine Verletzung an Wolfgangs Hand darauf hindeutet, dass Wolfgang die Waffe mit Gewalt abgenommen wurde (Entwindungsgriff).Die Vielzahl von Spurenvernichtungen und Beweisvereitelungen, die der Einstellungsantrag benannte, lassen in ihrer Addition eine Methodik erkennen: durch eine Vergroesserung von Beweisluecken der Doktrin mit den kurzen Beinen prothetisch etwas aufzuhelfen. Dreiste Luegen werden in eine Darstellungsweise transformiert, die sich darauf beruft, dass sich Anhaltspunkte nicht ergeben haben. Eine der Einzelheiten aus dem Einstellungsantrag: Am 27.6.1993, dem Tag der Festnahme von Birgit Hogefeld und der Toetung von Wolfgang Grams hatte die Bundesanwaltschaft zunaechst eine Presseerklaerung vorbereitet, in der von der Festnahme Birgits und von einem Kopfschuss bei Wolfgang Grams die Rede war. Dieser Entwurf wurde nicht veroeffentlicht, sondern derart abgeaendert, dass Birgit Hogefeld den Schusswechsel eroeffnet habe und Wolfgang Grams an Schussverletzungen verstorben sei. Diese Fassung ging dann an die Öffentlichkeit und steht beispielhaft fuer die folgende Desinformationspolitik. Viele andere Einzelheiten sind gut in dem Buch Bad Kleinen und die Erschiessung von Wolfgang Grams (Amsterdam/Berlin -Edition ID-Archiv -1994) nachzulesen. Im Frankfurter Einstellungsantrag wurde ausfuehrlich die im Buch abgedruckte Beschwerdebegruendung gegen die Einstellungsverfuegung der Staatsanwaltschaft Schwerin im Ermittlungsverfahren gegen zwei GSG 9-Beamte aufgegriffen. Hier nur 4 Punkte: 1. Weder wurden die genaue Anzahl der eingesetzten Polizeikraefte und deren Standorte auf dem Bahnhof erfasst noch wurden alle mitgefuehrten Waffen und Munitionsbestaende aufgelistet. Ein Soll-/Ist-Abgleich zu Waffen und Munitionsbestaenden ist nicht erfolgt. . 2. Die Kleidung der GSG 9-Beamten wurde erst eine Woche nach dem 27.6. unvollstaendig - und nachdem sie von den Verdaechtigen gewaschen worden waren, als Beweismittel sichergestellt. 3. Die Aussagen der GSG 9-Beamten bei ihren Vernehmungen durch die Staatsanwaltschaft Schwerin weisen derartige Widersprueche auf (z.. B. bei der wichtigen Frage, an welcher Stelle sich die einzelnen waehrend des Einsatzes auf dem Bahnhof von Bad Kleinen aufhielten) dass die Staatsanwaltschaft Schwerin selbst von einer Kette wechselnder Falschaussagen ausgeht, ohne freilich daran Nachermittlungen ansetzen zu lassen. 4. Zivile Zeugen vom Bahnhof Bad Kleinen wurden am 27.6. entweder nicht vernommen oder weggeschickt und eingeschuechtert oder ihre protokollierten Aussagen wurden so lange wie moeglich unter Verschluss gehalten. (Die Zeitung Die Woche zitierte am 16.7. einen der 3 Reichsbahner, die am 27.6. im Stellwerk Dienst hatten, wo auch ein BKA-Beamter mit gutem Blick auf Gleis 3/4 postiert war: Wenn Sie von oben runterschauen, wissen Sie, ob man das haette sehen koennen oder nicht ... Hat etwa der BKA-Beamte, der auf dem Turm war, zum Kopfschuss etwas ausgesagt ? Nein ? Na sehen Sie. - Bad Kleinen und die Erschiessung ..., S. 122 -)

Bad Kleinen war zum Thema der ersten 1 1/2-Prozesstage gemacht. Die ausfuehrlichen Nachweise des Einstellungsantrags machten ueberdeutlich, dass zu den Ablaeufen in Bad Kleinen auf vielen staatlichen Ebenen in einem grossen Ausmass geschoben, gemauert und gelogen worden war. An der Legitimation der Anklaeger und des Gerichts, die das decken und uebergehen wollen, war damit nachhaltig gekratzt.

Einstellungsantrag Der Einstellungsantrag spricht von Einflussnahme der Exekutive auf das Verfahren und von Vorverurteilung: Beides u.a. festgemacht an Kohls oeffentlichkeitswirksam inszenierten Besuch bei der GSG 9 im Juli 1993 und seinem Dank fuer die gute Arbeit gegen die schiesswuetigen Terroristen. Ferner wurde der Verstoss gegen den von einem UNO-Gremium entwickelten Grundsatz geruegt, bei Verdacht extralegaler Hinrichtungen unabhaengige Gremien mit der Untersuchung zu beauftragen, was Bundesanwaltschaft und Bundeskriminalamt als fuehrende Behoerden bei dem Bad-Kleinen-Einsatz nicht sind. Festhaltenswert sind noch Einzelheiten zur Erreichbarkeit des Spitzels Klaus Steinmetz, wie sie von der Verteidigung zusammengetragen wurden: Im Februar und Maerz 1994 erklaert das BKA im Rahmen des Ermittlungsverfahrens gegen Birgit Hogefeld in Briefen an die Bundesanwaltschaft, Steinmetz sei nicht erreichbar, eine ladungsfaehige Adresse weder bekannt noch beschaffbar. Im April 1994 wird Steinmetz aber auf Vermittlung des hessischen Landeskriminalamts erneut von der Bundesanwaltschaft vernommen. Am 12.11.1994 wird im Hessischen Rundfunk der Pressesprecher der Bundesanwaltschaft mit der Aussage zitiert: Sollte Steinmetz im Frankfurter Verfahren gebraucht werden, liessen sich Mittel und Wege finden, dies auch zu realisieren. Die Exekutive und die Ermittlungsbehoerden greifen manipulativ in das Verfahren ein, indem sie Klaus Steinmetz nach Belieben auftauchen und verschwinden lassen, heisst es dazu in der Wertung der Verteidigung . Haftbedingungen Am 2. Prozesstag wurden ueber einen Befangenheitsantrag Haftbedingungen, Postverzoegerung und Eingriffe in die Kommunikation bei Besuchen und durch Anhalte- und Beschlagnahmebeschluesse eroertert. Die Laufzeit der Post betrug in einer Vielzahl - in einigen Abschnitten in der Mehrzahl der Faelle - mehr als 4 Wochen, ein Brief wurde ueber 12 Wochen nicht weitergeleitet. Anhaltebeschluesse wurden damit begruendet, dass eine Diskussion ueber die Geschichte der RAF in den 80-er Jahren mit dem Ziel der Aufarbeitung, die wirklich radikal alle Fragen stelle, um fuer kuenftige Kaempfe zu lernen, Fortsetzung mitgliedschaftlicher Beteiligung durch Birgit Hogefeld sei. Allein das Thema Weiterstadt, angesprochen in einem Brief an Birgit Hogefeld, zog einen Beschlagnahmebeschluss (Beschlagnahme als Beweismittel) nach sich. Fuer Besuche wurden die Themen antiimperialistischer Kampf und laufendes Prozessverfahren unter der Drohung des Besuchsabbruchs durch richterliche Anordnung verboten. Beim Besuch der Eltern von Wolfgang Grams wurde die Angehoerigenregelung, Besuche ohne Trennscheibe zu gestatten, trotz entsprechenden Antrags verweigert. 14 Monate Einzelhaft ohne Kontakte, ohne Umschluss, bei leeren Nachbarzellen, Hofgang nur allein und nur zeitweise - ohne Ruecksicht auf erkennbare gesundheitliche Gefaehrdung - gingen auf Beschluesse des Ermittlungsrichters beim Bundesgerichtshof und dann auf Beschluesse des Frankfurter Senats zurueck. Birgit Hogefeld sah die Haftsituation im Spiegel der referierten Beschluesse zu den Haftbedingungen nicht ausreichend beschrieben und begriffen und aeusserte sich deswegen am 3. Prozesstag in einem vorbereiteten Beitrag selber ausfuehrlich. Sie geht dabei v. a. auf die Beschneidung ihrer Kommunikations-und Ausdrucksmoeglichkeiten ein. Die Situation, als sie im Fernsehen die Bilder von Wolfgangs Beerdigung sieht, beschreibt sie so: "Der Sarg, seine Eltern, meine Familie, alte Freunde - und ueber diese und ueber tausend andere aufwuehlende Situationen konnte ich nie mit einem anderen Menschen reden, all das musste ich immer mit mir allein ausmachen; d a s ist Isolation und genau das soll sie sein." Sie schildert auch die Auswirkungen sensorischer Deprivation durch die gezielte Einschraenkung und Manipulation akustischer und optischer Reize. Schliesslich sagt sie, dass sie die Folgen der Isolationshaft noch gar nicht einschaetzen kann. An der Beobachtung eines Prozessbesuchers, dass sie andere Menschen nicht lange anschauen, Blicke nicht halten koenne - was bei Leuten, die laengere Zeit in Isolation waren, immer so sei - stellt sie sich die Fragen: "Solche Wirkungen von Isolation bei sich selber zu beobachten, hat natuerlich auch was Bedrohliches - was kommt da noch alles, von dem ich heute noch nichts weiss? (...) Gibt es Zerstoerungen, die ich Zeit meines Lebens nicht mehr los werde?"

Anklageschrift Die Anklageschrift wurde am 3. Prozesstag verlesen. Diese hat Birgit im Oktober 1994 wie folgt kommentiert: Am 15.11.1994 beginnt vor dem OLG Frankfurt der Prozess gegen mich. Angeklagt werde ich wegen verschiedener Aktionen der RAF zwischen 1985 und 1993: * dem Sprengstoffanschlag auf die US-Air-Base in Frankfurt und in dem Zusammenhang die Erschiessung des US-Soldaten Pimental; * dem Anschlag auf den ehemaligen Finanzstaatssekretaer und heutigen Praesidenten der Bundesbank Tietmeyer waehrend der Tagung des IWF 1987; * der Sprengung des Knastneubaus in Weiterstadt; ausserdem wird mir Mord und sechsfacher Mordversuch an GSG 9-Maennern in Bad Kleinen vorgeworfen. Die Mordanklage wegen Bad Kleinen ist die Antwort auf das politische Desaster, in das der Staat sich mit dieser Aktion gebracht hat. Sie stehen unter dem Verdacht, dass ihre GSG9-Leute Wolfgang Grams, als er angeschossen und schwer verletzt am Boden lag, mit einem Kopfschuss hingerichtet haben- sowohl die polizeilichen Schlampereien, sprich die systematische Spurenvernichtung, aber auch Ruecktritte von Verantwortlichen bis hin zum Innenminister ergeben ausschliesslich vor dem Hintergrund einer Hinrichtung einen Sinn. Da dieser Verdacht schon nicht mehr aus der Welt zu schaffen ist, soll wenigstens ein RAF-Mitglied, in dem Fall ich, wegen der Erschiessung des GSG-9-Mannes Newrzella angeklagt und verurteilt werden. Zumindest da soll der Verdacht, dass er von seinen eigenen Leuten erschossen wurde, weg. Die Tatsache, dass ich schon ueberwaeltigt am Boden lag, bevor der erste Schuss fiel, spielt dabei keine Rolle - sie behaupten, Newrzella sei von Wolfgang Grams erschossen worden, und Wolfgang haette (weil wir beide in der RAF waren) mit meinem Einverstaendnis geschossen. Das ist die juristische Konstruktion,.mit der meine Verurteilung wegen Mordes an diesem GSG9-Mann laufen soll. Die Anwaelte der Eltern Grams hatten im Mai dieses Jahres anhand neuer, von ihnen in Auftrag gegebener Gutachten versucht, die Wiederaufnahme des eingestellten Ermittlungsverfahrens gegen GSG9-Leute durchzusetzen. Es ist nicht sehr wahrscheinlich, dass dieser Weg das Verfahren wiederaufzunehmen, Erfolg haben wird. Aber selbst wenn, wird es vermutlich schnell wieder eingestellt werden. Dadurch,dass ich wegen Bad Kleinen angeklagt werde, ist der Prozess gegen mich einzige oeffentliche Rahmen,wo der Staat gezwungen werden kann den gesamten Ablauf der GSG9-Aktion, also Wolfgangs Erschiessung, juristisch aufzurollen. Jeder der Anklagepunkte (ausser der Knastsprengung) reicht fuer ein lebenslaengliches Urteil aus, und die Kronzeugenprozesse aus den letzten ein bis zwei Jahren gegen andere Gefangene aus der RAF, die zum Teil schon zwoelf Jahre im Knast sind und lebenslaengliche Strafen absitzen, zeigt, worauf das Ganze zielt: die vermeintlichen Sieger ueber Kommunismus und jede Idee auf Veraenderung und Utopie einer menschlichen Welt berauschen sich in ihrem Machtwahn- das, was gegen uns laeuft, ist einerseits ihre Rache, aber zugleich auch Drohung gegen alle, die an neuen Aufbruechen ueberlegen.

Auch in bezug auf die anderen Anklagepunkte haben sie keine Beweise gegen mich in der Hand. Meine Beteiligung an der Air-Base-Aktion und an Tietmeyer soll darueber begruendet werden, dass ich zwei Autos gemietet bzw. gekauft haette. Bewiesen wird das ueber BKA-Schriftgutachten (bis zu ihren Kronzeugenaussagen gegen andere wurde uebrigens der Kauf eines dieser Autos Sigrid Sternebeck zugeordnet). Die Konstruktion geht so: Bei Schriftgutachten werden verschiedene Wahrscheinlichkeitsstufen unterschieden. Die Unterschriften, die sie mir zuordnen, werden nicht in die hoechste, also die mit der groessten Wahrscheinlichkeit eingeordnet (denn dagegen koennte man leicht ein Gegengutachten machen lassen), sondern sie ordnen sie in eine mittlere Stufe ein und sagen, da die RAF so wenige Mitglieder hat, gilt es deswegen auch bei einer nicht sehr hohen Wahrscheinlichkeit der Schriftidentitaet als sicher, dass es sich bei den Unterschriften auf den Vertraegen um meine Schrift handelt. Bei Tietmeyer haben sie ausserdem noch Zeugen fuer die Anmietung des Fahrzeuges aufzufahren. Kurz nach meiner Verhaftung fand eine Gegenueberstellung statt, die als verdeckte geplant war, die ich aber bemerkt hatte und deswegen mir den Arm vors Gesicht gehalten habe. Eine Zeugin sagt aus, dass sie als Mieterin des Autos vor sechs Jahren die Person wiedererkennt, die immer den Arm vors Gesicht haelt und die auch spaeter nicht dabei ist, als die Vergleichspersonen nebeneinander aufgestellt dastehen. Das Ganze waere als Witznummer anzusehen, wenn es dabei nicht um die wichtigsten Beweise fuer ein lebens-laengliches Urteil gegen mich ginge. Nach den vielen Prozessen aus der letzten Zeit gegen RAF-Gefangene kann es keinen Zweifel geben, wie das Urteil gegen mich aussehen soll-und dafuer, dass von Linken und fortschrittlichen Kreisen Druck erzeugt wird, der die Entscheidung fuer ein weiteres lebenslangliches Urteil kippt, fehlen auf unserer Seite zur Zeit die Voraussetzungen. Bei den Anklagepunkten, die Aktionen der RAF betreffen, wird an diesem Prozess nicht viel mehr als das zu zeigen sein, was auch schon bei unzaehligen aehnlichen Verfahren deutlich wurde- um mit Ulrike Meinhof zu sprechen: Wir koennen sie nicht zwingen, die Wahrheit zu sagen, wir koennen sie nur zwingen, immer unverschaemter zu luegen.

Erste ZeugInnen Am 3. Prozesstag wurden die ersten ZeugInnen vernommen. Gegenstand war eine Tuebinger Wohnung, die 1985 von RAF-Leuten genutzt worden sein soll. Vernommen wurde die Hauptmieterin, die fuer die Zeit eines einjaehrigen Italienaufenthalts Untermieter gesucht hatte. Ebenso sagte ein Architekt aus, der in der Wohnung ein Arbeitszimmer nutzte. Zeuge und Zeugin meinten, das wegen RAF-Mitgliedschaft gesuchte Ehepaar Meyer als Nutzer der Wohnung identifizieren zu koennen. Zu Birgit Hogefeld ergab sich keine Spur. Am 24.11., dem 4. Prozesstag, sagte ein Beamter der Wiesbadener politischen Polizei namens Werner (Staatsschutzkomissariat der Wiesbadener Kripo K 14) aus. Er war im Juni und Juli 1984 an der Vorbereitung und Durchfuehrung der Durchuchung der frueheren Wohnung von Birgit Hogefeld und Wolfgang Grams in Wiesbaden beteiligt. Angeblich hatte sich der Vermieter bei der Polizei gemeldet, weil aus der Wohnung Gestank komme, was der Zeuge bei der Ueberpruefung nicht bestaetigt fand. Wieso das K 14 bei derartigen Anfragen auf den Plan trete, konnte Werner nur verschwommen erklaeren: Birgit und Hogefeld seien aus langjaehriger Szene-Beobachtung gut bekannt gewesen. Die Frage, ob seine Dienststelle die Wohnung observiert habe, verneinte er, zu entsprechenden Aktivitaeten anderer Dienststellen wisse er nichts.Wieso er aus der Verhaftung von Manuela Happe im Juni 1984 geschlossen habe, dass Birgit und Wolfgang sich der RAF angeschlossen haetten, wie es in einem etwas verquer formulierten Vermerk hiess, konnte er nicht plausibel machen. Nach einiger Herumstocherei sprach er von Hintergrundinformationen, ueber die er ohne Abklaerung zum Umfang seiner Aussagegenehm igung nichts sagen wolle. Dieser Rueckzug wurde ihm eingeraeumt: Der Zeuge konnte selber definieren, dass ein Bedarf an Einschraenkung seiner Ausssagegenehmigung bestehe. Die Entscheidung ueber den Antrag der Verteidigung, den Zeugen unter Androhung von Zwangsmitteln zur Aussage anzuhalten, wurde vertagt. Zum Vernehmungsgegenstand aeusserte er noch: Miete sei bis Mai 1984 gezahlt worden, bei der Durchsuchung der Wohnung durch das BKA im Juli 1984, bei der Werner beteiligt war, habe er den Eindruck gewonnen, dass die Wohnung schon laenger nicht genutzt war, die letzte Zeitung sei von Februar 1984 gewesen. Die Zeugenladung hatte moeglicherweise die Funktion, den Zeitpunkt des Verlassens der Wohnung als Beginn der Mitgliedschaft in der RAF festzumachen.

Erstes Zimmern am Urteil: Einfuehrung "gerichtsbekannter Tatsachen" Am 4. Prozesstag begann das Gericht, Auszuege aus Urteilen gegen RAF-Leute zu verlesen. Alle bereits in einem Urteil festgehaltenen Behauptungen, Konstruktionen, Unwahrheiten und Feststellungen gelten als ueberprueft und erhaertet. Durch die Verlesung werden sie als gerichtsbekannte Tatsachen in den aktuellen Prozess eingefuehrt; zu ihnen findet keine Beweisaufnahme mehr statt. Der Raub von Waffen aus einem Waffengeschaeft im November 1984 in Maxdorf wird der RAF zugeschrieben. Die Verlesung zu Maxdorf hat wahrscheinlich die Funktion, Waffen aus diesem Raub als RAF-Waffen deklarieren zu koennen und aus deren Besitz Mitgliedschaft zu konstruieren. Ferner kam ein Passus zur Verlesung, in dem als Mitgliederformen in der RAF unterschieden werden: Illegale, Gefangene, Legale. Nach dieser Konstruktion sind alle zur illegalen Ebene Gehoerenden an der grundsaetzlichen Entscheidung ueber Ziel und Methoden von Anschlaegen beteiligt. Einzelheiten seien dabei nur dem konkreten Kommando bekannt. Schliesslich wurden die der RAF zugeordneten Anschlaege (bis auf Weiterstadt, das bisher noch nicht Prozessgegenstand war) aufgefuehrt. Diese Aufzaehlung duerfte fuer die im Urteil gegen Birgit beabsichtigte Kennzeichnung der RAF als terroristische Vereinigung von Belang sein. Die Verlesung von Auszuegen aus den Besucherbuechern der Gefaengnisse in Celle und Schwalmstadt - die nicht sollte dokumentieren, dass Birgit Hogefeld 1977 erste Besuchskontakte zu Gefangenen aus der RAF aufgenommen hatte.

Prozessbedingungen / BesucherInnen Der Prozess findet in einem Sicherheitsgerichtssaal in einem Neubau des Frankfurter Gerichtskomplexes statt, der ebenerdige Aussenzugaenge hat. Am ersten Prozesstag hatten sich 150 Personen eingefunden. Vor dem Gerichtsgebaeude wurde ein Transparent Solidaritaet mit Birgit Hogefeld entrollt, ohne dass eine Kundgebung stattfand oder Redebeitraege gehalten wurden . Im Gerichtssaal, das 70 ZuhoererInnen-Plaetze hat, wurde Birgit mit Klatschen begruesst; auch nach ihrer Prozesserklaerung klatschten BesucherInnen. An den folgenden Tagen waren die ZuhoererInnenplaetze vormittags stets zu fast 100% besetzt. Die Kontrollen an den ersten vier Tagen waren massiv: Die mit Aids-Handschuhen bestueckten KontrollbeamtInnen tasteten - nach dem Einsatz des Metalldetektors - BesucherInnen bis unter die Unterwaesche und bis in den Hosenbund hinein ab. Fast alle mitgefuehrten Gegenstaende: vom Schluesselbund bis zum Bleistiftspitzer wurden abgenommen und im Kontrollraum verschlossen. Gelegentlich musste um die Mitnahme eines Blattes Papier und eines Bleistifts gerungen werden. Am 4. Verhandlungstag forderten die AnwaeltInnen, die Kontrollen auf ein Mass zu reduzieren und in einer Form durchzufuehren, die wenigstens annaeherungsweise dem justiziellen Grundsatz der Verhaeltnismaessigkeit entsprechen und sie nicht zur Abschreckung der Oeffentlichkeit zu benutzen. Diese Forderung wurde belegt durch Erfahrungsprotokolle zweier Frauen zu den Kontrollen, in denen die Abtasterei als entwuerdigend, sexistisch und uebergriffisch charakterisiert wurden. Prozesserklaerung von Birgit Hogefeld am 1. Prozesstag Waehrend ich hier vor Gericht sitze, laufen die Moerder von Wolfgang Grams frei und staatlich gedeckt draussen rum. Die GSG 9 hat Wolfgang mit einem gezielten Kopfschuss hingerichtet, weil das in dieser Situation ihrem Gruppenkodex entsprochen hat, aber in Bad Kleinen ist mehr geschehen, als dass ein RAF-Mitglied in Lynchjustiz liquidiert worden ist. Durch die Tatsache, dass diese Aktion nachtraeglich in den politischen Staatshaushalt ueberfuehrt wurde, ist sie die politische Antwort auf unseren Versuch 92 hier eine andere Entwicklung einzuleiten. Dieser Versuch ist niedergeschossen worden und das, was die Anklage hier in diesem Prozess macht, ist Nahschusspolitik mit anderen Mitteln. Wir alle haben in der zweiten Haelfte der 80iger Jahre gespuert, dass sich etwas gravierendes vollzieht, kaum fassbar aber klar, dass da etwas geschieht, das von unserer Analyse nicht erfasst ist. Zuerst der Zusammenbruch des Realsozialismus. Ereignisse von weltweiter Erschuetterung, die so niemand vorhersehen konnte; aber alle wussten, dass unsere Erkenntnis die Prozesse dieser Welt nicht mehr fasst. Und wir hatten zunehmend eine Ahnung davon, dass auch das kapitalistische System von diesen Erschuetterungen nicht verschont bleibt; so hat sie der Zusammenbruch der Sowjetunion und der osteuropaeischen Staaten - seit 1917 als Kriegs- und Endsiegparole ausgegeben - vor unloesbare Probleme gestellt, die den gesamten Zersetzungsprozess beschleunigt haben. Das einzige, was in dieser Umbruchsituation schnell erkennbar und einzuschaetzen war, war die Tendenz ihrer Wirkung auf die Lebensgrundlagen und -bedingungen der Menschen in allen Kontinenten, naemlich dass die sowieso zugespitzte Situation, die zu diesen U mbruechen gefuehrt hatte, sich fast ueberall noch weiter verschaerft. Buergerkriege in der Welt um Raum, Nahrung, Wasser und andere Ressourcen; Millionen Menschen, die vor Krieg, Hunger und Armut auf der Flucht sind; Zerfallserscheinungen im Innern, massenhafte Arbeitslosigkeit, materielle Armut, Obdachlosigkeit, soziale Entwurzelung von immer mehr Menschen, Ausweitung von Gewalt und Rechtsradikalismus - all das zeigt, dass der Kapitalismus nicht mehr funktioniert.

Die alte Gesellschaftsstruktur zerfaellt und was immer jetzt kommt, es ist eine andere Republik. In welche Richtung das gehen kann, davon ist in Bad Kleinen etwas aufgescheint. Fuer Sekunden war der Vorhang einer moeglichen Zukunft aufgerissen. Es ist eine Gefahr und Bedrohung aufgeblitzt, der dann alle ausgesetzt sind, nicht nur militante Linke und Systemgegner. In Bad Kleinen hat der nach innen entgrenzt aggressive Staat agiert, der bis zur Vernichtungspolitik alles im Repertoire hat, was an Unterdrueckungsmethoden moeglich ist - die Wiederkehr der Vergangenheit, nicht in ideologischen Inhalten, aber in Absichten und Formen.

Das zumindest zu ahnen - denn Bad Kleinen war 1993 und nicht etwa 1977 im Deutschen Herbst - war wohl auch einer der Gruende, warum sehr viele GenossInnen aus dem linksradikalen Spektrum, aber auch viele aus den sogenannten fortschrittlichen Kreisen wie gelaehmt waren. Der Aufschrei blieb aus und selbst die Einrichtung einer unabhaengigen Untersuchungskommission kam nicht zustande, weil es kaum inlaendische InteressentInnen gab. Vielen Linken ist an Bad Kleinen ihre eigene Defensive und dass sie auf die gesamte Entwicklung keine Antwort haben, deutlich geworden. Und wie oft, wenn einem die eigene, ohnmaechtig erscheinende Lage vor Augen gefuehrt wird, haben sich viele reflexartig auf reale und vermeintliche Fehler und Schwaechen anderer - in dem Fall von uns - gestuerzt, anstatt sich zumindest gleichzeitig Gedanken darueber zu machen, wie dieser duesteren Zukunftsperspektive und realen Gefahr von unserer Seite aus begegnet werden kann; an welchen Fragen und Inhalten unsere Diskussion umorganisier t werden muss, damit wir Antworten darauf finden, mit welchen Bestimmungen und welchen Formen wir unsere Kaempfe fuehren muessen. Am extremsten war dieser Reflex des um-sich-Schlagens in unserem Zusammenhang RAF/Gefangene, wo alles zu dieser Spaltung hinlief- mir fiel und faellt dazu oft ein Satz von Frantz Fanon ein: Da wo der Feind uebermaechtig erscheint, zerfleischen sich die Unterdrueckten gegenseitig. Nur diese Verhaltensmuster sind bekannt und die kann sich jeder Mensch bewusst machen, um sich nicht an einer sinnlosen und sinnentleerten gegenseitigen Zerfleischung abzuarbeiten und aufzureiben, sondern sich auf das Wesentliche zu konzentrieren (und auch um den eigenen Lebensinhalt und -bestimmung nicht zu verlieren), naemlich auf die Frage, wie wir hier, trotz aller Schwierigkeiten und gegenlaeufigen Tendenzen eine an den Menschen orientierte gesellschaftliche Entwicklung erkaempfen koennen. Fuer mich waren die Reaktionen, die es nach Bad Kleinen in unseren eigenen Reihen gegeben hat, der letzte Beweis dafuer, dass das Alte vollstaendig aufgebraucht war und wir um neue Inhalte und Bestimmungen kaempfen muessen.

Die Ereignisse von Bad Kleinen sind in ihrem vollen Umfang und in ihrer Bedeutung nur zu verstehen, wenn sie im Zusammenhang der politischen Entwicklungen der Jahre vorher und der Entscheidung der RAF 92 zur Zaesur und Deeskalation betrachtet werden. Ab etwa 89/90 hatten wir uns schwerpunktmaessig mit zwei Fragenkomplexen befasst. Zum einen ging es darum, die globalen Umbrueche und innergesellschaftlichen Zerfallsprozesse hier zu verstehen; ausserdem hatten wir in dieser Zeit angefangen, unsere eigene Geschichte und die Kernelemente unserer politischen Bestimmung bis dahin - unabhaengig von der allgemein veraenderten Situation - zu hinterfragen und auf Schwaechen und Fehler hin abzuklopfen. Es war eine Zeit, in der wir uns vieles, worin die RAF in ihrer Anfangsphase einmal stark gewesen war und was dann ueber lange Jahre im Aufreiben mit der Staatsmacht immer mehr verschuettet worden und verloren gegangen ist, angeeignet haben. Das betrifft die selbstkritische und moeglichst undogmatische Reflexio n unserer eigenen politischen Praxis; Offenheit gegenueber anderen; den Kampf um relative Identitaet zwischen Denken und Handeln, um neue Inhalte und Formen der Beziehungen der Menschen untereinander, oder um die Aufhebung von Strukturen, die Eigeninitiative und emanzipatorische Prozesse eher gelaehmt statt vorangebracht haben.

In dieser Auseinandersetzungen wurde uns klar, dass die Grenze, auf die wir mit unserem Kampf gestossen waren, nicht allein aus den weltweit veraenderten Bedingungen fuer Befreiungskaempfe erklaert werden kann, sondern dass diese Grenze auch mit Fehlern von uns zusammenhaengt. Grundlegende politische Bestimmungen, wie die, dass sich unser Kampf ueber lange Jahre fast ausschliesslich gegen die Strategien des Imperialismus und deren zentrale Bewegungen gerichtet hatte, haben sich als falsch erwiesen. Eine solch reduzierte Bestimmung kann, wenn ueberhaupt, allenfalls fuer ein kurze Uebergangsphase richtig sein. Kaempfe, die langfristig an der Negation ausgerichtet sind, koennen auf Dauer keine Mobilisierungskraft entwickeln - ihnen fehlt das Moment des Aufbaus.

Mobilisierungskraft und die Chance des Aufbaues einer relevanten Gegenmacht liegt nur im gleichzeitigen Aufbau einer politischen Kraft, die an der Realitaet im jeweiligen Land eine gesellschaftliche Alternative zur kapitalistischen Ausrichtung formuliert und erkaempft. Und natuerlich gibt es auch hier unzaehlige Menschen, die spueren oder zumindest eine Ahnung davon haben, dass sie in dem ihnen aufgezwungenen Gesellschaftsmodell nicht so leben koennen, dass sie in ihrem Leben Befriedigung und tieferen Sinn finden. Dass die Linke bisher die Verbindung zu diesen Menschen, wenn ueberhaupt nur voruebergehend herstellen konnte, liegt daran, dass unsere Kaempfe nur selten ueber den Tellerrand des eigenen linken Ghettos rausgegangen sind, also keine gesellschaftliche Relevanz erreicht haben. Wir brauchen hier den Aufbau einer Gegenkraft, einer emanzipatorischen Bewegung, die gegen den Irrsinn des Kapitalismus, die Barbarei des globalen Marktes und die Verwertung von Mensch und Natur einen eigenen sozialen Sinn entwickelt und diesen an konkreten praktischen Fragen des Alltagslebens durchsetzt. Erst im Aufbau einer solchen Kraft, im Kampf ums eigene Leben, wird internationale Solidaritaet hier neu entstehen. Aus den Anfaengen dieser Diskussion haben wir 1990 - zoegerlich und schrittweise - angefangen, unsere Initiativen auch als Kraft fuer die unmittelbare Durchsetzung gesellschaftlich richtiger und sinnvoller Entwicklungen zu bestimmen. Aber unser Kampf blieb isoliert. Eine gemeinsame Diskussion mit linken und fortschrittlichen Teilen der Gesellschaft darueber, die veraenderten Ausgangsbedingungen fiir emanzipatorische Entwicklungen zu begreifen und eigene Vorstellungen zu entwickeln, kam nicht zustande. Aus diesen Erfahrungen und der Erkenntnis, dass wir auf viele Fragen keine Antwort haben und allein weder finden koennen noch wollen, weil der Entwurf einer politischen Gesamtvorstellung nicht allein Sache einer Gruppe, eines kleinen politischen Zusammenhanges wie der RAF sein kann, haben wir Anfang 92 die Entscheidung zur Zaesur getroffen. Fuer uns war es die Entscheidung, aktiv mit dem alten abzuschliessen und dabei Subjekt zu bleiben.

Deshalb fanden wir die Vorwuerfe, wir wollten heim ins Reich, wie sie von Teilen der Linken gegen uns formuliert wurde, nur absurd. Darum ging es fuer niemanden von uns, sondern es ging darum, Sinn und Ziel unseres Aufbruchs, des Aufbruchs jedes und jeder Einzelnen und genauso des Aufbruchs RAF ueberhaupt festzuhalten. Im Zentrum unserer Entscheidung fuer diese Zaesur stand, dass wir aus unseren eigenen Erfahrungen und denen anderer revolutionaerer und fortschrittlicher Gruppen einen neuen Aufbruch fuer eine menschliche Entwicklungsrichtung organisieren wollten. Deshalb hatten wir unsere Erklaerung vom April 92 mit dem Satz eingeleitet:

An alle, die auf der Suche nach Wegen sind, wie menschenwuerdiges Leben hier und weltweit an ganz konkreten Fragen organisiert und durchgesetzt werden kann.

Es ging fuer uns um den Uebergang von einer Widerstandsform zu einer neuen. Dabei war uns wichtig, uns bewusst mit unserer eigenen Geschichte auseinanderzusetzen, um aus unseren Staerken und Schwaechen der Vergangenheit Erkenntnisse fuer die Bestimmung zukuenftiger Kaempfe zu ziehen. Es ging also nicht einfach darum, etwas altes abzuschliessen, um etwas neues anzufangen, sondern darum, dass aus unserer damals 22jaehrigen Anstrengung etwas bleibt, dass es Erfahrungen gibt, die wir bewusst mitnehmen wollen. Gegen den Staat beinhaltete die Entscheidung zur Zaesur die Anstrengung um eine politische Loesung zu kaempfen, aus der fuer alle von uns ein Neuanfang moeglich ist. Nachtraeglich denke ich, es waere in der Geschichte der RAF oefter notwendig gewesen, einen Schnitt zu machen. Jeder Kampf braucht die Atempause, braucht das Moment der Besinnung, der Ortsbestimmung, auch im Zurueckgehen, um aus dieser Perspektive seinen eigenen Prozess neu zu verstehen. Dass wir das vorher nie gemacht haben, haengt zum einen mit einem reduzierten Verstaendnis ueber politische bzw. revolutionaere Bewegungsablaeufe zusammen, aber das ist nicht alles. Die andere Seite ist, dass jede und jeder die Entscheidung, bewaffnet zu kaempfen, subjektiv wie objektiv in einer historischen Situation getroffen hat, in der wir einem Feind gegenueberstanden, der ein bis dahin unbekanntes Zerstoerungspotential hatte und einzusetzen bereit war und den es aufzuhalten galt. Daran hat sich bis heute nichts Grundlegendes geaendert, denn die Feindschaft dieses Systems gegenueber den Menschen und der Natur ist strukturell und solange seine Herrschaft fortdauert, wird es weltweit nie etwas anderes als Tod, Zerstoerung und Elend produzieren. Menschen, die fuer revolutionaere Umwaelzungen kaempfen, brauchen ausser Utopien von einer zukuenftigen menschlichen Welt und der Bereitschaft, im Kampf fuer deren Errichtung alles zu geben, gleichzeitig auch einen kuehlen Kopf. Sie duerfen sich und ihren Kampf nicht von immer neuen Verbrechen dieses Systems treiben lassen, sondern muessen bewusst immer wieder Phasen der Besinnung und Neubestimmung einlegen - das ist vielleicht das allerschwerste. Die Krise des Kapitalismus, Massenarbeitslosigkeit, die keine voruebergehende Erscheinung ist, fuehrt in einem Land, dessen Kultur den Lebenssinn von Menschen weitgehend aufArbeit, Leistung, Konsum und die Anhaeufung von Geld reduziert, zu Aufloesungserscheinungen in der Gesellschaft. Fuer viele Menschen werden dadurch auch die letzten sozialen Kontakte abgeschnitten und ihre Vereinzelung noch weiter gesteigert. Das Lebensgefuehl vieler Jugendlicher ist Langeweile und immer mehr Menschen fuehlen sich ihrer Lebensperspektive und ihres Lebensinhaltes beraubt oder sehen diese bedroht. Und auch die Freiheit zwischen Camel und Marlboro, ZDF und RTL, Kohl und Scharping waehlen zu koennen, ersetzt nicht fehlenden Lebenssinn - zumindest nicht auf Dauer. Die unmittelbaren Auswirkungen dieser Aufloesungsprozesse sind bekannt, sie reichen von der Eskalation von Gewalt ueber massenhaften Konsum verschiedenster Drogen bis hin zu Freizeitbeschaeftigungen wie S-Bahn-Surfing oder Extremsport, weil Menschen, die d ie sinnliche Erfahrung, dass sie leben, in ihrem Alltag oft nicht mehr machen koennen, diese im Kitzel der Todesgefahr bei solchen Beschaeftigung erleben wollen.

In dieser gesamten Entwicklung liegen Gefahren, aber auch Moeglichkeiten. Die gesellschaftlichen Zersetzungsprozesse und die Entwurzelung vieler Menschen fuehrt bei vielen, die aus dem kapitalistischen Gesellschaftsmodell rausgeschmissen oder zumindest an den Rand gedraengt werden, zur Identitaets- und Lebenskrise. Die alten Muster sind weggebrochen und neue sind noch nicht da. Es ist eine Art Leerstelle entstanden, die neu gefuellt werden muss und auch wird. Zur Zeit sieht alles danach aus, dass Linke und fortschrittliche Kreise in diesem Land vor dieser Anstrengung kapitulieren und das Feld den Rechten von CDU bis Neonazis ueberlassen, die angefangen haben, es mit nationalistischer und rassistischer Ideologie zu fuellen. Inhalte, die vor einigen Jahren noch am rechten politischen Rand angesiedelt waren, sind heute in die gesellschaftliche Mitte gerueckt - Menschen sollen ihre Identitaet zunehmend daraus ableiten deutsch zu sein und weisse Haut zu haben. Und folgerichtig verurteilten Kohl und Kin kel die Verbrennungen tuerkischer Frauen und Kinder nicht mit ethisch-moralischen Begruendungen, sondern damit, dass solche Angriffe den Profitinteressen deutscher Grosskonzerne im Weg stehen. Es sind dieselben Interessen, in deren Namen die Bundeswehr nicht mehr verdeckt, sondern offen und offensiv zum Voelkermord und zur Auspluenderung anderer Laender eingesetzt werden kann. Was diese Entwicklung und das veraenderte Klima in Deutschland fuer Menschen anderer Nationalitaet und Hautfarbe, die hier leben, bedeutet, schildert Mehmet Ramme, einer der tuerkischen AntifaschistInnen, die zur Zeit in Berlin vor Gericht stehen, sehr eindruecklich in seiner Prozesserklaerung.

Wir sahen unser Leben in Gefahr, unsere Wuerde bedroht. Wir sahen, dass der deutsche Staat uns nicht schuetzt. Immer mehr von uns beschlossen, den eigenen Schutz selbst in die Hand zu nehmen. (...) Wir haben ein Recht, uns zu wehren, ohne Beleidigung und ohne Angriffe auf unsere Gesundheit und unser Leben hier zu leben.

Seine Erklaerung endet mit den Saetzen: Nicht nur Skins und den organisierten Neonazis sollte der Prozess gemacht werden. Auch die im deutschen Staat und in der Politik, die durch ihr Reden und Handeln in Deutschland dazu beigetragen haben, dass unser Leben bedroht und unsere Wuerde mit Fuessen getreten wurde, muessten vor Gerichte gestellt werden. Trotz dieser Tendenzen und bedrohlichen Zukunftsperspektive ist ueber die zukuenfttige Entwicklung in diesem Land nicht entschieden. Diese Frage wird davon entschieden werden, ob das linke und fortschrittliche Spektrum in der Gesellschaft aus seinertot-Stell-Haltung ausbricht und anfaengt, das eigene Ohnmachtsbewusstsein zu ueberwinden, um eine menschliche Zukunft zu erkaempfen. Der Kapitalismus hat heute auf fast alle brennenden Fragen, die sich im nationalen und internationalen Rahmen stellen, keine Antworten. Diese fehlende Loesungskompetenz in Bezug auf die heute aktuellen Menschheitsprobleme ist ihnen durchaus bewusst - ob Hunger oder der drohende oekologische Kollaps, sie haben keine Antworten, weil jeder vernuenftige und menschlich sinnvolle Loesungsansatz den Profitinteressen der Konzerne zuwider laeuft und das Ueberleben des imperialistischen Systems in Frage stellt. Was laeuft, ist knallhartes Krisenmanagment, das je nach Weltregion in der Schaerfe seiner Wirkung fuer die dort lebenden Menschen verschieden ist, aber ueberall die Lebensgrundlagen verschlechtert oder ganz zerstoert. Die Bandbreite der Massnahmen ist gross. Hier sind es Massenarbeitslosigkeit, Wohnungsnot, Sozialabbau usw..In den armen Laendern im Trikont eskaliert es beispielsweise in der sogenannten Bevoelkerungsplanung, die in ihren Auswirkungen systematischem Voelkermord gleichkommt, damit die Menschen, die morgen als Fluechtlinge oder durch Befreiungskaempfe den Reichtum in den Metropolen bedrohen koennten, erst gar nicht geboren werden. Dagegen brauchen wir den Aufbau einer gesellschaftlichen Kraft, die gegen diesen Wahnsinn aus Barbarei und Zerstoerung eigene Vorstellungen und soziale Inhalte formuliert. Es geht dabei einerseits um die Erstellung einer politischen Gesamtvorstellung und zugleich um Basisarbeit, in der konkrete Schritte fiir die Loesung konkreter Probleme bestimmt und durchgesetzt werden. Das heisst natuerlich auch, sich die Loesungskompetenz fuer Probleme der verschiedensten Bereiche anzueignen - das betrifft die Frage nach der Bestimmung und Gestaltung menschlich sinnvoller und Sozial nuetzlicher Arbeit genauso wie beispielsweise oekologische Probleme oder die Gestaltung von Stadtvierteln. Eine Kraft, die hier gegen die Kapitalinteressen eine solche Entwicklungsrichtung durchsetzen kann, kann nur von einer emanzipatorischen Bewegung entwickelt und aufgebaut werden; ich glaube, das ist eine der wichtigsten Lehren aus den Fehlern der Vergangenheit, nicht nur denen der RAF, sondern den Fehlern fast aller linken Gruppen. Emanzipatorische Entwicklungen haben in vielen politischen Zusammenhaengen ueber lange Zeit real nur eine untergeordnete Rolle gespielt und darin liegt wohl eine der Ursachen fuer den derzeitigen desolaten und defensiven Zustand der Linken. Denn nur Menschen, die gelernt haben, frei und selbstbewusst zu denken und zu handeln, halten auch in Zeiten wie diesen an ihren Zielen fest. Heute muessen alle von einem langfristigen Aneignungsprozess ausgehen, in dem soziale Gegenmacht aufgebaut wird. Fuer eine emanzipatorische Bewegung wird es darum gehen, gegenkulturelles Bewusstsein zu entwickeln und gesellschaftlich durchzusetzen und sie muss in der Lage sein, undogmatisch und schoepferisch ihren Weg zu suchen. Es wird darum gehen, gegen die Kultur des Todes dieses Systems eine Kultur des Lebens zu entwickeln, die jederzeit in den konkreten Zielsetzungen unserer Kaempfe sichtbar wird.

Anfang 92 stand fuer uns fest, dass Eskalation solche Aufbauprozesse nicht voranbringt. Im Gegenteil, die Konfrontation zuzuspitzen, haette falsche Orientierungen gesetzt, denn automatisch waeren unsere Initiativen wieder an der Negation ausgerichtet gewesen, weil es eine soziale Gegenbewegung, in die sie haetten eingebettet sein koennen, damals nicht gab und auch heute hier nicht gibt. Allein die moralische Begruendung, dass es angesichts der Verbrechen dieses Systems gerechtfertigt ist, die Taeter zur Rechenschaft zu ziehen, ersetzt nicht revolutionaere Bestimmung. Denn die wichtigste Frage, naemlich die, wie wir in einer veraenderten Welt eine menschliche Entwicklungsrichtung durchsetzen koennen, wird dadurch nicht beantwortet. Aber genau darum geht es und deshalb haben wir 92 die Entscheidung zur Zaesur getroffen. Ein Genosse von den Tupamaros beschreibt die strategische Ausrichtung, die unsere Kaempfe fuer die Umwaelzung der Verhaeltnisse heute haben muessen: Macht wird nicht erobert, sie wird aufgebaut. Die Linken und fortschrittlichen Teile dieser Gesellschaft haben heute eine besondere historische Verantwortung - es ist unsere Aufgabe und Verantwortung nicht nur gegenueber uns, sondern auch gegenueber den Voelkern der Welt, zu verhindern, dass zum dritten Mal in diesem Jahrhundert Krieg und Zerstoerung von unserem Land ausgeht. Es sah nicht nur danach aus, es gab 92 in Fraktionen der Macht die Einsicht, dass nach Jahren ohne Fahndungserfolg und der Tatsache, dass sich die RAF, eben weil sie aus innergesellschaftlichen Konflikten kommt ueber mehr als 20 Jahre immer wieder erneuern konnte, es eine militaerische Loesung dieses Problems fuer den Staat nicht gibt. Sie waren zu der Erkenntnis gekommen, dass es zu einer Entschaerfung im Verhaeltnis RAF - Staat nur kommen kann, wenn sie bereit sind, politisch auf uns einzugehen. Was Kinkel gemacht hat, war nicht einfach nur ein Trick. Natuerlich war es nie etwas anderes als der Versuch, einen Gewinn fiir den Staat zu erzielen, aber wessen Seite politisch am meisten fuer sich rausgeholt haette das haette nur ein entschlossener Kampfprozess darum herausfinden koennen. Abgebrochen wurde diese Bereitschaft, auf uns politisch einzugehen, nachdem sich mit Steinmetz die Chance fuer einen militaerischen Schlag gegen uns aufgetan hatte. Hier setzten sich die wieder durch, fuer die alles andere als ein militaerischer Sieg und die Vernichtung von Fundamentalopposition unertraeglich ist. Wieder einmal hat der verengte Polizeiblick die Politik bestimmt. Der Mord an Wolfgang war politisch nicht geplant, haetten sie das gewollt, waere ihnen das in der Bahnhofsunterfuehrung ein leichtes und ohne Zeugen moeglich gewesen. Aber dieser Mord ist spaeter durch Kanther und Kohl von der Politik uebernommen worden. Sie wissen, was gelaufen ist. Seiters ist zurueckgetreten, weil er von einer Hinrichtung ausging und wusste, dass das zu politischen Erschuetterungen auch international fuehren kann. Das brauchte eine klare Konsequenz, nachdem sich durch oeffentliche Falschangaben der BAW und systematische Spurenvernichtung gezeigt hat, dass der Apparat diese Tat reflexartig vertuscht und gar ni cht daran denkt, die Wahrheit zuzulassen. Kanther ist gekommen und hat den Mord in den politischen Staatshaushalt uebernommen. Aus der Staatskrise und der Krise der Apparate hat er einen Machtzuwachs fuer das Innenministerium organisiert. Er hat die Stunde genutzt, um die Verpolizeilichung der Innenpolitik voranzutreiben. Seine Disziplinierung des Apparats - vor dem sich Seiters machtlos fand - hatte nicht den Zweck, in Zukunft Mordaktionen zu verhindern, sondern sie hatte den Zweck sicherzustellen, das zukuenftig solche Aktionen der politischen Fuehrung und Bestimmung des Innenministeriums unterliegen. Nicht der Mord war das Problem, das Problem war, dass untere Chargen eigenstaendig und unkontrolliert darueber entscheiden und damit Folgen bis hin zur Staatskrise lostreten. Kanther hat sich hinter diese Aktion gestellt, weil er ueber die Option verfuegen will. Deswegen konnte auch niemand von der eingesetzten GSG 9 Gruppe belangt werden, wurde nur die Struktur in den Fuehrungsetagen umgruppiert und besuchte Kohl schliesslich seine Moerdertruppe in der gleichen Absicht, in der frueher der Henker zu Staatsveranstaltungen eingeladen wurde: um sich hinter sie zu stellen und zu sagen, dass die Politik sie decken wird. Was vorher eine Einzelaktion war, gehoert nun zur organisierten verfuegbaren Potenz des Innenministeriums. Die alte deutsche Tradition von auf der Flucht erschossen wird ergaenzt um die Variante Selbstmord bei Verhaftung. Solche Aktionen kennt die Welt der Gegenwart unter anderem von der britischen SAS oder den tuerkischen Militaers. Der Staat schafft sich fuer die Zukunft seine extralegalen Apparate und damit ist nichts weniger gelegt als die Kernstruktur fuer abrufbare Todesschwadrone. Wieweit diese Rolle heute schon im Apparat, also im Bewusstsein von Mitgliedern zum Beispiel solcher Spezialeinheiten wie der GSG 9 verankert ist, zeigt die Tatsache, dass sie sich in Bad Kleinen durch die Oeffentlichkeit, also die Zeuginnen und Zeugen, die die Hinrichtung von Wolfgang beobachten konnten, nicht stoeren liessen. Der Corpsgeist solcher Spezialeinheiten verlangt von ihren Mitgliedern, dass sie im Fall des Todes einer ihrer Leute denjenigen toeten, der aus ihrer Sicht dafuer verantwortlich ist: in Bad Kleinen war es vermutlich der Rudelfuehrer, der Wolfgang erschossen hat - dafuer sprechen zurnindest viele Indizien. Dieser Corpsgeist ist auch der Politik bekannt. Die Killer haben darauf vertraut, dass sie gedeckt werden und sie wurden gedeckt. Und auch der Polizist, der ein Jahr spaeter Halim Dener, einen kurdischen Jugendlichen, der in Hannover Plakate geklebt hatte, durch einen Schuss in den Ruecken ermordet hat, kann sich der Rueckendeckung durch die Politik sicher sein.

Diese Struktur, die inzwischen laengst hinter den heute noch nuetzlichen rechtsstaatlichen Fassaden lauert, sollte Jede/r registrieren, auch die, die zu diesem Staat stehen und deren Gesellschaftsutopie ein reformierter Kapitalismus ist. Hinter der Fassade organisiert sich schon laengst wieder die neue staatliche Barbarei.

Wir haben eine Entwicklung in eine andere Richtung gewollt. Deshalb kam 92 unser politischer Versuch, der dann gegen diese militaerische Linie aufgelaufen ist. Fuer uns hat sich viel veraendert. Der Bruch in den eigenen Reihen und die Unfaehigkeit, eine politische Spannung auszuhalten, haben die in Apparat und Politik gestaerkt, die ihre Vernichtungsphantasien befriedigt sehen wollen. Wir sehen das ganz nuechtern - aber wir wussten auch von vornherein, dass der Kampf so enden kann. Insoweit haben wir nichts zu verlieren. Wer das weiss, hat auch seine Ruhe vor dem, was kornmen kann und versucht, sich trotzdem dagegen zu stellen.

Der Kampf fuer eine menschliche Zukunft, fiir eine Welt ohne Herrschaft, in der Menschen frei und nach ihren eigenen Bestimmungen leben koennen, steht nach wie vor auf der Tagesordnung. Die Umkehrung der gesellschaftlichen Entwicklung ist also das, worum gekaempft werden muss. Die, die denken, sie haetten uns in der Sackgasse, sollten sich nicht zu frueh freuen. Sie sollten wissen, dass wir um uns selbst kaempfen werden. Es wird keine Rueckkehr zur alten Strategie als politisches Konzept geben, aber wir haben unser Recht auf Selbstverteidigung. Ich glaube nicht, dass wir nun widerstandslos unserer Vernichtung zusehen und ich moechte, dass sich alle ueber unsere Zukunft Gedanken machen.

Isolation Erklaerung Birgits zu ihren Haftbedingungen vom 22.11.94

Am letzten Verhandlungstag hat meine Rechtsanwaeltin den Ausfuehrungen der Bundesanwaltschaft zu meinen Haftbedingungen Fakten entgegengehalten, die die reale Situation widerspiegeln sollten. Es waren Fakten ueber die Transportdauer von Briefen, ueber Besuchsbedingungen mit Trennscheibe, ueber die Anzahl der Monate, in denen ich 24 Std. taeglich allein gewesen bin usw. - diese Fakten stimmen zwar alle, aber ich habe den Eindruck oder besser das Gefuehl, dass so die Realitaet, die Isolationshaft ist, nicht wiedergegeben werden kann. Als der Vertreter der Bundesanwaltschaft einen Brief von mir an meine Mutter vorgelesen hat, in dem ich ueber den auf reichem Standard organisierten Knast in Laendern wie Deutschland geschrieben habe, habe ich mir einige Gesichter in der ersten Reihe, also von Journalistinnen und Journalisten, angeschaut. Ich hatte zum Teil den Eindruck, dass das, was die Bundesanwaltschaft mit der Verlesung all meiner Besitztuemer in der Gefaengniszelle bezwecken wollte, naemlich dass Leut e den Vergleich anstellen, mit dem was sie selber haben, aufgegangen ist. Und es stimmt ja auch, vom Fernseher bis zur Querfloete ist alles da, auch 20 Buecher habe ich in der Zelle und auch 2 Tageszeitungen und mehrere Zeitschriften. Und wenn Sie, Herr Hemberger, dazu anmerken, dass kaum ein Mensch dazu kommt, soviel zu lesen - das sind dann wohl schon die besonderen Vorzuege und Privilegien von Menschen in Einzelhaft, die frei ueber unbegrenzt viel Zeit verfuegen, naja, das ist Zynismus von der eher platten Sorte. Aber was sagt all das, was sagt die Aufzaehlung all dieser Gegenstaende ueber Isolationshaft aus? - nichts, oder zumindest nicht sehr viel.

Ich merke immer, wenn ich versuchen will, anderen Menschen Isolation ihreWirkung, zu erklaeren, kommt mir das sofort unmoeglich vor. Oft beschreibe ich dann einzelne Ereignisse, die eine Steigerung oder Totalisierung darstellen, aber nie die Isolationswirkung selbst. Oder ich beschreibe den Rahmen - 24 bzw. 23 Stunden ueber einen Zeitraum von mehr als einem Jahr in einer 8 m2 Zelle mit Blick auf eine Betonmauer allein zu sein, aber was sagt das, gut, viele tausende Stunden allein-sein - aber das erklaert auch nichts, oder es weckt Assoziationen in eine falsche Richtung. Beispielsweise, dass einem dann die Decke auf den Kopf faellt, dass man es in dieser Zelle nicht laenger auszuhalten glaubt.Das gibt es sicherlich auch, aber bei mir war das nie der Fall, ich habe mich auch nie gelangweilt, sicher auch wegen der ganzen Sachen, die ich habe, ich hatte Moeglichkeiten und kann mich ganz gut alleine sinnvoll beschaeftigen, das war nie mein Problem. Nein, Isolation ist was anderes, Isolation ist und wirkt darueber, dass du nie mit anderen Menschen zusammensein kannst, dass du immer nur mit dir selber zusammen bist - z. B. realisieren doch Menschen ihre Stimmungen und Gefuehle fast immer in und durch andere Menschen, du brauchst den Mitmensch, um dich selbst als Mensch zu realisieren. In Isolation laeuft jede Stimmung ins Leere, ob du gut gelaunt bist oder wuetend oder unheimlich traurig, du kannst immer mit all dem nirgends hin, das heisst, du kannst das nicht leben. Und das bedeutet, all das bleibt immer in dir drin - du bist und sollst das auch, in dir eingeschlossen sein und werden. Der Kampf, den Menschen in Isolationshaft um ihr Leben und Ueberleben fuehren, ist v. a. ein Kampf darum, das immer wieder zu durchbrechen, also dieses Eingeschlossensein in einem selber. Fuer mich war es so, dass ich mir in dieser Zeit immer mehr die Sprache als Ausdrucksmoeglichkeit angeeignet habe, vor allem die Trauer um den Tod meines Freundes, habe ich in erster Linie in Gedichten ausdruecken koennen. Solche Gedichte zu schreiben, ist sicherlich nur ein sehr reduzierter Ersatz fuer Gespraeche und das Zusammensein und die Naehe mit vertrauten Menschen, gerade in einer solchen Situation, aber fuer mich war es wie ein Rettungsanker. Ich habe monatelang Gedichte geschrieben ueber den Verlust, meine Trauer, meine Gefuehle, aber auch ueber abgeschnittene Haende und ueber Obduktionsbilder, die mir die Bundesanwaltschaft hat zuschicken lassen, auf denen der Koerper von Wolfgang Grams aufgehaengt abgebildet und seine Kopfhaut abgezogen ist. Haette ich in dieser Zeit die Sprache als Ausdrucksmoeglichkeit fuer meine innersten Gefuehle nicht gefunden bzw. entdeckt, ich glaube, dass die ganze Zeit sehr viel schwererund mit sehr viel tiefergehenden Wirkungen gewesen waere. Und da kommen Sie hier mit Fernsehgeraet und aehnlichem an. Ich kann mich noch genau an den Tag erinnern, an dem ich das TV-Geraet gekriegt habe, es war der Tag von Wolfgangs Beerdigung und die allerer ste Sendung, die ich gesehen habe, war eine Nachrichtensendung in der Bilder von der Beerdigung gezeigt wurden - an der im uebrigen Sie mich nicht haben teilnehmen lassen. Der Sarg, seine Eltern, meine Familie, alte Freunde - und ueber diese und ueber tausend andere aufwuehlende Situationen konnte ich nie mit einem anderen Menschen reden, all das musste ich immer mit mir allein ausmachen d a s ist Isolation und genau das soll sie sein.

Ich hatte mal dazu geschrieben: du sollst dich soweit in dich selber zurueckziehen, dass du den Zugang zu dir verlierst - du sollst an dir selber, an deinen eigenen Gefuehlen, die nie nach aussen dringen sollen, ersticken. Das ist die Methode Isolationshaft, und es geht auch noch weiter, als das Abschneiden von den direkten menschlichen Kontakten - diese lange Postdauer ist einerseits natuerlich Be- bzw. Verhinderung von politischerDiskussion, aber sie ist auch dafuer da, alles lebendige, was ja auch in einem brieflichen Kontakt stattfinden kann, abzutoeten. Woran das Programm, also dass es darum geht, die Gefuehle in einem Menschen einzusperren, auch deutlich wird, ist die Sache mit dem Musikinstrument. Es handelt sich dabei um eine Querfloete und als ich die gekriegt habe, war ich Anfaengerin und konnte darauf keinen einzigen Ton spielen. Seit unmittelbar nach meiner Verhaftung laufen Antraege fuer ein Keyboard, das sind diese elektronischen Orgeln, und dass ich Orgel-spielen kann, ist der Bundesa nwaltschaft bekannt. Sie haben mit waehrend der ganzen Zeit in Isolation diesen Antrag wegen des Keyboards nicht genehmigt, weil ihnen klar ist, dass das dem Isolationsgrundsatz zuwidergelaufen waere, naemlich Menschen ihrer Ausdrucksmoeglichkeiten und Gefuehlsaeusserungen soweit als moeglich zu berauben. Fuer einen Mensch wie mich ist es moeglich, mich/meine Gefuehle durch Musik auszudruecken - ich haette Gefuehle der Trauer im Spielen von Bach-Fugen ausdruecken und nach aussen bringen koennen und genau deshalb wurde mir so ein Geraet nicht genehmigt. Stattdessen die Floete, von der bekannt war, dass ich das erst lernen muss - mir eine Floete anstatt des Keyboards zu genehmigen kommt mir aehnlich vor, wie einem Verdurstenden Milchpulver zu geben - der weiss dann immer, dass es Milch gibt und es in seiner Situation gut waere, die zu haben.

Isolation war fuer mich nicht dieses dumpf-Erdrueckende, wie man sich das vielleicht vorstellt - Isolation ist eine Folter, die auf Langzeitwirkung ausgelegt ist - also die koerperlichen Symptome beispielsweise treten nicht sofort auf. Isolation ist fuer einen selber ziemlich schwer zu verstehen - das was ich befuerchtet hatte, dass ich mich sehr oft allein fuehle, dass mir die Decke auf den Kopf faellt, dass ich nichts mit der ganzen Zeit anzufangen weiss, all das ist nicht eingetreten.

Das liegt sicherlich auch mit daran, dass es fuer mich ueber lange Jahre klar war, dass das nach einer Verhaftung, falls ich sie ueberlebe, kommen wuerde; fuer Menschen, die voellig unvorbereitet in eine solche Situation kommen, ist es vermutlich ganz anders. Zum Prinzip von Isolation gehoert auch, Menschen moeglichst umfassend aller sinnlichen Wahrnehmungen zu berauben - das faengt bei der Zelle an (die einzigen Farben, die darin vorkamen, waren gruen und weiss - das haben sie wirklich bis zum Zahnbecher durchgezogen und auch alle Sachen, die ich mir selber gekauft habe, was ja nur ueber den Knast ging, waren gruen oder weiss). Um mich rum waren alle Zellen leer und in Bielefeld war mir ueber mehrere Tage nicht klar, ob ich in einem Trakt und dort die einzige Gefangene bin, oder ob da noch andere Menschen sind - also die Zelle und weil eben alles drumrum leergeraeumt war, war relativ geraeuschisoliert. Ausser der Isolierung von anderen Menschen war es auch eine weitgehende Reduzierung visueller und akustischer Reize und auch eine der Gerueche, denn die kommen da ja auch ganz wenig nur noch vor. Also die wichtigsten menschlichen Sinneswahrnehmungen sollen soweit als moeglich reduziert werden. Ich kenne mich kaum mit biologischen Fragen aus, aber offensic htlich reagieren die Sinnesorgane von Menschen im Fall einer weitgehend eingeschraenkten Wahrnehmungswelt so, dass sich ihre Wahrnehmungsfaehigkeit total steigert. Es findet eine unglaubliche Sensibilisierung statt, um wirklich nichts von dem, was in dieser reduzierten Welt noch wahrnehmbar ist, zu verpassen und um Dinge wahrnehmen zu lernen, die vorher nicht wahrgenommen worden sind. Ich will das mal am Beispiel des Geruchssinns versuchen zu verdeutlichen, weil mir das selber schon teilweise verrueckt vorgekommen ist, so hat sich das gesteigert. Mein Geruchssinn hatte sich nach etwa einem halben Jahr in Isolation so geschaerft, dass ich es vermutlich mit jedem Zollhund haette aufnehmen koennen. An Tagen, an denen ich Anwaltsbesuch hatte, wurde haeufig die Zelle durchsucht. Wenn ich dann, oft Stunden nach der Durchsuchung und obwohl das Zellenfenster immer einen Spalt offen war, wieder in die Zelle gekommen bin, wusste ich fast immer, wer von den SchliesserInnen die Zelle durchsucht hatte und man chmal war es mir sogar moeglich, herauszufinden, welche Sachen sie dabei laenger in den Haenden hatten - einmal wusste ich beispielsweise bei einem Pappordner mit eingehefteten Papieren ganz genau, dass und von wem er durchwuehlt worden war - ich konnte es erriechen. Das hoert sich vielleicht jetzt ganz witzig und durchaus praktisch an, ist es in dem Fall ja auch, aber die oder eine Wirkung von Isolation und warum Isolation Folter ist, ist die, dass bei Menschen, deren Sinneswahrnehmungen systematisch gesteigert, auf ein solch ueberhoehtes Mass gesteigert werden, jedes 'Normalmass', zu einem Reiz und einer Wahrnehmung wird, die einem unertraeglich, bis hin zur Schmerzgrenze unertraeglich ist. Auch das will ich noch mal am Geruchssinn zu erklaeren versuchen - als mir das mit den reduzierten Geruechen aufgefallen war, hatte ich ueberlegt, dass ich mir Gerueche in die Zelle hole und habe einem Freund geschrieben, er soll auf den naechsten Brief an mich einige Tropfen Patschulioel traeufeln. Als ich den Brief, der bei dieser rigiden Postzensur lange unterwegs war, endlich hatte, fand ich das zuerst ganz schoen, ich konnte mich an dem Geruch nicht sattriechen (der zu dieser Zeit wahrscheinlich schon so weit verflogen war, dass ein normaler Mensch ihn wohl schon nicht mehr gerochen haette). Aber schon nach kurzer Zeit konnte ich diesen Brief kaum noch in der Zelle ertragen und habe ueberlegt, ob ich ihn verbrennen soll. Das habe ich dann nicht gemacht, sondern ich habe ihn in Plastiktueten verpackt in die hintereste Ecke vom Schrank gelegt, das ging dann.

Das Prinzip ist also, dass die Sinne durch den Reizentzug ins unermessliche gesteigert werden und darauf folgt, dass in dem Moment, wo ein Mensch wieder von einem normalen oder breiten Band von sinnlich Wahrnehmbarem umgeben ist, das unertraeglich ist. Ich war insgesamt mehr als 13 Monate in Einzelhaft und danach gab es in Bielefeld ueber mehrere Wochen geringe Lockerungen - diese ganze Zeit in Isolation, auch die Monate, in denen ich 24 Stunden in der Zelle eingesperrt war und nicht mal Hofgang hatte, diese Zeit habe ich nie als unertraeglich empfunden - als schwer ja, das auf jeden Fall, aber auszuhalten und trotzdem fuer mich selber einen Lebenssinn auch in diesem reduzierten Rahmen zu finden. Als wirklich unertraeglich, auch im Sinn von koerperlichem Schmerz, habe ich nur eine ganz kurze Zeit erlebt und empfunden und das war die allererste Zeit hier in Frankfurt. Der Bundesanwaltschaft sind natuerlich die Ergebnisse jahrelanger Isolations- bzw. Folterforschung bekannt und so kam ich hier in den Normalvollzug und in eine Zelle mit einer Baustelle vorm Fenster, wo mehrere Wochen 8 Stunden taeglich ein Bagger im Einsatz war und dazu in die lauteste Zelle auf der ganzen Station. Das war eine Situation, die vermutlich jeden Menschen genervt haette, fuer mich war sie kaum auszuhalten - wahrscheinlich wuerden es andere Menschen aehnlich empfinden, wenn sie gezwungen waeren, am Rand des Rollfelds eines Flughafens zu leben. Mittlerweile ist das anders, meine Sinne haben sich wieder Richtung Normalmass zurueckgebildet, aber gerade daran, dass ich die Zeit unmittelbar nach der Isolation als die schlimmste wahrgenommen habe, wurde mir selber die Wirkungsweise noch mal sehr viel deutlicher. Jean Amery schreibt in seinem Versuch, seine Auschwitz-Erfahrungen zu verarbeiten, dass Menschen, die gefoltert werden, diejenigen die sie foltern als 'Gegenmensch' wahrnehmen. In Isolation bist du von einer unglaublichen Kaelte umgeben (bis auf das wenige, was durch Briefe oder Besuche diese Mauer durchdringt) und du erwartest von denen, die das organisieren, nichts als Gemeinheiten und staendig neue Schlaege - und genau das entspricht auch der Realitaet. Diese Haltung, diese Erwartung hatte ich vom Tag meiner Verhaftung an und ich kann sagen, es ist in der ganzen Zeit nur selten etwas passiert, was diese Erwartungen nicht entsprochen haette. Gerade auch das Niveau, auf dem in Bielefeld die Isolation gegen mich trotz unglaublich hohem Arbeitsaufwand exzessiv durchgesetzt wurde - von der Knastleitung bis dahin dass die untersten Schliesserinnen, wenn ich am Fenster mit anderen Gefangenen ueber groessere Entferung gerufen habe, in den leeren Zellen dazwischen die Fenster geoeffnet und Radio angeste llt haben, um zwischen uns eine Geraeuschkulisse zu schaffen, dass selbst das Reden am Fenster nicht mehr moeglich war. Ein Mensch, der das und nichts anderes als unmittelbare Lebens- und Umwelterfahrung ueber Monate erlebt, der Mitmenschen eben vor allem als Gegenmenschen erlebt, dem bleibt gar nichts anderes uebrig, als sich in sich selber zurueckzuziehen, Mauern um sich zu errichten, denn du kannst nicht all diese Schlaege bis in dein Innerstes durchhaun lassen, das haelt kein Mensch aus; du musst dich davor schuetzen. Ich selber habe die Wirkungen der Isolation auf mich immer dann am deutlichsten gespuert und auch verstanden, wenn Dinge passiert sind, die das Isolationsprogranm durchbrochen haben. Wenn Situationen eintreten, in denen du unvorbereitet auf normale und eben nicht gegenmenschliche Umgehensweisen triffst, wird das in einer solchen Lebenssituation durchaus als schmerzhaft erfahren, weil dadurch was aufgerissen wird. Ich kann mich z. B. erinnern, dass ich im Sommer von einem Arzt untersucht worden bin, der sich mir gegenueber voellig normal verhielt; es war eigentlich nicht mehr, als dass er mich nicht entwuerdigend behandelt hat und das war angesichts meiner Lebenssituation ein wirklich herausstechendes Ereignis. Allein die Tatsache, dass entgegen der staendigen Realitaet keinerlei Entwuerdigung stattgefunden hat, hat mich unglaublich aufgewuehlt und beschaeftigt. Schon seit einiger Zeit spuere ich, dass ich mich mal ganz in Ruhe mit der Zeit, die ich in Isolationshaft gewesen bin, beschaeftigen will und muss; ich spuere, dass das alles fuer mich noch lange nicht abgeschlossen ist, dass ich vieles noch nicht oder noch nicht vollstaendig verstehe und begriffen habe und oft ueber Beschreibungen nicht rauskomme. Das liegt auch daran, dass es ueber Isolation und ihre Wirkungen bisher nur sehr wenige aufgearbeitete Erfahrungen von Betroffenen gibt. Deshalb habe ich im letzten Jahr sehr viele Buecher von Mensche gelesen, die anderen Formen der Folter ausgesetzt waren - von KZ-Haeftlingen zb oder von Gefangenen aus lateinamerikanischen Laendern, eben immer auf der Suche, in €hnlichkeiten oder Beschreibungen, an denen mir Unterschiede deutlich werden, meine eigene Situation besser begreifen zu koennen. Jetzt, wo ich diese Anfaenge hier angefangen habe aufzuschreiben, habe ich an meinem eigenen aufgewuehlt-sein gemerkt, wie wenig fertig das alles fuer mich ist. Wahrscheinl ich liegt darin schon ein wesentlicher Fehler: fertig-sein - die Vorstellung, und die hatte ich bis vor kurzem, ich koennte diese Zeit als Phase meines Lebens jetzt bald abschliessen, muss ich vermutlich grundsaetzlich in Frage stellen. Oder anders, hinterlassen 13 Monate Einzelhaft in einem Menschen Spuren, die er fuer den Rest seines Lebens in sich traegt ? Amery hat auch geschrieben: wer gefoltert wurde, bleibt gefoltert. Unausloeschlich ist die Folter in ihn eingebrannt, auch dann, wenn keine klinisch objektiven Spuren nachzuweisen sind. Wenn er damit recht hat, trifft das auch auf Menschen zu, die Isolationsfolter unterworfen waren ? und wenn ja, was heisst das fuer mich? Wenn mich jemand fragen wuerde, ob ich mich als FolterOpfer fuehle, wuerde ich das nicht unbedingt bejahen - bei anderen ja, bei mir selber nicht, denn ich will das nicht sein, nicht in der Konsequenz die Amery behauptet; ich will das abschliessen und hinter mir lassen. Am letzten Prozesstag war ein Genosse von den Tupamaros i m Gerichtssaal - er hat mir einen Gruss ausrichten lassen und im Gespraech einen Satz gesagt, der mich seitdem nicht in Ruhe laesst: 'sie kann Blicke nicht halten, sie kann andere Menschen nicht lange anschauen - das ist bei Leuten, die laengere Zeit in Isolation waren immer so, das war bei uns in Uruguay auch so'. Mir sind sofort x Gruende eingefallen, warum das nicht stimmt, dass das hier im Gerichtssaal bloss deshalb so ist, weil ich mir wie ein Zootier vorkomme, dass ich beobachtet werde und dass, wenn ich mir in der Nase bohre, das am naechsten Tag in den Zeitungen nachzulesen ist. Aber das alles ist Quatsch, schon an der Schnelligkeit und der Gereiztheit meiner Gegenargumente war mir das schnell klar; es stimmt, ich kann andere nicht lange anschauen. Solche Wirkungen von Isolation bei sich selber zu beobachten, hat natuerlich auch was Bedrohliches - was kommt da noch alles, von dem ich heute noch nichts weiss? Und vor allem, was wird bleiben? Gibt es Zerstoerungen, die ich Zeit meines Lebens n icht mehr los werde? Werde ich ueberhaupt jemals wieder faehig sein, intensive Beziehungen mit anderen Menschen zu leben, oder wird ein Teil von mir eingesperrt bleiben? Ueber all diese Fragen weiss ich heute noch nichts, kann ich auch nicht wissen, weil ich ein Leben fuehre, in dem unkontrolliertes Zusammensein nur mit Menschen moeglich ist, die staendig wechseln, also sich von daher keine intensive Beziehung entwickeln kann.

Das waren ja jetzt alles nur Bruchstuecke - erst weniges von mir vollstaendig begriffen und viele unbeantwortete Fragen; aber es sind Bruchstuecke und Fragen, die den Kern von Isolationsfolter und ihrer Wirkung gegen Menschen betreffen. Die Aufzaehlung von Fernsehgeraeten, Querfloeten und Buechern beruehrt diesen Kern nicht; das ist logisch, denn es ist die Bundesanwaltschaft die seit mehr als 22 Jahren diese Sorte Haftbedingungen gegen uns organisiert und die genauso lange schon behauptet, es wuerde sich dabei um die humansten Haftbedingungen der Welt handeln.

Hinweise auf Veroeffentlichungen und Initiativen im Zusammenhang mit dem Prozess gegen Birgit Hogefeld * Die AG Geschichte aus Hannover hat einen Text zum Prozess geschrieben, in dem zu den Aktionen, wegen derer Birgit angeklagt ist, jewseils knapp umrissen wird, in welchem Zusammenhang und vor welchen Hintergrund diese stattfanden. (Interim Nr. 302 / AG Geschichte, Infoladen, Kornstr. 28-30, 30167 Hannover) * Im Rhein-Main-Gebiet erschien ein Plakat zum Prozess (leider vergriffen). * Die Tageszeitung "Junge Welt" ist am ersten Prozesstag (15.11.) mit einem 8-seitigen Dossier zum Prozess erschienen. Es enthaelt neben Informationen und Kommentaren zum Prozess auch einen Bericht von einem Besuch bei Birgit und einen Brief von ihr. * Ein laengeres Papier erschien von "Kein Friede" in Frankfurt/M unter dem TitelGlaubt den Luegen der Moerder nicht!. Darin wird entwickelt, dass es im Prozess gegen Birgit Hogefeld um eine ganze Phase politischer Kaempfe (nicht nur der RAF) geht. Die Angriffe gegen die US-Airbase, Tietmeyer und Weiterstadt; die Revolutionaere Front und Bad Kleinen sind Stationen einer Entwicklung, die mit der heutigen Lage der (...) Linken in diesem Land eng verknuepft sind Weiter geht das Papier auf das linksradikale Schweigen zu Bad Kleinen ein und reisst die Steinmetzchen Folgeverfahren an. Die oeffentliche Sprachlosigkeit ueber die eigene Geschichte, politische Verweicklung und Verantwortung, sowie die daraus zu ziehenden Konsequenzen, vereinfachen es den Justizbehoerden, politische Vorgaenge kriminalistisch zu handhaben. * Von "Kein Friede" gibt es auch eine Broschuere., die sich mit Bad Kleinen, Steinmetz und dem Bruch in der RAF auseinandersetzt: Die Niederlage der RAF ist eine Niederlage der Linken, 100 Seiten, DM 5.- plus Versand, Bestelladresse: AWI 1992 c/o 3.Welt-Haus, Westerbachstr. 40, 60489 Frankfurt. * Eine fragmentarische Aufarbeitung zu Steinmetz erschien auch in Saarbruecken. Die politische Defensive der radikalen und revolutionaeren Linken, der Zerfall ihrer Strukturen und das Loslassen erkaempfter Kriterien sind der Boden, auf dem Steinmetz gedeihen konnte. Die Stichworte hierzu sind : Individualisierung, Entpolitisierung, technisches Rangehen und informelle Strukturen.(...) Wir wollen mit dazu beitragen, den unertraeglichen Zustand des Schweigens zu brechen. Like a rolling stone..., Hrsg.: basis, Alte Feuerwache, Am Landwehrplatz 2, 66111 Saarbruecken, DM 2.- plus Porto. * Bei der Pressegruppe c/o Infoladen Bambule, Schoenhauser Allee 21, 10435 Berlin kann ein Pressespiegel zu Bad Kleinen bestellt werden. Er umfasst den Zeitraum von 29.6.93 bis 20.3.94. 164 S., 10 DM in Scheinen im Voraus * Das im Oktober 94 erschienene Buch Bad Kleinen und die Erschiessung von Wolfgang Grams ist eine umfassende Dokumentation der "Todesumstaende" von Wolfgang Grams. Aus der detaillierten Rekonstruktion der Vorgaenge vor, in und nach Bad Kleinen ergibt sich nicht nur, dass Wolfgang Grams ermordet wurde, sondern auch, dass dieser Mord nicht mit einem Ausraster eines einzelnen, dem Corpsgeist verpflichteten Elitebullen erklaert werden kann. Das Buch enthaelt ausserdem zahlreiche Beitraege mit Hintergrundinformationen z.B. zur Kontinuitaet der Todesschussfahndung in der BRD seit Anfang der 70ier Jahre, zur Funktion der angeblichen Objektivitaet von wissenschaftlichen Gutachten, zur veroeffentlichten Meinung der bundesdeutschen Chef-Kolummnisten, zur KGT... Weitere Schwerpunkte sind die Auseinandersetzung um den Spitzel Klaus Steinmetz und die staatliche Repression, insbesondere der Prozess gegen Birgit Hogefeld. Edition ID-Archiv, 320 S., DM 29.80

Naechste Prozesstermine

immer Dienstags und Donnerstags Einlass 8 Uhr 30, Beginn 9 Uhr

6.12. - 8. 12. - 13. 12. - 15.12. - 20. 12. ( 23. 12.) - 3. 1. - 5. 1. - 10. 1. - 12. 1. - 17.1. - 30.1-

Technics zum Prozess-Info

Das Prozessinfo wird in Wiesbaden gemacht.
Zuschriften gehen an die Adresse: Info-AG zum Prozess gegen Birgit Hogefeld, Werderstr. 8, 65195 Wiesbaden. Das Telefon ist mittwochs von 17 bis 19 Uhr und freitags von 18 bis 20 Uhr besetzt: 0611 / 44 06 64. Info: Ueber das Telefon kann auch erfragt werden, welche Punkte bei den folgenden Prozessterminen anstehen - soweit das vorher bekannt ist -.Besuchsplanungen von groesseren BesucherInnengruppen sollten ueber das Telefon koordiniert werden. Der Vertrieb des Prozessinfos ist bisher nur vorlaeufig organisiert. Eine zentrale oder mehrere dezentrale Vertriebsgruppen werden noch gesucht. Die Nr. 1 wird wie folgt verbreitet: * Hamburg / Hannover / Luebeck / Kiel / Bremen: ueber Privatpersonen, in Infolaeden usw. nachfragen * Berlin / Ex-DDR: Fuer die Freiheit der politischen Gefangenen, c/o Rote Saege, Falckensteinstr.. 46, 10997 Berlin * Heidelberg / Mannheim: ueber Privatpersonen, in Infolaeden usw. nachfragen * Stuttgart: Infobuero fuer polit. Gefangene, Moerickestr. 69, 70199 Stuttgart * Saarland: basis, Alte Feuerwache, Am Landwehrplatz 2, 66111 Saarbruecken * Bayern: Infobuero c/o Buecherkiste, Schlehengasse 6, 90402 Nuernberg Regionale WeiterverteilerInnen, die auch hier in der Liste als Verteilstellen aufgefuehrt werden wollen, koennen sich in Wiesbaden melden und erhalten ein kopierfaehiges Exemplar. Einzelversendungen koennen von Wiesbaden aus nicht erfolgen.

Prozess-Spendenkonto

Da sowohl die Kosten im Todesermittlungsverfahrens zum Nachteil Wolfgang Grams sowie die Kosten des Verfahrens gegen Birgit Hogefeld von den Angehoerlgen alleine nicht getragen werden koennen, sind Spenden dringend notwendig: Spendenkonto: Sonderkonto V. Luley, Bad Kleinen Postgiroamt Frankfurt, BLZ 50010060, Kto.-Nr. 16072-603