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Info zum Prozeß gegen Birgit Hogefeld

Nr. 14

November 1996


Prozeßbericht

Der Prozeß gegen Birgit Hogefeld

Schlußwort Birgit Hogefeld vom 29. Oktober 1996

Beiträge zum Buch: Versuche, die Geschichte der RAF zu verstehen

...die allerletzte Seite...


Prozeßbericht

 

"Dieses Vefahren", begann die Anwältin von Birgit Hogefeld ihr Plädoyer, " hat deutlich eines gezeigt, daß nämlich ein rationales Umgehen mit der RAF (...) auf justizieller Ebene nicht möglich ist. Eine solche rationale Umgehensweise muß vielmehr auf politischer Ebene und gegen die Interessen der Strafverfolgungsbehörden durchgesetzt werden".

 

Für die Bundesanwaltschaft stand das Lebenslänglich-Urteil gegen Birgit Hogefeld schon in der Nacht ihrer Verhaftung fest - es sei denn, sie wird Kronzeugin. Zu diesem Zeitpunkt standen im Haftbefehl lediglich die Vorwürfe Mitgliedschaft in der RAF und Autoanmietung für den Angriff auf Tietmeyer.

Von Hinweisen auf eine Beteiligung Birgit Hogefelds an dem Komplex Airbase/Pimental 1985 war in den Jahren vorher nie die Rede.

 

Nach über anderthalb Jahren Beweisaufnahme gibt es wissenschaftlich fragwürdige Schriftgutachten zu den Autobeschaffungen, einen kurzsichtigen Augenzeugen für den Anklagepunkt Pimental, eine rote Faserspur zu Weiterstadt und zu Tietmeyer eine Autovermieterin, die die Angeklagte nach deren Festnahme an O-Beinen erkannt haben will.

 

Die Bundesanwaltschaft (BAW) hat jedoch in ihrem 400seitigen Plädoyer in allen Anklagepunkten die Höchststrafe gefordert.

 

Die Verteidigung Birgit Hogefelds stellte fest, daß die Beweisaufnahme in der RAF keine strafrechtlich relevanten Tatsachen erbracht hat, die eine über die Untersuchungshaft hinausgehende Haftstrafe rechtfertigen könnten und plädierte auf Freilassung ihrer Mandantin.

Auch für häufiger in der Verhandlung anwesende PressevertreterInnen und ProzeßbeobachterInnen war, wie die kritische Berichterstattung in der Schlußphase des Prozesses zeigte, die Beweisaufnahme hinsichtlich einer Verurteilung zu lebenslänglicher Freiheitsstrafe nicht überzeugend.

 

Demgegenüber bot das Plädoyer der BAW, die gesamte Prozeßführung und schon der staatliche Umgang mit Bad Kleinen eindeutige Hinweis auf ein politisches Interesse, die Repressionslogik aufrechtzuerhalten.

 

"Gesetzt den Fall, von der RAF gingen noch so ernstzunehmende Gefahren aus, daß Staatssekretäre, Wirtschaftsführer und Generalstaatsanwälte täglich um ihr Leben fürchten müßten, sähe es für Birgit Hogefeld ganz anders aus. Wie schon früher zwischen Bonn, Karlsruhe und Frankfurt würde man darüber nachdenken, ob dieser Prozeß mit einer um Selbstkritik und differenzierte Betrachtung bemühten Angeklagten nicht geeignet wäre, um gegen die Spirale der Gewalt zwischen Staat und Terroristen ein Signal zu setzen" (FR 2.10.96).

 

Die BAW hatte in ihrem Plädoyer sowie im gesamten Verfahrensablauf juristische Normalität simuliert. Für nicht einmal zweifelsfrei nachgewiesene Autobeschaffungen jeweils die Höchststrafe für Mord zu fordern, ist aber nur bei (vermeintlichen) RAF-Mitgliedern normal.

 

"Um zu wissen, was in dieser Gesellschaft als kriminell angesehen wird, muß man zunächst wissen, was in der Wertskala der Gesellschaft als nicht kriminell gilt.

Einen wertvollen Beitrag, die notwendigen Unterscheidungen zu treffen, hat der Vorsitzende eines Frankfurter Schwurgerichtes beigesteuert. In diesem Prozess erhielt der Polizeihauptkommissar Johannes Kuhr eine Freiheitsstrafe von zweieinhalb Jahren, weil er an Exekutionen in Pinsk beteiligt war, wo russische Juden mit Peitschen in die Gruben getrieben und dort getötet wurden. Kranke erschoß man in den Betten. Gegen Frauen und Kinder, die sich versteckt hatten, wurden Handgranaten eingesetzt.

Von dem Angeklagten Kuhr sagte Richter Schäfer, der Schwurgerichtsvorsitzende:

"Keiner der Angeklagten ist kriminell und ohne das NS-Regime hätten sie niemals vor einem Schwurgericht gestanden. Sie handelten in Übereinstimmung mit ihrer Umwelt, nicht gegen sie und nicht einmal aus Kreisen der Justiz regte sich Einspruch." (Bericht in der Frankfurter Rundschau, Ausgabe vom 7.2.73, S.11)

Das ist eine sehr wesentliche Erkenntnis, die ganz präzise beschreibt, was in der Gesellschaft als kriminell gilt. Die Mordtaten können noch so scheußlich sein, es können Kinder und Frauen mit Handgranaten umgebracht werden: wenn die Mörder in Übereinstimmung mit der Gesellschaftsordnung handelt und nicht gegen sie und wenn sich in der Justiz kein Einspruch regt, dann ist er kein Krimineller," zitierte Birgits Rechtsanwalt ein Plädoyer aus einem der ersten RAF-Prozesse Anfang der 70er Jahre.

 

Der Urteilsspruch, am 5.11.96 verkündet, lautet auf dreimal Lebenslänglich plus 12 Jahre. Außerdem wurde auf "besondere Schwere der Schuld" erkannt. Der von Anfang an völlig unhaltbare Anklagepunkt Bad Kleinen wurde fallengelassen, jedoch wurde im Urteil die offizielle Version, die niemals in einem öffentlichen Gerichtsverfahren untersucht wurde, nämlich daß Wolfgang Grams den GSG-9-Beamten Newrzella und anschließend sich selbst erschossen habe, festgeschrieben.

 

Der Urteilsspruch erging, obgleich in den Tagen vorher aus einer Vielzahl von veröffentlichten Tatsachen zum "Fall" Christoph Seidler noch offensichtlicher wurde, daß die Ermittlungsbehörden bezüglich Zusammensetzung und Struktur der RAF in den 80er Jahren von (interessegeleiteten) Hypothesen ausgehen, die nicht unbedingt den Tatsachen entsprechen.

Schon Birgit hatte in ihrem Schlußwort deutlich gemacht, daß Abtauchen nicht zwangsläufig bedeutet, sich der RAF anzuschließen. Sie selbst hat sich erst zu einem späteren als dem in Anklageschrift (und Urteilsbegründung) behaupteten Zeitpunkt der RAF angeschlossen. Zwei weitere von den vier oder fünf Frauen, die das BKA noch der RAF zuordnet, waren dort nie, wie jetzt bekannt wurde. Bereits in den 80er Jahren waren mehrere Frauen und Männer irrtümlich in die RAF-Fahndung geraten. Damals waren außerdem eine Reihe Personen auf der Fahndungsliste, die sich von der RAF getrennt und in der DDR gelebt haben.

 

Die Beweiskraft der Schriftgutachten im Verfahren gegen Birgit Hogefeld ergab sich für BAW und Gericht aus dem Vergleich mit den anderen Frauen, nach denen wegen RAF-Mitgliedschaft gefahndet wird. Da diese als Schriftverursacherinnen gutachterlich ausgeschlossen wurden und Birgit Hogefeld auf unterer Wahrscheinlichkeitsskala in Frage kam, war sie es. Diese ohnehin fragwürdige Logik wird völlig ad absurdum geführt, weil die BKA-Zuordnungen, wer bei der RAF war und deshalb als Schriftverursacherin in Frage käme, falsch sind.

 

Das Gericht jedoch wertete diese BKA-Schriftgutachten, die wissenschaftlich wackelig geblieben waren, da es sich jeweils nur um eine Unterschrift handelte, und die punktuell im Widerspruch zu früheren auf die gleichen Unterschriften bezogenen BKA-Gutachten standen, als die wichtigsten Beweismittel in den Anklagepunkten Airbase und Tietmeyer.


Aus links November / Dezember 1996:

 

"Nicht Verfahrensrelevant"

Der Prozeß gegen Birgit Hogefeld -

Von Prozeßbeobachterin Andrea L.

 

"Wir haben uns entschieden, daß wir von uns aus die Eskalation zurücknehmen. Das heißt, wir werden Angriffe auf führende Repräsentanten aus Wirtschaft und Staat (...) einstellen." So äußerte sich die RAF in ihrer Deeskalationserklärung von 1992 -- nicht zuletzt, um aus der jahrzehntelangen Repressionslogik zwischen bewaffnetem Kampf und Staat auszubrechen. Das letzterer aus dieser jedoch keineswegs ausschert, zeigte das Verfahren gegen Birgit Hogefeld vor dem Oberlandesgericht Frankfurt. "Dieses Verfahren", so Hogefelds Anwältin in ihrem Plädoyer, " hat deutlich eines gezeigt, daß nämlich ein rationales Umgehen mit der RAF (...) auf justizieller Ebene nicht möglich ist. Eine solche rationale Umgehensweise muß vielmehr auf politischer Ebene und gegen die Interessen der Strafverfolgungsbehörden durchgesetzt werden."

Der Öffentlichkeit präsentierte sich im Staatsschutzsaal des 5. Strafsenats des OLG Frankfurt seit November 1994 ein klassischer "Terroristenprozess": Massives Polizeiaufgebot mit MGs und schußsicheren Westen patroulliert um das Gebäude, ProzessbesucherInnen werden zweimal durchsucht, die Angeklagte wird mit auf dem Rücken gefesselten Händen in einem schwerbewaffneten Konvoi zum Gericht gebracht.

Birgit Hogefeld unterliegt dem Sonderhaftstatut für 129a-Gefangene, das zwar nicht mehr in so brutalisierter Form gehandhabt wird wie in den 70er und 80er Jahren, aber nach wie vor massive Einschränkungen in den Informations- und Kommunikationsmöglichkeiten der Gefangenen bedeutet. Ihr wurde nicht erlaubt, Interviews zu geben, Besuche bei ihr finden mit Trennscheibe und LKA-Überwachung statt, Post wird zensiert und teilweise verschleppt.

"Gesetzt den Fall, von der RAF gingen noch so ernstzunehmende Gefahren aus, daß Staatssekretäre, Wirtschaftsführer und Generalstaatsanwälte täglich um ihr Leben fürchten müßten, sähe es für Birgit Hogefeld ganz anders aus. Wie schon früher zwischen Bonn, Karlsruhe und Frankfurt würde man darüber nachdenken, ob dieser Prozess mit einer um Selbstkritik und differenzierte Betrachtung bemühten Angeklagten nicht geeignet wäre, um gegen die Spirale der Gewalt zwischen Staat und Terroristen ein Signal zu setzen." So die FR am 2.10.96. Die Bundesanwaltschaft hat jedoch in ihrem 400seitigen Plädoyer in allen Anklagepunkten die Höchststrafe gefordert. Dieses Plädoyer, die gesamte Prozeßführung und der staatliche Umgang mit Bad Kleinen bieten keinerlei Hinweise auf ein politisches Interesse, die Repressionslogik zu beenden.

Am 27.Juni 1993 fand in Bad Kleinen ein lange vorbereiteter Polizeieinsatz statt, bei dem Wolfgang Grams erschossen und Birgit Hogefeld verhaftet wurde. Ein eingesetzter GSG-9-Beamter wurde tödlich getroffen, der V-Mann Steinmetz, der die Fahnder nach Bad Kleinen führte, verbrannte, wie das im Staatsschutz-Jargon heißt. In der Folge war regierungsamtlich von Desaster, Pannen usw. die Rede, Innenminister Seiters trat zurück, im BKA wurden führende Beamte versetzt und Rechtsaußen von Stahl wurde ausgetauscht.

Und das alles, weil -- wie die Bundesregierung behauptet -- ein schwerverletztes RAF-Mitglied Selbstmord begangen haben soll? Oder weil dieser bei dem Schußwechsel zuvor den GSG-9-Polizisten Newrzella erschossen haben soll? So steht es in der Anklageschrift gegen Birgit Hogefeld, in der die BAW u. a. wegen Bad Kleinen eine Verurteilung wegen Mordes und mehrfachen Mordversuchs fordert.

Zum Zeitpunkt ihrer Festnahme lautete der Haftbefehl gegen sie lediglich auf Mitgliedschaft in der RAF und Beteiligung (Autoanmietung) an dem versuchten Anschlag auf Tietmeyer. Aber schon in der Nacht ihrer Verhaftung kam ein Vertreter der Bundesanwaltschaft (BAW) in ihre Zelle und drohte, sie habe nur dann noch eine Lebensperspektive, wenn sie sich auf die Kronzeugenregelung einlasse. Ende 1993 beantragte dann die BAW die Erweiterung des Haftbefehls wegen Mordes und sechsfachen Mordversuchs in Bad Kleinen und wegen der Weiterstadt-Aktion. Kurze Zeit darauf trat der Verfassungsschutz über einen Mittelsmann an Birgit Hogefelds Verteidigung heran. Ihr wurde unterbreitet, daß, wenn sie Aussagen mache, die zur Verhaftung von RAF-Mitgliedern führen, zum einen der Mordvorwurf wegen Bad Kleinen fallen gelassen würde und zum anderen sie die Zusicherung erhielte, daß in diesem Falle bei einer Verhaftung niemand erschossen würde. Ist die Kronzeugenregelung an sich schon skandalös, so ist die Androhung weiterer Erschießungen wie in Bad Kleinen -- was der Umkehrschluss dieser Zusicherung ist -- eine Ungeheuerlichkeit.

Im März 1994 kam dann die Anklageschrift, darin wurde ein weiterer Anklagepunkt serviert: die Beteiligung an der Aktion gegen die US-Airbase in Frankfurt 1985 und an der damit zusammenhängenden Erschießung des US-Soldaten Pimental. Zu diesem Zeitpunkt -- also neun Jahre nach der Aktion -- taucht Birgit Hogefeld erstmals als Beschuldigte auf, dementsprechend wurden alte Gutachten neu geschrieben, die Zeugen erneut vernommen, ein manipulativer Videofilm erstellt usw.

Zu den Anklagepunkten Tietmeyer und Airbase existierten zunächst nur fragwürdige BKA-Schriftgutachten, die sich auf jeweils eine Unterschrift unter Miet- bzw. Kaufverträge für Autos bezogen. Diese Gutachten sind nach Birgit Hogefelds Verhaftung neu geschrieben worden und wurden, obwohl sie immerhin eine Verurteilung wegen Mordversuchs bzw. Mordes erbringen sollen, lediglich verlesen. So konnte die Prozeßöffentlichkeit der Verlesung von X Gutachten beiwohnen; zu jeder Unterschrift hatten die beiden BKA-Gutachterinnen gleich mehrere produziert. Geladen wurden sie jedoch zu keinem, auch nicht auf mehrfachen Antrag der Verteidigung.

Zum Anklagepunkt Pimental, einer umstrittenen Aktion, die von Birgit Hogefeld als der schwerste Fehler der RAF bezeichnet wurde, schrieb die BAW in der Anklageschrift, daß die "Gegenüberstellung in der Hauptverhandlung" erweisen werde, ob die Angeklagte die Frau wäre, die seinerzeit den GI Pimental aus der Diskothek gelockt habe. Von den Zeugen und Zeuginnen, die im Rahmen der Ermittlungen zu den Anklagepunkten Airbase, Pimental und Tietmeyer vernommen wurden, also Autoverkäufer, -vermieter und Soldaten, die mit Pimental in der Diskothek waren, hatte ursprünglich keine und keiner bei Lichtbildvorlagen Ähnlichkeiten mit Birgit Hogefeld festgestellt. Dieser Beweisnot -- besonders im Hinblick auf den zehn Jahre zurückliegenden Komplex Aibase/Pimental -- sollte mit einem Videofilm abgeholfen werden: Birgit Hogefeld wurde beim Hofgang heimlich gefilmt, die Aufnahme wurde in 5 Sequenzen zerschnitten, in denen jeweils vier weitere Frauen zu sehen sind, die die Bewegungen der Gefangenen imitieren. Von diesen vier "Vergleichspersonen" haben drei hellblonde lange Haare, alle vier sind von kräftiger Statur. Die ZeugInnen aus der Diskothek hatten die fragliche Frau übereinstimmend als schlank und dunkelhaarig beschrieben. Diese allgemeinen Merkmale treffen in dem BKA-Film nur auf die Angeklagte zu. Hinzu kommen die erkennbaren Nachahmungsbewegungen der Vergleichspersonen. So stellten dann von den US-Soldaten einige nach zehn Jahren folgerichtig fest, daß Birgit Hogefeld und die andere dunkelhaarige Frau Ähnlichkeit mit der Frau von damals haben. Einer der Zeugen ist sich sogar sicher, in Birgit Hogefeld die Frau von damals wiederzuerkennen, obwohl er 1985 ausgesagt hatte, er könne die Frau nicht so genau beschreiben, da er kurzsichtig sei und am fraglichen Abend seine Brille nicht dabei hatte.

Die GI's wurden in der Verhandlung vom Gericht nach Details wie Augenfarbe etc. befragt, sagten sie etwas zur Anklageschrift passendes, machte einer der Richter ein Häkchen, passte es nicht, wurde so lange nach Lichtverhältnissen und Abständen gefragt, bis irgendwie doch noch ein Häkchen rauskam. Die Bundesanwaltschaft fragte meist wenig, wenn das Gericht seine Häkchen beisammen hatte. War dann die Verteidigung mit der Befragung dran, ließ schon die Haltung einzelner Richter demonstratives Desinteresse erkennen. Diese offen zur Schau gestellte Ignoranz zeigte sich auch darin, daß nahezu alle Beweisanträge der Verteidigung abgelehnt wurden und darin, daß durchgängig die Verfahrensakten -- jedenfalls die, die die Verteidigung bekam -- unvollständig waren. Da fehlten Vernehmungsprotokolle, Lichtbilder waren angeblich verschwunden, oder ganze Vorgänge wurden von der BAW mit Billigung des Gerichts als nicht zum Verfahren gehörig definiert.

Allein zum Anklagepunkt Weiterstadt existieren fünf weitere Aktensammlungen. Das heißt, es wird weiter ermittelt, Zeugen befragt, Untersuchungen angestellt, jedem Fussel nachgerannt. Insofern der Fussel rot war, fand durchaus eine Aktennachlieferung statt. Die Logik dabei ist einfach: Birgit Hogefeld hatte bei ihrer Festnahme eine rote Strickjacke dabei, deswegen waren 1995 aufgefundene rote Fussel eben dann doch verfahrensrelevant. Da wurden Gutachten nachgereicht und sogar ein BKA-Beamter geladen, der berichtete, wie er in einem bei der Weiterstadt-Aktion benutzten Auto die mikroskopische rote Faserspur fand. Diese Fussel, die von den meisten industriell gefertigten roten Wollprodukten stammen können, sind die einzige Grundlage für eine Verurteilung von Birgit Hogefeld wegen der Knastsprengung, die Zeugenaussagen haben nichts für eine Verurteilung verwertbares erbracht.

Nach über anderthalb Jahren Beweisaufnahme gibt es also: wissenschaftlich fragwürdige Schriftgut-achten zu den Autobeschaffungen, einen kurzsichtigen Augenzeugen für den Anklagepunkt Pimental, eine rote Faserspur zu Weiterstadt und zu Tietmeyer eine Autovermieterin, die die Angeklagte nach deren Festnahme an O-Beinen erkannt haben will. Diese Zeugin hat, nachdem sie in ihrer ersten Vernehmung 1988 eine andere Frau als Automieterin beschrieben hatte, in der Zeitung gelesen, daß laut BKA Birgit Hogefeld die Automieterin gewesen sei. Da wußte sie dann nach Bad Kleinen, wen sie erkennen soll. Ihre Mutter, deren Beschreibung auch bei der Befragung im Prozess überhaupt nicht auf die Angeklagte passte, begann ihren Bericht mit dem Satz: " Also, da kam die Frau Hogefeld (...)." Mit Blick auf die Angeklagte erklärte sie dann eifrig, diese könne ja blaue Haftschalen getragen haben. Ganz ähnlich nahm sich die Beweisaufnahme des Gerichts aus: einmal fragte beispielsweise der Vorsitzende eine Zeugin, ob sie sich vorstellen könne, daß der Eindruck lückenhafter und gelb-brauner Zähne durch Bemalung vorgetäuscht worden sein könnte. Und auch die BAW führte in ihrem Plädoyer aus, daß die Tatsache, daß ZeugInnen nicht die Angeklagte, sondern eine andere Frau identifiziert hatten, daher käme, daß eben diese andere Frau Birgit Hogefeld ähnlicher sähe als die Angeklagte. Aus dieser Beweisaufnahme ergibt sich für die BAW je einmal lebenslänglich für die Autobe-schaffungen, einmal lebenslänglich für Pimental, 15 Jahre für die Knastsprengung und für Bad Kleinen noch ein lebenslänglich, und zwar mit "besonderer Schuld-schwere".

Die Beweisaufnahme zu Bad Kleinen wäre, wenn es nach Gericht und BAW gegangen wäre, bereits im Frühjahr abgeschlossen gewesen. Von den 142 Zeugen und Zeuginnen, die zu den Vorgängen auf dem Bahnhof etwas ausgesagt haben, wollte das Gericht nur zwei hören: Den GSG-9-Beamten "Nr.4" und einen Lokomotivführer. "Nr.4", der vor Gericht maskiert und verkleidet erschien, sollte nur dazu aussagen, wie er Birgit Hogefeld festgenommen hat. Alle weiteren Fragen sind vom Gericht abgeblockt worden. Dabei ist nicht einmal klar, ob GSG-9-"Nr.4" derjenige war, der Birgit Hogefeld festgenommen hat, ebenso war letztlich nicht festzustellen, ob der vor Gericht erschienene Zeuge überhaupt derjenige ist, der in den Akten als "Nr.4" geführt wird. Nicht nur, daß "die Todesumstände des Wolfgang Grams nicht Gegenstand dieses Verfahrens" sein sollten, wie der Vorsitzende Richter mehrmals vehement erklärte, auch eine Beweisaufnahme dazu, wie Newrzella ums Leben kam, sollte in Frankfurt nicht stattfinden. Auf keinen Fall sollte zur Sprache kommen, wieviele und welche Waffen und Munitionstypen in Bad Kleinen eingesetzt wurden, wo überall die eingesetzten Polizisten postiert waren und was diese taten und sahen. Alle von der Verteidigung beantragten Beweismittel -- Vernehmung weiterer Beamter und anderer AugenzeugInnen usw. -- wurden unisono abgelehnt. Birgit Hogefeld -- obwohl sie die einzige ist, die in Bad Kleinen sicher nicht geschossen hat -- soll hier völlig ohne Beweisaufnahme verurteilt werden. Denn jeder Ansatz einer Aufklärung der Abläufe in Bad Kleinen käme trotz der erheblichen Beweismittelvernichtungen in diesem Komplex nicht umhin, festzustellen, daß es so, wie die offizielle Version behauptet, nicht gewesen sein kann.

BAW und Gericht in Frankfurt wollten von dem Lokomotivführer nur hören, daß Wolfgang Grams in Bad Kleinen geschossen hat -- alles andere ergibt sich daraus in der ihnen eigenen Logik von selbst, nämlich daß es Wolfgang Grams war, der die GSG-9-Beamten Newrzella und "Nr.5" insgesamt sechsmal aus verschiedenen Richtungen, Höhen und Winkeln getroffen hat und daß Tötungsabsicht vorlag. In der Anklageschrift steht: " Wolfgang Grams erschoß in bewußtem und gewolltem Zusammenwirken mit der Angeschuldigten vorsätzlich den Kriminalkommissar Michael Newrzella und versuchte, weitere sechs GSG-9-Beamte zu töten. Für dieses Tatgeschehen ist die Angeschuldigte Hogefeld als Mittäterin verantwortlich", und zwar weil, so die BAW, es in der RAF eine Absprache gäbe, in einer Festnahmesituation "den Fluchtweg (...) durch die Tötung von Polizeibeamten freizuschießen". Diese Absprache existiert jedoch bloß in der Phantasie der Strafverfolgungsbehörden. Birgit Hogefeld hat unter anderem in einer Prozeßerklärung am 23.Januar 1996 darauf hingewiesen, daß es seit 16 Jahren in Verhaftungssituationen seitens der RAF nur ein einziges Mal zum Schusswaffengebrauch kam und dies seit der Deeskalationserklärung 1992 ohnehin kein Thema mehr war. "Erbärmliche Feiglinge" nannte daraufhin der Vertreter der BAW diejenigen RAF-Mitglieder, die bei ihrer Festnahme nicht geschossen haben -- ein bezeichnender Hinweis auf die Denkkategorien dieser Behörde.

"Für die Entscheidung unerheblich", nannte das Gericht Beweisanträge der Verteidigung, die die Existenz einer " Verabredung zum Schießen" widerlegen sollten. Dafür, daß Wolfgang Grams den Polizisten Newrzella erschossen hat, gibt es keinen Augenzeugen, selbst die GSG-9-Beamten haben dies nicht ausgesagt. Der Lokomotivführer hat -- wie etliche in Frankfurt nicht gehörte AugenzeugInnen -- ausgesagt, daß Wolfgang Grams erst auf dem Bahnsteig eine Waffe gezogen hat. Daß nicht er das Feuer eröffnete, sondern seine Verfolger, und daß er nicht in den Treppenschacht auf seine Verfolger geschossen hat. Auch der Fundort der zu seiner Waffe gehörigen Hülsen beweist, daß er erst von seinem Standort zwischen Gleis und Treppengeländer schoß.

Vieles -- z.B. Richtung und Verlauf der tödlichen Schußrichtung -- spricht dafür, daß der tödliche Schuß auf Newrzella nicht von Wolfgang Grams kam, sondern daß Newrzella versehentlich von seinen eigenen Leuten erschossen wurde. Das würde auch erklären, warum er erstaunlich schnell beerdigt wurde und warum es bezüglich der Übergaben der ihm entnommenen Projektile "Dokumentationslücken" in den Akten gibt, wodurch nicht mehr rekonstruierbar ist, ob es sich bei den später der Waffe von Wolfgang Grams zugeordneten Projektilen um die bei der Obduktion entnommenen handelt oder ob sie etwa aus dem Vergleichsmaterial stammen, das vom BKA mit jener Waffe produziert wurde. Die Projektile sind bei der Obduktion entgegen jeglicher Routine weder fotografiert noch gekennzeichnet worden. Die Protokolle in den Akten besagen, daß sie an mehreren Orten zur gleichen Zeit untersucht wurden.

Spurenlücken dieser Art sind in dem ganzen Komplex Bad Kleinen geradezu symtomatisch, seien es die noch vor der Obduktion grundlos gewaschenen Hände des Wolfgang Grams, sei es die unterbliebene Untersuchung seiner Waffe nach Fingerabdrücken, sei es die von den GSG-9-Beamten erst Tage später abgegebene und teilweise gereinigte Kleidung, usw. Dabei war auch im Prozeß in Frankfurt zu hören, wie penibel die Ermittlungsbehörden sich sonst geben -- zu jedem Bekennerschreiben etwa war bis auf die Uhrzeit genau festgehalten, wann abgeholt, von wem, wann übergeben, an wen usw. Solches wurde denn auch in der Hauptverhandlung dezidiert berichtet. Das Gelände der JVA Weiterstadt wurde über ein Jahr lang nach Spuren buchstäblich durchgesiebt.

Die Klärung der Vorgänge in Bad Kleinen ist "für die Entscheidung unerheblich", so das Gericht. "Unerheblich" ist auch, von wo aus Wolfgang Grams in Bad Kleinen geschossen hat, "unerheblich" ob er oder die GSG-9 den Schusswechsel eröffnet hat, "unerheblich" auch, wie die Öffentlichkeit in diesem Zusammenhang die Deeskalationerklärung der RAF von 1992 sieht. Was in Bad Kleinen wirklich passiert ist, ist in Frankfurt "nicht verfahrensrelevant". Für Bundesanwaltschaft und Gericht ist die offizielle Version, die nie gerichtlich aufgeklärt wurde, die Gültige; ganz so, wie es Kanther angeordnet hat. Deswegen soll Birgit Hogefeld die einzige sein, die jemals wegen Bad Kleinen verurteilt wird.

 


Schlußwort Birgit Hogefeld vom 29. Oktober 1996

 

 

Als im November 1994 dieser Prozeß gegen mich begann, habe ich meine erste Prozeßerklärung mit dem Satz eingeleitet: "Während ich hier vor Gericht sitze, laufen die Mörder von Wolfgang Grams frei und staatlich gedeckt draußen rum." Wie nicht anders zu erwarten, hat sich daran bis heute nichts geändert. Die politischen Signale aus Bonn sind bei der deutschen Justiz angekommen. Kurz nach der Polizei-Aktion von Bad Kleinen stattete Bundeskanzler Kohl der GSG-9 einen Truppenbesuch ab und signalisierte damit, daß die Hinrichtung von Wolfgang Grams seine volle Rückendeckung hat. Zu diesem Zeitpunkt stand fest: die staatliche Linie sollte das starre Festhalten an der Selbstmordversion sein und außerdem die Verhinderung der Aufklärung der Ereignisse von Bad Kleinen vor einem deutschen Gericht. Und so war es dann auch. Mangels hinreichendem Tatverdacht gegen die GSG-9 Beamten wurde die Klage der Eltern von Wolfgang Grams durch alle Instanzen abgewiesen; diese Entscheidung wurde zwischenzeitlich auch vom Bundesverfassungsgericht abgesegnet.

 

In der letzten Version des OLG Rostock heißt es, Wolfgang Grams habe sich während des Sturzes ins Gleisbett, also zu einem Zeitpunkt, als er schon mehrfach angeschossen und durch einen Bauchschuß schwerstverletzt war, selbst in den Kopf geschossen. Diese Version ist nicht weniger absurd als die vorherigen. Zwei dazu befragte international anerkannte Gerichtsmediziner äußerten sich in der ARD-Sendung Monitor vom 18.4.96 wie folgt:

 

Pounder:

"Denken Sie an die Realitäten! Er hat einen Bauchschuß und Beinschüsse und er muß große Schmerzen haben. Er fällt rückwärts in einem unkontrollierten Sturz und wir wissen, daß geschossen wurde, als sein Kopf sehr nahe oder schon auf dem Gleis war. Genau in diesem Augenblick hätte er Selbstmord begehen sollen. Um das hinzubekommen, bräuchte man einen Übermenschen."

 

Knight:

"Ich habe in vierzig Jahren alle Arten von Selbstmorden gesehen, aber noch nie, daß sich einer in der Luft selbst erschießen konnte, während er fällt. Das ist höchst unwahrscheinlich."

"Das Szenario (der Rostocker Richter) ist unmöglich, es kann nicht passieren. Das ist einfach völlig unmöglich."

 

All das ist öffentlich und denen, die sich dafür interessieren, bekannt, und nur wenige folgen also der staatlichen Version vom Selbstmord Wolfgang Grams'.

 

Aber in einer Zeit, in der inhaltliche Positionen, die vor wenigen Jahren als 'rechtsaußen' gegolten hätten, heute in der gesellschaftlichen Mitte angesiedelt sind, führt die Erschießung eines schwerverletzten Raf-Mitglieds durch ein paramilitärisches Sonderkommando dazu, daß die meisten Menschen, die dem kritisch gegenüberstehen, auch das nur noch resigniert zur Kenntnis nehmen. Die gesellschaftliche Entwicklung ist da angekommen, daß es heute möglich ist, daß nach Brandanschlägen gegen Menschen aus anderen Ländern Polizei und Staatsanwaltschaften immer häufiger gegen die Opfer dieser Anschläge ermitteln, anstatt die Täter ausfindig machen zu wollen. Der 'Kapitalstandort Deutschland' dürfe durch solche Anschläge nicht gefährdet werden, meinte Außenminister Kinkel 1993 nach der Verbrennung von fünf türkischen Frauen und Mädchen in Solingen. Das Bild von rassistischen, aggressiven deutschen Jungmännern soll keinesfalls im Ausland Assoziationen an die braune Vergangenheit wachrufen - damit war das Signal für die Ermittlungen gegen die Opfer rassistischer Anschläge gegeben. Und daß der junge Libanese aus Lübeck heute wieder in Freiheit ist, hat er wohl vor allem der 'internationalen Untersuchungskommission' und der dadurch gewährleisteten internationalen Öffentlichkeit zu verdanken. Die Solidarität, die es hier gab, hätte wohl kaum ausgereicht.

 

Angesichts dieser Gesamtentwicklung war also nicht zu erwarten, daß die Ereignisse von Bad Kleinen und die Hinrichtung von Wolfgang Grams über das kurze Interesse am Skandal hinaus auf derart großes Interesse und Widerspruch in Teilen der Öffentlichkeit und bei den Medien stößt, daß die Politik zu einer tatsächlichen Aufklärung gezwungen wird.

 

 

 

Das ganze fand seine Entsprechung in diesem Prozeß.

Die wahnwitzige Mordanklage gegen mich wegen der Erschießung des GSG-9 Manns Newrzella und mehrfachem Mordversuch wurde zugelassen, obwohl ich nachweislich in Bad Kleinen überwältigt und mit einer Polizeipistole auf meinen Kopf gerichtet auf dem Boden lag, bevor dort der erste Schuß fiel.

 

Diese Mordanklage gegen mich basiert auf der angenommenen geistigen Mittäterschaft, was in der Konstruktion ja davon ausgeht, Wolfgang Grams hätte den GSG-9 Mann erschossen. Nachdem ich sowohl Anklage als auch die Akten zu diesem Komplex gelesen hatte, war ich sehr gespannt, wie das hier vor Gericht ablaufen würde, denn der in der Anklage behauptete Ablauf stand in zentralen Punkten in Widerspruch zur Aktenlage. Die Fundorte der leeren Patronenhülsen aus der Waffe von Wolfgang Grams schließen aus, daß er - wie in der Anklage behauptet - vom oberen Treppenabsatz aus auf die die Treppe hochstürmenden GSG-9 Männer geschossen hat. Aber aus genau dieser Position soll er Michael Newrzella erschossen haben. Das kann so nicht stimmen. Und außer den Fundorten der Patronenhülsen sprechen auch Zeugenaussagen gegen diese Version. Doch trotz solch eklatanter Widersprüche soll so - laut Bundesanwaltschaft - der Mord, dessen ich hier in geistiger Mittäterschaft angeklagt bin, abgelaufen sein. Und auch dieses Gericht sah trotz all dieser Unstimmigkeiten und Widersprüche keinen Aufklärungsbedarf, es hat sogar alle diese Fragen betreffenden Beweisanträge meiner Verteidigung zurückgewiesen.

 

Wie gesagt, vorher war ich gespannt darauf, wie der Anklagekomplex Bad Kleinen hier behandelt werden würde. Sicher war ich mir nur, daß Bundesanwaltschaft und Senat alles daran setzen würden zu verhindern, daß hier die tatsächlichen Todesumstände von Wolfgang Grams zur Sprache und Aufklärung kommen. Das war ja dann auch so, jede Frage meiner Verteidigung, die über den unmittelbaren Zeitpunkt meiner Festnahme hinausging, wurde vom Gericht nicht zugelassen.

 

Über die Todesumstände von Michael Newrzella war ich mir vor diesem Prozeß nicht im Klaren. Ich habe die Widersprüche zwischen Anklage und dem, was in den Akten steht, gesehen, aber das hätte ja in die eine oder die andere Richtung in der Hauptverhandlung Aufhellung finden können. Erst darüber, wie hier seitens des Senats auch zu dieser Frage durchgängig gemauert wurde, bin ich mir heute sicher, daß von offizieller Seite davon ausgegangen wird, daß Michael Newrzella von seinen eigenen Leuten erschossen worden ist. Möglich, daß sie es nicht definitiv wissen, denn auch hier wurden die Spuren systematisch verwischt bzw. vernichtet, aber sie halten es für wahrscheinlich und deshalb durfte diese Frage hier erst gar nicht in Richtung tatsächlicher Aufklärung verhandelt werden.

 

Mensch stelle sich doch umgekehrt einmal vor, BKA und Bundesanwaltschaft hätten stichhaltige Beweise dafür in der Hand gehabt, daß Wolfgang Grams den GSG-9 Mann Newrzella erschossen hat, was wäre denn dann hier passiert?

 

Nicht, wie in ursprünglich geplant drei, sondern in 30 oder mehr Verhandlungstagen wäre hier medienwirksam aufgepeppt eine umfangreiche und lückenlose Beweiskette auf- und abgerollt worden. Tage-, vielleicht wochenlang hätten die Medien darüber berichtet, daß und wodurch der Verdacht, daß 'der Terrorist' den GSG-9 Mann erschossen hat, von Verhandlungstag zu Verhandlungstag erhärtet wird, bis am Ende schließlich Gewißheit über diese Frage bestanden hätte.

 

Nein, die staatlicherseits Verantwortlichen gehen - genauso wie mittlerweile auch ich - davon aus, daß Michael Newrzella von einem seiner eigenen Leute versehentlich erschossen worden ist. Für die Wahrscheinlichkeit dieses Ablaufs spricht - außer den genannten Widersprüchen in den Akten und dem Verhandlungsablauf hier - auch das Gesamtverhalten dieser Truppe in Bad Kleinen. Als Plan X nicht genau so ablief wie vorgesehen, weil die beiden festzunehmenden Personen eben nicht dicht beieinander waren und eine auch noch die Flucht ergriff, sind sie kopflos hinter Wolfgang Grams herschießend die Treppe hochgerannt. Da liegt es dann schon im Bereich des Möglichen oder sogar des Wahrscheinlichen, daß einer den anderen trifft und erschießt.

 

Liegt da vielleicht auch der Grund, warum einer der GSG-9 Beamten unmittelbar nach dem Einsatz in Bad Kleinen besonderer psychologischer Betreuung bedurfte - war ihm klar geworden, daß er in der Hektik seinen Kollegen erschossen hatte, und ist er deshalb dort zusammengebrochen? Ich weiß es nicht, aber diese Frage erscheint mir nicht gerade aus der Luft gegriffen.

 

 

 

Fest steht nur: genausowenig wie die Todesumstände von Wolfgang Grams aufgeklärt werden sollen, sollte in diesem Prozeß hier vor dem OLG Frankfurt gefragt und beantwortet werden, wer tatsächlich den GSG-9 Beamten Michael Newrzella erschossen hat.

 

Deshalb wurde auch ein Beweisantrag zur Ladung des damaligen Bundesinnenministers Rudolf Seiters zurückgewiesen. Denn Seiters hätte bekunden können, daß ihm in der Zeit zwischen dem 27.6. und 4.7. folgende Informationen bekannt geworden sind:

 

 

* daß die Kioskbesitzerin Joanna Baron angegeben hat, beobachtet zu haben, wie zwei GSG-9 Beamte an den auf dem Gleis liegenden Wolfgang Grams herangetreten sind und einer der beiden aus nächster Nähe auf dessen Kopf zielte und abdrückte;

 

* daß der BKA-Beamte mit der Legendierung Nr. 12 von seinem Standort auf dem Stellwerk aus beobachtet hat, daß kurz nachdem Wolfgang Grams verletzt ins Gleisbett gestürzt war, zwei Personen hinterhersprangen und sich neben Wolfgang Grams postierten. Und daß diese Angabe im Widerspruch steht zu den Aussagen der GSG-9 Beamten, die schießend hinter Wolfgang Grams die Treppe hochgerannt sind. Diese hatten nämlich angegeben, sie hätten sich auf dem Bahnsteig in Deckung gebracht und seien dort minutenlang in einen kollektiven Black-out gefallen;

 

* daß gegenüber dem 'Spiegel' ein am Einsatz beteiligter Beamter, der anonym bleiben will, angab: "Die Tötung des Herrn Grams gleicht einer Exekution";

 

* daß in keiner der Aussagen der in Bad Kleinen eingesetzten GSG-9 und BKA-Beamten von einem Selbstmord durch Kopfschuß die Rede ist - den viele aber gesehen haben müßten, hätte er stattgefunden;

 

* daß bei der GSG-9 und ihr nahestehenden Polizeikreisen kursiert, ein GSG-9 Mann habe Wolfgang Grams den aufgesetzten Kopfschuß beigebracht;

 

* daß unmittelbar nach der Polizeiaktion das BKA, bei dem zuvor die Gesamtverantwortlichkeit für den Einsatz in Bad Kleinen lag, die Spurensicherung übernommen hat und daß im Rahmen der Ermittlungen des BKA gegen sich selbst, noch vor der Obduktion von Wolfgang Grams wichtige Spuren vernichtet worden sind - z. B. wurden seine Hände gereinigt;

 

* daß die Wolfgang Grams und mir zugeordneten Waffen im BKA beschossen und untersucht worden sind, wobei Projektile und Hülsen mit den spezifischen Merkmalen dieser Waffe produziert werden - für Vergleichszwecke, wie es heißt, aber genausogut können welche davon als Austauschmaterial benutzt worden sein;

 

* daß BKA-Beamte die bei der Obduktion von Michael Newrzella sichergestellten Projektile unsachgemäß dokumentiert haben, so daß eine lückenlose Überprüfung, ob es sich bei den später untersuchten Projektilen tatsächlich um dieselben handelt, nicht mehr möglich ist;

 

* daß auch der weitere Weg dieser Projektile so dokumentiert wurde, daß eine sichere Rekonstruktion unmöglich ist - ob also der Wissenschaftliche Dienst Zürich tatsächlich die Projektile untersucht hat, die aus dem Körper von Michael Newrzella entnommen worden sind, kann nicht mit Sicherheit geklärt werden, es ist genausogut möglich, daß dort Austauschexemplare untersucht worden sind;

 

* daß die Kleider, die die GSG-9 Beamten in Bad Kleinen trugen, erst nachträglich und teilweise in frischgewaschenem Zustand abgegeben worden sind;

 

* daß auch die GSG-9 Waffen nicht unmittelbar nach dem Einsatz, sondern erst später sichergestellt wurden;

 

* daß die Fundorte der Hülsen aus der Waffe von Wolfgang Grams in krassem Widerspruch zur offiziellen Version stehen, Wolfgang Grams hätte vom Treppenabsatz aus auf die ihn nachstürmenden GSG-9 Beamten geschossen.

 

Rudolf Seiters hätte als Zeuge auch bekunden können, daß er aufgrund dieser und weiterer ihm vorliegenden Informationen ab dem 3.7.1993 wußte, daß

1. Wolfgang Grams durch ein Mitglied der GSG-9 mit einem gezielten Schuß in den Kopf getötet worden ist

und daß:

2. die Wahrscheinlichkeit, daß Michael Newrzella versehentlich von einem GSG-9 Beamten erschossen worden ist, mindestens genauso hoch, wenn nicht sogar höher ist, als die Wahrscheinlichkeit, daß er von Wolfgang Grams erschossen wurde.

 

 

 

Seiters hätte außerdem bekunden können, daß die Bundesregierung zum damaligen Zeitpunkt befürchtet hat, daß durch Recherchen von Journalisten und/oder undichten Stellen im Sicherheitsapparat die Hinrichtung von Wolfgang Grams und der Verdacht, daß Michael Newrzella durch ein Mitglied der GSG-9 erschossen wurde, an die Öffentlichkeit dringen.

 

Und er hätte bestätigen können, spätestens am 4.7.1993 davon ausgegangen zu sein, daß die Hinrichtung von Wolfgang Grams und die nachfolgende Spurenvernichtung nicht länger geheim zu halten sind, und daß er deshalb an diesem Tag in Absprache mit Bundeskanzler Kohl seinen Rücktritt eingereicht hat, um dafür die politische Verantwortung zu übernehmen.

 

 

 

Im übrigen ist es ja auch so:

Ausschließlich vor dem Hintergrund, daß die Bundesregierung befürchten mußte, daß die Hinrichtung von Wolfgang Grams und der Versuch ihrer Vertuschung öffentlich werden, ergibt der Rücktritt von Seiters am 4. Juli 1993 einen Sinn.

 

Hier in diesem Verfahren ging es darum, für die offizielle Geschichtsschreibung zu Bad Kleinen festzuklopfen, daß Michael Newrzella von Wolfgang Grams erschossen worden sei. Und da von Anfang an klar war, daß das nur funktionieren kann, wenn ein Gericht bereit ist, alle ins Auge springenden Fragen und Widersprüche um die Todesumstände des GSG-9 Manns zu ignorieren und außer acht zu lassen, hat die Bundesanwaltschaft den 5. Strafsenat des OLG Frankfurt für die Anklageerhebung gegen mich ausgewählt.

 

Bei diesem Senat konnte sie sicher davon ausgehen, daß jede Anklage gegen eine Raf-Gefangene durchgeht und zur Verurteilung kommt und daß die Verhandlungsführung zu Bad Kleinen so sein würde, daß die offizielle Version vom angeblichen Selbstmord Wolfgang Grams' nicht weiter erschüttert wird.

 

 

 

Es wurde mir öfter vorgeworfen, ich hätte noch vor Beginn dieser Hauptverhandlung durch Einschätzungen in Veröffentlichungen ein Lebenslänglich-Urteil herbeigeredet - an dem ja mittlerweile niemand mehr ernsthaft zweifelt.

 

Für mich war die Entscheidung der Bundesanwaltschaft, mich hier vor diesem Staatsschutzsenat anzuklagen, ein deutliches Zeichen. Hatte doch noch im Jahre 1993 dieser Senat bei einem Gefangenen, der wegen eines Brandanschlags im Zusammenhang mit einem Hungerstreik von Gefangenen von Action Directe zu einer mehrjährigen Freiheitsstrafe verurteilt worden war, dessen Freilassung nur wenige Monate vor Ablauf der Endstrafzeit verweigert, obwohl dieser Mann lebensbedrohlich erkrankt war. Diese Entscheidung, ihn in seinem damaligen Zustand nicht freizulassen, kam einem Todesurteil gleich, das wußten damals alle, die es wissen wollten. Und daß der Mann in den restlichen Monaten im Knast nicht gestorben ist, ist kein Verdienst dieses Gerichts - es wollte ihn sterben lassen.

 

Deshalb, und wegen des Lebenslänglich-Urteils, das dieser Senat 1994 bar jeder ernstzunehmenden Beweisführung gegen Eva Haule verhängt hatte, wußte ich, daß ich es hier mit Leuten zu tun haben würde, die heute so agieren, als würden wir das Jahr 1977 schreiben.

 

Das Muster, nach dem der gesamte Prozeß gegen mich abgelaufen ist, könnte heißen: DIE BANK GEWINNT IMMER - und es funktioniert denkbar einfach.

 

In diesen über 1_ Jahren Prozeßdauer habe ich u. a. gelernt, daß und wie die Bundesanwaltschaft mit einem solchen Senat jeden Menschen (der die Mitgliedschaft in der Raf nicht bestreitet und jede Form von Verrat verweigert) fast jeder beliebigen Tatbeteiligung an Raf-Aktionen anklagen und verurteilen kann. Ich könnte das sofort als Versuch vorführen, ich könnte auf die Zeil gehen und beispielsweise eine Frau zwischen Anfang 30 und Mitte 40 fragen, ob sie das Spiel mitspielt und sich hier als Raf-Mitglied präsentiert. Einziges Kriterium für die Auswahl einer solchen Frau müßte sein, daß sie keine allzu auffälligen besonderen Kennzeichen hat. Ihre Größe sollte irgendwo zwischen 1,50 m und 1,80 m liegen, sie sollte zwei Beine mit je einem Fuß haben und außerdem die übliche Anzahl Arme und Hände, und am Kopf zwei Ohren, zwei Augen, einen Mund und nicht mehr als eine Nase. Das reicht, dann ginge alles klar.

 

Wer hier die Art und Weise der Beweisaufnahme verfolgt hat, weiß, wovon ich rede.

 

Vielleicht denken jetzt manche, daß es unpassend zu meiner derzeitigen Situation sei, über den Verhandlungsablauf hier zu polemisieren, schließlich wird von diesem Staatsschutzsenat demnächst ein Lebenslänglich-Urteil gegen mich ausgesprochen werden. Aber ich war jetzt an die 100 mal in dieser Veranstaltung und trotz der realen Drohung und Bedrohung, die dieser Prozeß natürlich für mich, für mein Leben darstellt, habe ich es häufig nur noch als absurd, oft auch als lächerlich empfunden, was hier passiert ist. Alle Vorurteile, die ich jemals in meinem Leben gegenüber einem deutschen Staatsschutzsenat hatte, wurden nicht nur bestätigt, vieles, was hier seitens der Bundesanwaltschaft und des Senats gelaufen ist, hat das, was ich mir habe vorstellen können, bei weitem übertroffen. Hier wurde fast durchgängig nicht mal so getan, als ginge es darum, die tatsächlichen Abläufe aus den verschiedenen Anklagekomplexen aufzuklären.

 

Noch in der Nacht nach meiner Verhaftung war mir von einem Bundesanwalt mitgeteilt worden, daß es für mich keine Lebensperspektive in Freiheit mehr gäbe, wenn ich nicht mit ihnen zusammenarbeiten würde. In der Folgezeit wurden mir mehrmals Angebote gemacht, immer verbunden mit der Drohung einer Lebenslänglich-Strafe, wenn ich ablehne. Nach meiner Ablehnung wurde dann der Haftbefehl erweitert - zuerst um die Mordanklage wegen Bad Kleinen, später um die Airbase-Pimental-Aktion.

 

Dabei ergab sich für die Bundesanwaltschaft natürlich das Problem, daß sie ihre früheren Ermittlungsergebnisse - die nie in meine Richtung zeigten - für nichtig erklären mußten, um nun mich als 'Täterin' einzusetzen.

 

Dafür mußten alte Schriftgutachten durch neue, 'Hogefeld-bezogene' ersetzt werden, ein manipulativer Videofilm wurde hergestellt, anhand dessen jeweils ich als 'Täterin' ausgedeutet werden sollte, denn nur ich entsprach in meinem allgemeinen Erscheinungsbild der angeblichen 'Täterinnen-Beschreibung' - klein, schmal, kurze dunkle Haare - also waren drei der Vergleichspersonen blond und dick und somit sofort auszuschließen.

 

Trotzdem waren nicht alle früheren Ermittlungsergebnisse, die oft auf andere Personen, nie aber auf mich hindeuteten, aus den Akten zu bereinigen, und auch die Zeugenaussagen konnten ja nicht einfach alle verschwinden. Es brauchte also schon einige Anstrengung seitens des Senats, gerade auch die Zeugenbefragung so durchzuführen, daß am Ende ich als die Frau verurteilt werden kann, die mit Edward Pimental die Kneipe verlassen hat.

 

Im Fall Pimental gibt es beispielsweise einen 'Hauptbelastungszeugen', der mich anhand besagten Videofilms als die Frau wiedererkannt haben will, die er seinerzeit mit Pimental in der Kneipe gesehen hat. Nun hatte aber gerade dieser heutige Hauptbelastungszeuge bei seiner polizeilichen Vernehmung im August 1985 angegeben:

"eine genaue Beschreibung der Frau, die mit Pimental sprach, kann ich nicht geben. Ich muß bemerken, daß ich kurzsichtig bin und normalerweise eine Brille trage. An dem Abend trug ich keine Brille."

 

Während der Befragung dieses Zeugen durch den Senat hat kein einziges Senatsmitglied diese Problematik mit der Kurzsichtigkeit auch nur angesprochen. Mangels anderer Beweise braucht dieser Senat die Aussage dieses kurzsichtigen Menschen, der seine Brille nicht dabei hatte und bei der Polizei den Satz sagte: 'eine genaue Beschreibung der Frau kann ich nicht geben', denn seine heutige Aussage soll mich 'überführen' - also werden die früheren Aussagen negiert und es stört auch nicht weiter, daß dieser Zeuge hier angegeben hat, an besagtem Abend betrunken gewesen zu sein. Solche Beispiele gab es im Laufe der Hauptverhandlung unzählige: seitens des Senats wurden immer nur die Fragen angesprochen und abgehakt, die in irgendeiner Weise als mich belastend interpretierbar sind.

 

 

 

Oft hatte das durchaus Comic-Charakter und manchmal habe ich mich nach Prozeßtagen selber gefragt, ob das alles tatsächlich so gewesen ist, wie ich's in Erinnerung hatte. Aber da ich mir sicher bin, daß ich hier immer mit klarem Kopf und nie in bekifftem Zustand oder so war, weiß ich, es war alles wirklich so. Die Zeugin, die mich beim Autokauf mit lückenhaften, braunen Zähnen beobachtet haben will, wurde von einem der Richter gefragt, ob die Zähne vielleicht angemalt gewesen seien, um den Eindruck von Zahnlücken zu erwecken (denn zum großen Ärger des Gerichts habe ich keine Zahnlücken). Wenn bei den Haaren die Farbe nicht stimmte, dann war von Haarfärbung oder Perücke die Rede, wenn ich zu klein bin, von Stöckelschuhen, für die Veränderung der Augenfarbe sind verschiedenfarbige Kontaktlinsen auf dem Markt, nicht zu vergessen sind meine auffälligen O-Beine (auch sie spielen für meine Identifizierung eine große Rolle), bei denen nur der Orthopäde sich weigert, die festzustellen, macht aber nix, denn die Richter haben sie längst per Röntgenblick durch den Tisch hindurch identifiziert.

 

 

 

Aber die Krönung der Beweisführung kam erst im Plädoyer der Bundesanwaltschaft. Da wurde nämlich erklärt, daß und warum als sicher anzusehen ist, daß ich Mittäterin bzw. Käuferin zweier Autos für die Tietmeyer- bzw. Airbase-Aktion sei, obwohl in beiden Fällen die Zeugen ursprünglich ganz sicher Sigrid Sternebeck wiedererkannt haben wollen.

 

Das erscheint ja auch möglicherweise einem unerfahrenen Prozeßbeobachter als Widerspruch - ist es aber nicht, sagt die Bundesanwaltschaft.

 

Frau Sternebeck war einmal hier in diesem Verfahren als Zeugin geladen, und wenn es als Grobunterscheidung zwei Frauentypen gibt, dann ist sie der andere als ich: nämlich blond, hell, blauäugig, eben alles ist anders als bei mir. Trotzdem sagt die Bundesanwaltschaft in ihrem Plädoyer, das sei kein Widerspruch, im Gegenteil, wenn Zeugen bei der Lichtbildvorlage auf Frau Sternebeck deuten und nicht auf ein Foto von mir, dann belastet genau dieser Wiedererkennungsvorgang mich. Denn - so die logische Schlußfolgerung - ich sehe Frau Sternebeck ähnlicher als mir selber. Ich brauchte eine Weile, aber dann hab ich's verstanden. Das geht nämlich so: Raf-Mitglieder verändern in der Illegalität immer ihr Äußeres und dafür nehmen sie - denn das ist praktisch - als Vorlage das Fahndungsfoto einer anderen Frau, natürlich einer, der sie normalerweise überhaupt nicht ähnlich sehen. Und anhand dieser Fahndungsfoto-Vorlage machen sie so lange an sich rum (mit Schminke und Perücke - na das hatten wir ja alles schon), bis sie so aussehen wie das Fahndungsfoto.

 

Das ist doch jetzt klar, oder?

 

Wieso dann, fragt sich vielleicht noch jemand, es mich belastet, wenn ein Zeuge auf ein Foto von mir deutet? Die Frage ist schon fast dumm, denn sie ist leicht zu beantworten:

 

Raf-Mitglieder verändern sich nämlich nicht immer nach dem Prinzip der einfachen Umwandlung, nein, manchmal machen sie auch den doppelten Trick, und dann sehen sie natürlich wieder sich selber ähnlich oder jemandem, der ihnen ähnlich sieht, jedenfalls ähnlicher, als die, denen sie überhaupt nicht ähnlich sehen - die von der Einfach-Umwandlung nämlich. Na so ungefähr jedenfalls funktioniert das mit den Ähnlichkeiten nach Logik der Bundesanwaltschaft.

 

Wie eingangs schon gesagt: DIE BANK GEWINNT IMMER -

und die Frau von der Zeil hätte hier einfach keine Chance.

 

 

 

Manipulative und tendenziöse Zeugenbefragungen waren hier an der Tagesordnung, Zeugenaussagen und Indizien wurden hier zusammengedreht und Widersprüche ausgeklammert. Im Mittelpunkt des Interesses dieses Senats stand von Anfang an nur eins: meine Verurteilung.

 

Folgerichtig wurde jede juristische Intervention, jede Zeugenbefragung, jeder Antrag meiner VerteidigerInnen immer als Störfaktor betrachtet, und moniert, sie würden damit die Verhandlung unnötig in die Länge ziehen. Und Rechtsanwältin Seifert war fast durchgängig dem Frauenhaß der Bundesanwälte und einiger Senatsmitglieder ausgesetzt. Wenn sie Anträge stellte, dann verzog regelmäßig einer der Richter sein Gesicht so, als würde er gerade gezwungen, Katzenscheiße zu fressen, andere schliefen demonstrativ ein und die Bundesanwälte lachten und feixten häufig in der Art pubertierender Knaben.

 

Oder dieses ständige entnervte Schnauben seitens einiger Senatsmitglieder, wenn meine VerteidigerInnen wieder einmal die Aktenvervollständigung beantragten. Die Signale waren deutlich, der 5. Strafsenat des OLG Frankfurt fühlte sich dafür nicht zuständig, und darüber hinaus interessierte ihn auch ganz einfach nicht, ob die Akten da waren oder nicht, das Gericht benötige die Aktenvollständigkeit doch schließlich auch nicht, gaben sie unumwunden zu. Außerdem schienen sie sich zu fragen, warum wir damit immer wieder sie belästigen. Schließlich weiß doch jeder halbwegs informierte Mensch in diesem Land, wo die Akten für solche Verfahren vollständig vorhanden sind. Warum also nerven wir damit immer wieder diesen Senat, anstatt uns an den 'Spiegel' zu wenden und Herrn Aust zu fragen, ob er sie mal rüberschiebt? Und außerdem kann man solche Akten, wenn man sie unbedingt haben will, bekanntlich ja auch direkt beim BKA oder der Bundesanwaltschaft kaufen. Aber das ist natürlich eine Kostenfrage.

 

 

 

Ich bin schon häufig gefragt worden, warum ich nichts zu den gegen mich erhobenen Vorwürfen aus der Anklage sage, und daß die Tatsache, daß ich sie nicht bestreite, gegen mich gewertet werden wird. Wie diese Anklage zustande gekommen ist, habe ich schon geschildert, nach Aussageerpressungsversuchen mit Lebenslänglich-Drohung wurde die Anklage mehrmals erweitert.

 

Damit sollte der Druck gegen mich verstärkt und natürlich auch die Basis für ein Lebenslänglich-Urteil gebaut werden. Der ganze Ablauf spricht für sich und sagt viel über die tatsächliche Beweislage aus.

 

Aber während der Hauptverhandlung wurde mir von seiten der Bundesanwaltschaft nochmals die Kronzeugenregelung offeriert - aber darüber, daß solche Erpressungsversuche mittlerweile schon in öffentlicher Veranstaltung gemacht werden, habe wohl nur ich mich gewundert. Schließlich ist das in diesem Land Gesetz. Im Grunde logisch: Gesetzgebung nach dem Prinzip der freien Marktwirtschaft, ich habe Wissen, das andere unbedingt wollen - was also liegt näher, als gesetzliche Regelungen für die in solchen Fällen angepeilten Deals zu installieren.

 

 

 

Also vonwegen Wahrheitsfindung, um die es hier und in ähnlichen Veranstaltungen angeblich geht. Um die Wahrheit ging es hier nie, sondern darum, die wenigen Splitter einer manipulierten, löchrigen Indizienkette so zusammenzukleben, daß sie nicht gleich beim ersten Hinschaun reißt. Und dank der ständigen Anstrengung und Interventionen meiner RechtsanwältInnen ist nicht mal das gelungen. Trotzdem wird dieser Senat zu dem Ergebnis kommen, daß die Anklagepunkte in der Hauptverhandlung nachgewiesen worden sind, und ein Lebenslänglich-Urteil gegen mich aussprechen. Hier gab und gibt es nur die Alternative zwischen dem Lebenslänglich-Urteil und Verrat - dazwischen gibt es nichts. Dafür hat die Bundesanwaltschaft diesen Staatsschutzsenat für die Anklage gegen mich gewählt, denn bekanntlich funktionieren heute nicht mehr alle Staatsschutzsenate in diesem Land in dieser Weise als Handlanger für die Bundesanwaltschaft.

 

 

 

Verrat wäre für mich auch, zu den einzelnen Anklagekomplexen Angaben zu machen, die mich als Person entlasten würden, denn diese Angaben würden sofort mit anderen Ermittlungsergebnissen zusammengewürfelt und dann gegen andere benutzt werden. Seit den Aussagen von Peter-Jürgen Boock gibt es dafür eine neue Wortschöpfung: 'Subtraktionsverfahren' wird das bei der Bundesanwaltschaft genannt, d. h. seine Aussagen sind nicht immer direkt belastend, lassen aber Rückschlüsse zu, die andere ins Fadenkreuz rücken.

 

Diese indirekte Sorte von Denunziation kommt für mich als Weg genausowenig in Frage wie direkter Verrat.

 

 

 

In dieser Hauptverhandlung gab es nicht bloß diesen einfach nur noch absurden und oft auch lächerlichen Teil dieser Sorte Beweisführung, den ich schon angesprochen habe - natürlich nicht. Hier wurden ausführlich die Todesumstände des US-Soldaten Edward Pimental beschrieben und Bilder seiner Leiche gezeigt. Edward Pimental war am Abend des 7. August 1985 von Raf-Mitgliedern in einem Waldstück bei Wiesbaden durch einen Kopfschuß hingerichtet worden. Er wurde von hinten in den Kopf geschossen, daß Projektil trat durch eines seiner Augen wieder aus - Pimental war gerade mal 20 Jahre alt. Wenn ich heute versuche, mir eine solche Situation bildlich vorzustellen, wenn ich mir vorstelle, daß Menschen hergehen und einen jungen Mann erschießen, weil er Soldat der US-Armee ist und einen Ausweis besitzt, den sie haben wollen, dann empfinde ich das als grauenhaft und zutiefst unmenschlich - anders kann ich das nicht bezeichnen.

 

Oder Barbara Nies und Matthias Reams, die hier in der Hauptverhandlung als Zeugen ausgesagt haben. Barbara Nies und Matthias Reams sind zwei Menschen, die bei dem Bombenanschlag auf die US-Airbase in Frankfurt schwerverletzt worden waren. Und obwohl beide hier nur kurz ihre Verletzungen schilderten und über die Auswirkungen dieses Anschlags auf ihr weiteres Leben redeten, war deutlich zu spüren, wie sehr sie noch heute unter den körperlichen und seelischen Folgen leiden. Schon allein an diesen Beispielen wird für mich deutlich, daß vieles in unserer Geschichte als Irrweg anzusehen ist. Da kam es sehr schnell zu Verselbständigungen und einer Eskalation des Militärischen - Bombenautos, noch zusätzlich bestückt mit Metallteilen, die Menschen zerrissen haben und auch zerreissen sollten, Genickschüsse oder die Erschießung von Geiseln, wie schon bei der Botschaftsbesetzung in Stockholm.

 

Wir waren denen, die wir bekämpfen wollten, in dieser Hinsicht sehr ähnlich und sind ihnen wohl immer ähnlicher geworden.

 

 

 

Wenn die Bundesanwaltschaft in ihrem Plädoyer unzählige Male aus Briefen einer anderen Raf-Gefangenen zitiert hat und in diesen Briefen über den Tod eines Menschen in Begriffen wie 'ausschalten' geredet wurde, dann sträubten sich mir dabei angesichts dieser kalten und menschenverachtenden Sprache oft die Haare. Gleichzeitig weiß ich aber auch, daß ich da nur 'Glück' habe, daß da nicht ich selber mit dieser Sprache zitiert wurde, denn in den 70er und 80er Jahren habe ich auch so geredet.

 

Und es gab Zeiten in meinem Leben, in denen ich die Erschießung eines US-Soldaten oder eine Autobombe auf der Airbase in Frankfurt oder Ramstein oder die Schleyer-Entführung, die ganzen Aktionen der Raf seit ihren Anfängen eben, gerechtfertigt fand. Zu dieser Haltung habe ich heute eine große innere Distanz. Deshalb hatte ich in meiner Erklärung zur Raf-Geschichte vom Juli 95 zu der Erschießung von Edward Pimental gesagt, daß sie mit revolutionärer Moral und revolutionären Zielen nicht vereinbar ist, und in Hinblick auch auf andere Opfer, die unsere Seite, die Raf, seit ihrem Bestehen zu verantworten hat, die Frage gestellt:

"Wie konnte es dazu kommen, daß Menschen, die aufgestanden waren, um für eine gerechte und menschliche Welt zu kämpfen, sich so weit von ihren ursprünglichen Idealen entfernten?"

 

 

 

Der Tod eines Menschen ist endgültig und eine Auseinandersetzung mit der Raf-Geschichte macht keinen Edward Pimental oder Gerold von Braunmühl oder Jürgen Ponto wieder lebendig. Und auch die Situation von Menschen, die bei Raf-Aktionen verletzt worden sind oder die durch unsere Aktionen Familienangehörige oder Freundinnen und Freunde verloren haben, wird dadurch, ob ich oder andere sich kritisch mit unserer Geschichte und dem, was ich heute als Irrweg und z. T. katastrophale Fehler bezeichnen würde, nicht leichter werden.

 

Wenn überhaupt, kann eine solche Auseinandersetzung auch gerade mit Blick auf die Opfer nur den Sinn haben, daß die dabei gewonnenen Erkenntnisse Wiederholungen vermeiden helfen. Darin sehe ich aufgrund meiner Biographie, der Tatsache, daß mein Lebensweg 20 Jahre lang eng mit der Raf verbunden war, für mich selber eine Verpflichtung und Verantwortung.

 

Aber gerade eine solche Auseinandersetzung ist offensichtlich staatlicherseits überhaupt nicht gewollt, anders jedenfalls ist nicht zu erklären, daß beispielsweise die für mich zuständigen Behörden nichts unterlassen, um genau diese Auseinandersetzung zu blockieren und soweit als möglich zu verhindern.

 

Im linken Spektrum hielt sich die Resonanz auf meine Ansätze von Reflexion und Diskussion der Raf-Geschichte in Grenzen - was auch angesichts der gesamten Situation nicht anders zu erwarten war. Reaktionen aus linksradikalen Kreisen waren häufig mit dem Vorwurf verbunden, ich würde in meinen Überlegungen und meiner Kritik unberücksichtigt lassen, daß es die Verhältnisse sind, die den bewaffneten Kampf notwendig gemacht haben, und daß die sich bis heute weltweit eher verschärft als verbessert hätten. Diese Argumentationslinie, daß Kriege, Ausplünderung, Hunger, eben das grenzenlose Elend unzähliger Menschen, Begründung und Legitimation für den bewaffneten Kampf auch hier sind, kenne ich gut - ich habe selber lange so gedacht und argumentiert.

 

Und vieles schreit ja auch nach Veränderungen - heute nicht weniger als vor 10 oder 20 Jahren. Wer es wissen will, kann wissen, was sich beispielsweise hinter harmlos klingenden Formulierungen wie einer Meldung im Wirtschaftsteil verbirgt, in der es heißt, IWF und Weltbank hätten beschlossen, daß der Schuldendienst dieses oder jenen Landes um soundsoviel erhöht wird. Solche Forderungen sind häufig Todesurteile, die dann gegen die Ärmsten der Armen durch Hunger oder Krankheit vollstreckt werden. Und diejenigen, die solche Entscheidungen treffen, wissen sehr genau, daß es sich dabei um Massenmord handelt. Wie gegen solche Entwicklungen und eine solche Politik Grenzen gesetzt, Macht beschnitten und neue Orientierungen durchgesetzt werden können, weiß ich auch nicht. Ich habe darauf heute keine Antwort, sondern nur Fragen. Die bloße Behauptung, daß solche Verbrechen bewaffneten Kampf notwendig machen und legitimieren, kann nicht die Antwort sein, denn die wesentliche Frage, nämlich die nach einem Weg, wie Veränderungen durchgesetzt werden können, fällt dabei unter den Tisch.

 

Aktuell gibt es - natürlich sehr viel weniger als in den 70er oder 80er Jahren - in Teilen der Linken Diskussionen, in denen die Notwendigkeit militanter und/oder bewaffneter Aktionen begründet werden. Die Begründungen für solche Aktionen in der heutigen Zeit werden auch da häufig aus der weltweiten Entwicklung abgeleitet und die Frage nach ihrer politischen Bestimmung und konkreten Funktion, auf Veränderungen bezogen, bleibt weitgehend schemenhaft.

 

Da tauchen dann oft Formulierungen auf wie:

"Militante Projekte werden in der BRD vorerst versuchen müssen, Themen zu benennen, um eine politische Wirkung zu entfalten" oder "Es soll der Öffentlichkeit und den Herrschenden bewußt gemacht werden, daß sich fundamentaloppositioneller Widerstand ungeniert seiner Ausdrucksformen bedient."

 

 

 

Wenn es Erfahrungen gibt, die aus den Kämpfen bewaffneter oder militanter Gruppen hier gezogen werden können, dann gehört dazu unbedingt die, daß aus solchen Kämpfen keine Massenmobilisierung und in der Regel sogar überhaupt keine Mobilisierung entsteht. Das, was in den 70er Jahren viele Linke weltweit aus der sogenannten 'Focustheorie' an Interventions- und Mobilisierungs-möglichkeiten abgeleitet haben, hat sich fast überall als so nicht umsetzbar erwiesen. Diese Erfahrungen sind bekannt und sie sind gewiß auch denen bekannt, die heute hier über den Aufbau militanter und/oder bewaffneter Gruppen nachdenken. Was also treibt immer wieder Menschen oder kleine Gruppen zu diesen Aktionsformen, von denen sie zumindest wissen könnten, daß sie angesichts der aktuellen Gesellschaftsrealität, also der Tatsache, daß der übergroße Teil der Bevölkerung dieses Landes Lichtjahre von jedem umstürzlerischen Gedanken entfernt ist und es auch so gut wie keine organisierte Linke gibt, keine konkret bestimmbare Funktion für tatsächliche Veränderungen haben?

 

Ich denke, über diese Frage können z. T. auch Reaktionen auf meine Texte Auskunft geben. Da heißt es beispielsweise in einem Diskussionspapier: 'für mich waren die Aktionen und die Politik der Raf mobilisierend, gerade auch wegen ihrer Unversöhnlichkeit, der persönlichen Konsequenzen', 'positive Ausstrahlung wegen ihrer Konsequenz und Verweigerungshaltung' oder 'für mich war es wichtig, daß die Raf gezeigt hat, daß man den Verbrechen etwas entgegensetzen kann', oft ist auch vom 'stillen Beifall zu den Aktionen' die Rede.

 

Diese Zitate zeigen eine Haltung oder ein Verhältnis, das sich durch die gesamte Raf-Geschichte zieht.

 

In seinem Buch 'Achtundsechzig' schreibt Oskar Negt zu diesem Verhältnis Linker gegenüber der Raf unter der Überschrift: 'Bleierne Zeit, bleierne Solidarität': -

"In den folgenden Jahren (gemeint ist die Zeit nach 72) bildet sich ein Sympathisantenkreis innerhalb der Linken, der auf dieser Zwiespältigkeit beruht, einer merkwürdigen Gefühlslage bei vielen Sympathisanten, die keineswegs eine bloße Erfindung des 'Systems' oder der reaktionären Gewalt sind, die Zwiespältigkeit besteht darin, daß nur wenige bereit wären, mit vollem Lebensrisiko sich auf diese Strategie einzulassen oder auch nur einen Stein oder gar eine Waffe in die Hand zu nehmen. Es ist eben keine Identifikation, sondern Sympathie in der Weise, daß andere ausagieren, was sie selbst sich nur in ihren Träumen zutrauen."

Und einen Mann, der zwischenzeitlich einen Ministerposten bekleidet hat und der heute im Bundestag sitzt, zitiert Negt mit einem Satz aus dem Jahr 1977:

"Wir können uns aber auch nicht einfach von den Genossen der Stadtguerilla distanzieren, weil wir unter demselben Widerspruch leiden, zwischen Hoffnunsglosigkeit und blindem Aktionismus hin- und herschwenken."

Und zu erwähnen ist in diesem Zusammenhang auch die 'klammheimliche Freude' über die Erschießung des damaligen GBA Buback eines Menschen aus Göttingen, jemand, der der Raf-Politik kritisch gegenüberstand, gleichwohl aber diese 'klammheimliche Freude' empfand.

 

 

 

Wenn ich mir solche Reaktionen bzw. die Haltung vieler Linker zur Raf anschaue - und gerade auch die von Leuten, die den Kampf der Raf politisch falsch fanden - dann scheint ein wesentliches Moment der Gemeinsamkeit in eigenen Ohnmachtserfahrungen zu beruhen. Und genau das, also Ohnmachtserfahrungen, scheinen auch durch die Texte von Menschen, die heute am Aufbau bewaffneter oder militanter Gruppen überlegen.

 

In einem Vortrag, den Carlchristian v. Braunmühl, dem Bruder des von der Raf erschossenen Gerold v. Braunmühl, 1994 auf einem Symposium gehalten hat, befaßt er sich u. a. auch länger mit dieser Problematik der Ohnmacht. Carlchristian v. Braunmühl stellt in dem Zusammenhang die Frage:

"Vielleicht ist es so, daß wenige schießen, weil zu wenige sich gewaltlos einmischen, und zu viele sich darauf beschränken, die Politik ein schmutziges Geschäft zu nennen, sich auf ihre Ellbogen konzentrieren - und weil es an Graswurzeln fehlt."

 

 

 

In meinem Text zur Raf-Geschichte hatte ich selber entlang meiner Biographie ausführlich über diese Erfahrung von Ohnmacht und dem Gefühl der Unveränderbarkeit geschrieben. Dazu gehören für mich einerseits die Erfahrungen meiner Generation in Deutschland der 50er und 60er Jahre.

 

Ich hatte in dem Zusammenhang geschrieben: 'Faschismus, seine Verbrechen und der Krieg (...) waren Tabuthemen und lagen wie eine Glocke aus Dumpfheit, Enge und Schweigen über allem.' Und andererseits die staatlichen, aber auch die Reaktionen der Gesellschaft Ende der 60er Jahre in den 70ern auf Versuche und Ansätze für Veränderungen, sei es in Schülergruppen, bei Vietnam-Demos oder zu den Haftbedingungen der politischen Gefangenen, die immer nur auf Ausgrenzung oder Verfolgung aus waren.

 

 

 

Prof. Horst-Eberhard Richter schreibt in seiner Anmerkung zu meiner Prozeßerklärung:

"Birgit Hogefeld hat die Kampfbegriffe benannt, die der Grundsatzstreit hervorbrachte: Hier Reformismus, Integrations-, auch Karrierewille, Unterwerfung unter das System - dort Putschismus und Militarismus. Sie selbst wandte sich endgültig dem militärischen Flügel zu, aber bedauert im nachhinein das Abreißen der Diskussion und die damals schon einsetzende Selbstisolierung ihrer Fraktion.

Was man psychoanalytisch als paranoide Position benennen würde, kennzeichnet das Grundkonzept derer, die wie sie den bewaffneten Kampf bejahten. Sie spricht von der 'Radikalität des Bruchs und der Negation', von 'ausschließlicher Orientierung unserer Politik an der Negation'. Kritisch schildert sie eine systematische Einengung des Blickfeldes, 'in dem alles zu einem Schwarz-Weiß-Schema zusammengepreßt wurde'. Man nahm nur noch wahr, was in das paranoide Bild paßte: Schießwütige Polizisten, Tötung von Gefangenen, Napalm usw. Ihre Solidarisierung mit der Raf verschaffte Birgit Hogefeld dann genau die auf ihr Denkmuster zugeschnittene persönliche Verfolgungserfahrung: Viele Hausdurchsuchungen, Autokontrollen mit schußbereiten Maschinenpistolen, laufende Observationen."

 

Formulierungen wie 'paranoide Position' gehören nicht zu meiner Begriffswelt - und auch wenn ich H. E. Richters einseitige Zuweisungen für verkürzt halte, geben sie mir Impulse für ein Nachdenken über die Gründe für meine bzw. unsere lange Zeit eingeengte Denkweise und reduzierte Wahrnehmung der Welt.

 

Meiner Meinung nach gehört zum Verständnis dieser Entwicklung als zweite Ebene hinzu, die Beweggründe für die in diesem Textabschnitt - ich bezeichne das hier mal als 'neutral' - beschriebenen staatlichen Reaktionen zu beleuchten. Ich denke, ich kann als Tatsachenbehauptung in den Raum stellen, daß die staatliche Reaktion gegen Linke, gegen Menschen, oft noch Jugendliche, die 68 bis heute für Veränderungen eingetreten sind, in vielen Fällen unverhältnismäßig waren und sind. Tote Gefangene, kriegsmäßige Einsätze in Brokdorf oder Wackersdorf - und das zieht sich alles bis in die Gegenwart: ein Aufgebot unzähliger Hundertschaften Polizei gegen ein Punker-Treffen oder die alle Relationen negierende Verfolgung von Göttinger Antifaschisten.

 

 

 

Negt versucht in seinem Buch solch typisch deutsche Verfolgungs- und Vernichtungsfeldzüge historisch zu erklären:

"Weil es in Deutschland im geschichtlichen Traditionszusammenhang nie die Erfahrung einer gelungenen Revolution gegeben hat, sind stets bereits Unruheherde, zivile Unbotmäßigkeiten, Sitzblockaden, Lichterketten, revolutionäre Gedanken so verfolgt worden, als wären es realitätsgerechte Umsturzversuche."

 

Für die 'auf mein Denkmuster zugeschnittene persönliche Verfolgungserfahrung' (H. E. Richter) brauchte es in diesem Land nicht viel. Da reichten anfangs Sprühparolen zu einem Hungerstreik aus, um tagelanger Observation durch die politische Polizei ausgesetzt zu sein.

 

Ich finde, es sagt einiges über einen Staat aus, wenn aufgrund von Parolen und Flugblättern Schüler und Schülerinnen staatlicher Verfolgung unterworfen werden.

 

Auf der anderen Seite waren es natürlich mehr die harten staatlichen Reaktionen wie Isolationsfolter, Erschießungen oder die Ermordung von Holger Meins, die mich und andere radikalisiert haben.

 

Ich hatte in dem Zusammenhang auch über unseren verkürzten Faschismusbegriff geredet - allerdings hat gerade auch diese Sorte staatlicher Gewalt eine solche Verkürzung leicht gemacht, denn sie hat Vergleiche und Parallelen geradezu aufgedrängt, gerade auch bei Menschen, die damals noch sehr jung waren.

 

Negt schreibt dazu:

"Im Operieren mit dem globalen Faschismusvorwurf steckt ein Zentralproblem der Linken in dieser Zeit. Die Leichtfertigkeit, mit der unangenehme Entwicklungen, staatliche Eingriffe, Rechtsentscheidungen das Entwertungsetikett 'faschistische' aufgedrückt bekamen, widersprach dem wissenschaftlichen Selbstanspruch, historisch geprägte Gesellschaftsformen nicht miteinander zu verwechseln."

 

Auch heute wird in Teilen der radikalen Linken wieder mit genau diesem verkürzt-falschen Faschismusbegriff operiert.

 

 

 

Meiner Meinung nach ist es aus den unterschiedlichsten Gründen an der Zeit, sich mit der Geschichte der Linken nach 68 zu beschäftigen. Es gibt mittlerweile einige interessante Ansätze in diese Richtung wie das genannte Buch von Oskar Negt oder jetzt die Dutschke-Biographie von Gretchen Dutschke. Zu ihr hieß es in einer Besprechung in der Taz: "Für jüngere Leser wird es (dadurch) zu einer wahren Zeitmaschine, die die Reise in eine bizarre, untergegangene Welt ermöglicht."

 

Und genau das ist wohl auch wichtig, denn ohne Einfühlung bzw. Neu-Einfühlung in diese Zeit wird ein Verstehen nicht möglich sein. Aus heutiger Sicht erscheint vieles, was in den 60er oder 70er Jahren die revolutionäre Linke rund um den Erdball bewegte, wie aus einer anderen Welt, und das ist es ja auch.

 

Neulich habe ich nach langer Zeit zum ersten Mal wieder in Frantz Fanons Buch 'Die Verdammten dieser Erde' (vor 20 Jahren in jedem linken Bücherregal anzutreffen) gelesen. Ich wollte mir nochmal die Passagen zur Frage nach den individuellen Befreiungsmomenten, die dem bewaffneten Kampf in der damaligen Zeit zugeschrieben worden sind, anschauen.

 

Dabei bin ich auf folgende Textstelle gestoßen:

"Wenn die Bauern zu den Waffen greifen, verbleichen die alten Mythen, die Tabus werden eins nach dem anderen umgestülpt: die Waffe des Kämpfers ist seine Menschlichkeit. Denn in der ersten Zeit des Aufstands muß getötet werden: einen Europäer erschlagen heißt zwei Fliegen auf einmal treffen, nämlich gleichzeitig einen Unterdrücker und einen Unterdrückten aus der Welt schaffen. Was übrigbleibt ist ein toter Mensch und ein freier Mensch."

 

Der Autor dieser Sätze aus dem Vorwort zu Fanons Buch ist Jean-Paul Sartre, er hat sie 1962 geschrieben.

 

Die darin von Sartre vertretene Sichtweise und die auf den einzelnen Menschen bezogene Befreiungsfunktion von antikolonialen Kriegen spiegelt eine weitverbreitete Haltung der revolutionären Bewegungen in den 60er und 70er Jahren wider. Für Gruppen wie die Raf war sie in Übertragung auf die Verhältnisse hier Teil des politisch-moralischen Fundaments für den eigenen Kampf. Auch daran wird deutlich, es handelt sich um Gedanken bzw. eine Denkweise aus einer vergangenen Epoche - und daß die Raf diese und andere Ideen und politischen Bestimmungen bis Anfang der 90er Jahre nicht reflektiert und revidiert hat, zeigt vor allem eins: wir sind alles in allem sehr deutsch.

 

Die weltweiten Erfahrungen haben zwischenzeitlich gelehrt, daß diese Frage sich ganz anders - umgekehrt - stellt. Auch Befreiungskriege prägen das Denken und Fühlen der daran beteiligten Menschen nachhaltig und für viele unumkehrbar - aber das keineswegs bloß in einer positiven Richtung. Auch da stumpfen die Menschen ab und verrohen, und gerade während langer Kriegsperioden werden Verhaltens- und v. a. Konfliktlösungsmuster eingeübt, die mit den ursprünglichen Gesellschaftsutopien oft nur wenig oder gar nichts zu tun haben. Ein Resultat daraus zeigt sich fast überall da, wo Befreiungsbewegungen nach langem Kampf an die Macht gekommen sind, in den Schwierigkeiten beim Aufbau demokratischer Zivilgesellschaften.

 

 

 

Viele der mir wichtig erscheinenden Fragen habe ich hier und in früheren Texten nur anreißen können und nur weniges ausführlicher behandelt. Mir scheint sicher, daß aus der Geschichte (auch aus der der Raf) eine Menge Erkenntnisse gezogen werden können, die für zukünftige politische Bestimmungen, aber auch, um die Wiederholung alter Fehler zu vermeiden, Orientierungshilfen sein können.

 

Der Kampf, wie ihn die Raf Anfang der 70er Jahre begonnen hat, gehört einer vergangenen Epoche an. Heute denke ich, daß eine Selbstreflexion allerspätestens 77 hätte einsetzen müssen, anstatt in eine Auseinandersetzung Raf - Staat zu treiben, bei der die Gesellschaft, aber auch der Großteil der Linken außen vor stand.

 

Deshalb finde ich die Aufforderung von Helmut Pohl an die Illegalen, ihre Auflösung als Raf zu erklären, richtig - dieser Schritt ist lange überfällig.

 

 

 

Nach unserer Zäsur-Erklärung vom April 92 sah sich die Politik ganz offensichtlich durch die von unserer Seite aus zurückgenommene Eskalation von jedem Handlungszwang befreit und überließ das Umgehen mit der Raf bzw. den Gefangenen aus diesem Zusammenhang den Verfolgungsbehörden und der Staatsschutzjustiz.

 

Welche Richtung und welche Interessen diese Behörden verfolgen, ist deutlich. Ganz offensichtlich soll jede politische Auseinandersetzung mit unserer Geschichte verhindert werden, und jeder dahingehende Versuch wird blockiert, wo immer das möglich ist. Daran hat sich auch nach unserer Deeskalationserklärung nichts geändert, denn viele, allen voran dieser 'Braune-Socken-Verein' aus Karlsruhe, wollen in der alten Konfrontationsstellung verharren und sie möglichst wiederbeleben.

 

 

 

Lange Jahre, v. a. Ende der 80er, wurden Initiativen der damaligen Gefangenengruppe für eine Diskussion untereinander und eine öffentliche Diskussion immer wieder auch mit der Begründung verhindert, der Staat könne schließlich keine öffentliche Propagierung des bewaffneten Kampfes zulassen.

 

Wie Helmut Pohl nun vor einigen Wochen durch die Veröffentichung älterer Briefe deutlich gemacht hat, gab es seit 87 zumindest von einem Teil der Gefangenen Überlegungen in Richtung einer Zäsur. So wie er heute darüber redet, kommt mir das ziemlich glatt und schöngefärbt vor, ich glaube nicht, daß das alles für ihn und andere damals so eindeutig war, wie er das heute darstellt (dagegen sprechen auch Texte und Interviews von ihm aus der Zeit nach dem Hungerstreik 89).

 

Trotzdem stimmt aber, daß es die Überlegungen in Richtung eines Einschnitts gegeben hat und daß die Staatsschutzbehörden davon Kenntnis hatten.

 

Warum also wurde staatlicherseits alles daran gesetzt, die Isolierung der Gefangenen untereinander weiterhin aufrechtzuerhalten, mit dem voraussehbaren Ergebnis, daß sie als Gefangenengruppe (und das war ja ihr Selbstverständnis) solche Gedanken nicht weiterentwickeln und in eine öffentliche Diskussion und so auch eine Diskussion mit der Raf einbringen konnten?

 

 

 

Ich habe mich lange gegen den Gedanken gesträubt, daß dieser Staat, zumindest der reaktionäre Teil seines Sicherheits- und Justizapparats Gruppen wie die Raf braucht, um aus deren Bekämpfung für sich selber Sinn und Identität zu ziehen. Doch gerade aus dieser Blockierung einer gemeinsamen wie auch der öffentlichen Diskussion der Raf-Gefangenen Ende der 80er Jahre, aber auch aus den Erfahrungen, die ich seit meiner Verhaftung gemacht habe, bleibt eigentlich keine andere Interpretationsmöglichkeit.

 

Das geht schon sofort nach der Verhaftung bei Menschen, die aus dem Raf-Zusammenhang kommen, mit der Isolationshaft los. Über Isolationshaft, wie das ist und wirkt und wie mensch sich darin fühlt, habe ich hier bereits ausführlich geredet. Isolationshaft ist eine Form von Folter, die langfristig auf die Zerstörung von Gefangenen zielt - aber es gibt da noch einen weiteren Aspekt. Gerade für Menschen, die aus einer politischen Gruppe wie der Raf kommen, in der eine enge und dogmatische Denk- und Sichtweise vorgeherrscht hat, ist sie die hundertprozentige Bestätigung dieses reduzierten Weltbilds. Ein Merkmal, das sich durch unsere Geschichte gezogen hat, war eine eingeengte Wahrnehmung der Welt, ein Schwarz-weiß-Schema, das fast alle Widersprüchlichkeiten und gegenläufige Bewegungen ausgeblendet und negiert hat und in dem die Menschheit in 'Mensch oder Schwein' aufgeteilt wurde.

 

Diese Sorte Haftbedingungen: Totalisolation (bei mir knapp mehr als ein Jahr, bei anderen oft viele Jahre) schafft nun tatsächlich eine Erfahrungswelt, eine Alltagswirklichkeit, die nun erstmals im Leben real mit dem gewohnten Schwarz-weiß-Schema in Deckung zu bringen ist, ohne daß man sich dafür Verknotungen ins Hirn denken muß. Das Leben unter diesen Bedingungen ist ohne Facetten und Grautöne, da herrscht schwarz-weiß oder eben Freund-Feind-Schema als permanente Alltagserfahrung vor.

 

 

 

Ich denke, daß dieses Isolationshaft-Programm gerade gegen uns so exzessiv durchgezogen wurde, hängt nicht nur mit Rachebedürfnissen der Bundesanwaltschaft oder dem Versuch, uns zu brechen und Aussagen zu erpressen, zusammen. Es soll auch ein Ausbrechen aus alten Denkstrukturen verhindert werden, dessen bin ich mir mittlerweile sicher; und auch die Zensurbedingungen lassen keine anderen Rückschlüsse zu.

 

Hunderte Anhaltebeschlüsse, mit denen mir Texte, Bücher oder Broschüren zu den unterschiedlichsten Themen verweigert werden, habe ich mittlerweile - Literatur-, Musik- oder Theaterzeitschriften, Texte von Hausbesetzern, Umwelt- oder kirchlichen Gruppen - all das bekomme ich nicht, denn damit soll ich mich nicht auseinandersetzen können.

 

Die Zensur beschränkt sich nicht - wie manche/r vielleicht denken mag - auf Texte mit linksradikalen Inhalten, eher habe ich den Eindruck, daß das Gegenteil der Fall ist. Vor einigen Monaten wurden vom Senat Interviews eines katholischen Bischofs, in denen er sich mit der 'Terrorismus-Thematik' befaßt, aus einem Brief beschlagnahmt - der Mann ist gewiß kein Linksradikaler und mit Sicherheit auch kein Raf-Sympathisant.

 

Und den oben erwähnten Text von Carlchristian von Braunmühl mußte ich mir auf inoffiziellen Wegen besorgen. Ende 1994 hatte ich von der Existenz dieses Textes gehört und wollte ihn lesen. Da Fotokopien laut einem bis heute gegen mich bestehenden Haftstatut nicht weitergeleitet werden (die, die mich interessieren könnten, werden beschlagnahmt, andere nicht), bat ich Rechtsanwältin Seifert, mir den Text über die Verteidigerpost zu schicken. Doch in meinem Fall wird - wie bei allen 129a-Gefangenen - auch die Verteidigerpost kontrolliert und zensiert. Der damals zuständige Kontrollrichter am Amtsgericht Frankfurt schloß den Text von der Weiterleitung aus, mit der Begründung: es sei nicht ersichtlich, warum es sich bei diesem Text um Verteidigerpost handelt, ich hätte doch überhaupt keine v. Braunmühl-Mordanklage.

 

Oder eine Anfrage, ob ich etwas zu einem Podiumsgespräch zum Todestag von Ulrike Meinhof schreiben wolle - eine auch in nicht-linken Kreisen registrierte Veranstaltung in Berlin. Das wäre natürlich mein Thema gewesen: Diskussion über die Raf-Geschichte. Der Senat hat diese Anfrage (ein Zwei-Seiten-Briefchen) erst nach 4 Monaten ausgehändigt. Da war die Veranstaltung natürlich lange vorbei.

 

Bei all dem, Haftbedingungen, Zensur, Ausgrenzung bestimmter Themen beim Besuch (da wird vorher angekündigt, daß das Ansprechen der Themen Raf, Prozeß und Bad Kleinen zum sofortigen Abbruch führt), ist ganz offensichtlich, es ist dazu bestimmt, ein Ausbrechen aus gewohnten, oft engen Denkstrukturen zu verhindern und so eben auch eine Reflexion der eigenen Geschichte.

 

Und, das möchte ich hier auch mal sagen: es ist für einen Menschen mit meiner Biographie sicherlich sowieso nicht einfach, sich seiner Geschichte zu nähern und all die Fragen, die dabei auf einen zukommen, zuzulassen. Ich jedenfalls empfinde das häufig als ziemlich schwierig und muß dabei viele innere Widerstände überwinden. Und wenn dann die äußeren Lebensumstände so organisiert werden, daß sie jede Diskussion und Auseinandersetzung soweit als möglich blockieren, um einem die Anregung und Reibung mit und durch die Gedanken anderer fast vollständig zu nehmen, und gleichzeitig auch so gestaltet werden, daß man immer wieder in die bekannten Konfrontationsmuster gezwungen wird und damit auch oft in die eigenen bekannten Verhaltensweisen - dann macht das das ganze nicht leichter.

 

 

 

Vor einiger Zeit habe ich dazu in einem Brief geschrieben:

"Meine gesamte Situation ist recht schwierig: die Welt, aus der ich komme, der fühle ich mich nicht mehr zugehörig, und so bin ich irgendwo im Niemandsland auf der Suche nach, ja was eigentlich? Und das in einer Situation, wo ich in Kürze ein Lebenslänglich-Urteil bekomme, also auf ungewisse Zeit in dieser reduzierten und entmündigenden Knastwelt leben muß, die gerade von den Bereichen und Teilen der Gesellschaft(srealität), die mich am meisten interessieren, weitgehend abgeschottet ist. Das ganze kommt mir oft absurd vor: lange Jahre meines Lebens fehlte mir die innere Bereitschaft, mich mit verschiedensten gesellschaftlichen Entwicklungen auseinanderzusetzen und darauf einzulassen, und heute, wo das anders ist und ich selber gern mit den unterschiedlichsten Menschen reden und sie kennenlernen würde, wird das durch die äußeren Bedingungen fast vollständig verhindert."

 

Bundesanwaltschaft und Teile der Justiz- und Sicherheitsapparate wollen die alten Konfrontationslinien auf Biegen und Brechen aufrechterhalten und dafür soll und muß jede öffentliche Auseinandersetzung um die Raf und die Gefangenen aus der Raf verhindert werden. Dafür - nicht nur, aber auch - wurde die Anklage gegen mich mittels Manipulationen um die Mordanklage wegen der Airbase-Aktion und der Erschießung des US-Soldaten Edward Pimental erweitert, denn mein Name sollte nicht weiter mit Bad Kleinen oder der Zäsur-Entscheidung der Raf in Verbindung gebracht werden, sondern genau mit den Aktionen, die selbst in der Linken auf massivste Kritik und Verurteilung gestoßen waren. Ich habe diese nachgeschobene Pimental-Anklage immer in diesem Kontext gesehen - über sie sollte versucht werden, mich aus einer öffentlichen Diskussion auszugrenzen, zumal ja bekannt war, daß ich mich seit meiner Verhaftung darum bemüht habe, Gedanken und Reflexionen über die Raf-Geschichte öffentlich zu machen. Für ein Lebenslänglich-Urteil wäre diese Anklage-Erweiterung zumindest bei diesem Senat wohl nicht nötig gewesen.

 

Vor Öffentlichkeit und einer öffentlichen Auseinandersetzung herrscht offensichtlich die größte Angst - anders sind auch diese irrsinnig begründeten Beschlüsse zur Ablehnung von Interviews nicht zu erklären. Da wird seitens des Senats immer wieder und wider besseres Wissen behauptet, ich würde den bewaffneten Kampf propagieren - doch meine Texte sind dahingehend eindeutig und lassen keinen Spielraum für andere Interpretationen offen.

 

 

 

Gegen die Beschlüsse des OLG zur Verweigerung von Interviews hat mein Verteidiger eine Verfassungsbeschwerde gemacht - sie wurde zurückgewiesen. In der Begründung des BVG vom 31. August 1996 heißt es dazu:

"Das OLG knüpft dies (die Verweigerung einer Interviewgenehmigung) an die Erwägung, daß die Beschwerdeführerin auch weiterhin als führendes Mitglied der Roten Armee Fraktion (RAF) zu betrachten sei und sich - ungeachtet ihrer Kritik an der Strategie der Vereinigung und dem Stil ihrer Führung in bezug auf bestimmte Vorfälle - nach ihrem bisherigen Erklärungsverhalten grundsätzlich auch weiterhin zu ihren Zielen bekennt. Mangels anderer Anhaltspunkte sei daher davon auszugehen, daß die Beschwerdeführerin auch bei Interviews und mit Hilfe von Filmaufnahmen diese Haltung bekunden und damit erneut den Tatbestand des [[section]] 129a StGB verwirklichen werde."

und weiter:

Die Beschwerdeführerin kann sich demgegenüber nicht auf Art. 5 Abs 1 GG berufen, Straftaten genießen keinen Grundrechtsschutz."

 

Das in diesem Land angebliche Grundrecht auf freie Meinungsäußerung nach Art. 5 GG gilt für mich also nicht, denn das, was ich sage, erfüllt einen Straftatbestand. Das BVG erkennt in seinem Beschluß zwar, daß ich die Strategie der Raf heute kritisiere, aber ich würde weiterhin an den Zielen festhalten. Es sind also die Ziele, die aus der Sicht des Obersten Gerichts dieses Landes den Straftatbestand des [[section]] 129a StGB erfüllen - und nicht etwa die Propagierung der Strategie des bewaffneten Kampfes.

 

Und in der Tat ist es ja auch so, daß das, was ich in meinen Erklärungen hier vor Gericht an Zielen formuliert habe, sich inhaltlich mit denen der Raf-Schriften deckt.

 

Schon in den 70er Jahren war in Raf-Texten, da wo es um die Formulierung allgemeiner Zielvorstellungen ging, von 'Befreiung der Menschen' die Rede, oder im ersten Satz unserer Zäsur-Erklärung vom April 92 heißt es beispielsweise: "An alle, die auf der Suche nach Wegen sind, wie menschenwürdiges Leben hier und weltweit an ganz konkreten Fragen organisiert und durchgesetzt werden kann." Es handelt sich also um Ziele, die in Begriffen und Kurzformeln wie: 'Befreiung', 'gerechtere Welt', 'gegen Ausplünderung ganzer Kontinente und für eine gerechte Verteilung des Reichtums' oder 'für ein menschenwürdiges Leben' gefaßt worden sind.

 

Ja, ich habe in meinen Texten und Briefen keinen Zweifel daran gelassen, daß es diese Ziele von einer menschlicheren und gerechteren Welt sind, denen ich mich weiterhin verbunden fühle. Und wenn die Formulierung und das Aussprechen solcher Ziele in diesem Land einen Straftatbestand nach [[section]] 129a StGB darstellt, dann werde ich sicherlich auch zukünftig eine Straftat nach der anderen begehen.

 

 

 

Aber so ist dieser Beschluß wohl gar nicht gemeint. Es wäre heute wohl kaum denkbar, daß das BVG eine solche Entscheidung bei einem Menschen trifft, der nicht der Raf-Mitgliedschaft angeklagt ist. Für mich ist diese BVG-Entscheidung ein typisches Lex-Raf-Beispiel. Es sagt viel über die politische Situation und die politische Kultur in diesem Land aus, daß auch ein Gericht wie das BVG 1996 solche Beschlüsse faßt und ganz offensichtlich nicht den Mut findet, neue Signale im Umgang mit Gefangenen aus der Raf zu setzen. Signale, die die Tür für eine Auseinandersetzung und Diskussion um die Raf-Geschichte hätten aufmachen können.

 

Den reaktionären Teilen der Staatsschutz- und Justizapparate bleibt also weiterhin freie Hand - auch für das, was ich oben als Wiederbelebungsversuch alter Konfrontationsstellungen bezeichnet habe. Zu diesen Versuchen, die Geschichte zurückzudrehen, gehört für mich z. B., daß in den letzten Jahren wieder Menschen in die Illegalität getrieben wurden, und zwar systematisch, mittels Haftbefehlen wegen der Zeitschrift 'Radikal' oder den Ermittlungen wegen der Weiterstadt-Aktion, wo ja gegen viele Leute Beugehaft angeordnet war und ein Haftbefehl ergangen ist. Diese ganze absurde Konstruktion, Steinmetz sei an dieser Aktion beteiligt gewesen und in den Koffern seines Motorrads sei der Sprengstoff transportiert worden, hatte von Anfang an die Kriminalisierung von Menschen aus linksradikalen Zusammenhängen zum Ziel.

 

Aber das scheint ja aus den unterschiedlichsten Gründen niemand hören zu wollen - die einen nicht, weil sie in Steinmetz den Superagenten sehen wollen, und andere nicht, weil sie von dem Gedanken einer von Geheimdiensten gesteuerten Raf völlig fasziniert sind.

 

 

 

Ich finde, man sollte eins nicht unterschätzen, bei Behörden wie der Bundesanwaltschaft gibt es zu bestimmten Abläufen und Entwicklungen mehr Wissen, als allgemein bekannt ist.

 

Zu diesem Wissen gehört u. a., daß es in der Vergangenheit immer Leute gab, die aus den verschiedensten Gründen in die Illegalität gegangen sind - manchmal auch getrieben wurden - und die sich aus dieser Lebenssituation dann irgendwann der Raf angeschlossen haben. Es gibt sicher keinen Automatismus, der besagt, daß der Weg in die Illegalität automatisch zur Raf führt - und es gibt sicher mehr Menschen, die diesen Weg nicht gegangen sind, als andere. Gerade in den 80er Jahren gingen ja viele in die Illegalität, längst nicht alle gingen auch zur Raf. Es gab damals von der Raf getrennte eigenständige Strukturen und ganz unterschiedliche Formen von Praxis - von der Herstellung einer Zeitung und Organisierung von Diskussionen bis zu militanten Aktionen. Aber für manche, wie z. B. für Wolfgang Grams und mich führte er zur Raf.

 

Hier in diesem Verfahren wurde ja immer wieder behauptet, Wolfgang Grams und ich seien im Februar 84 in die Illegalität gegangen, um uns in der Raf zu organisieren - das stimmt nicht und das ist auch den zuständigen Behörden seit damals bekannt. Es ging um ein geklautes Auto, das aufgeflogen war, ein Schwachsinnsprojekt, und es hatte mit der Raf nicht das geringste zu tun. Für Leute wie uns, aus unseren politischen Zusammenhängen, hätte eine solche Geschichte natürlich sofort zu einer hohen Knaststrafe geführt - wie das eben gegen Linke hier in diesem Land üblich ist, und um uns dem zu entziehen, sind wir damals in die Illegalität gegangen.

 

Das war also unsere Situation im Februar 84 - Illegalität, ohne genaue Vorstellungen und ohne zu wissen, wie man ein solches Leben organisiert. In dieser Situation trifft man nicht von einem auf den anderen Tag eine Lebensentscheidung wie die, zur Raf zu gehen. Wann ich diese Entscheidung für mich getroffen habe, also ab wann ich Raf-Mitglied gewesen bin, das weiß von allen, die hier in diesem Saal sitzen, nur ich - im Februar 84 war es jedenfalls nicht.

 

 

 

Interessant ist das alles auch nur im Hinblick auf das aktuelle Vorgehen bestimmter Behörden, denen solche Abläufe bekannt sind. Denn Wolfgang Grams und ich waren ja auch nicht die einzigen in der Raf-Geschichte, bei denen der Weg zur Raf darüber gelaufen ist, sich der Verfolgung oder einer Knaststrafe zu entziehen, und die in der Illegalität die Entscheidung getroffen haben, zur Raf zu gehen.

 

Und genau diesen Mechanismus scheinen die staatlichen Verfolgungsbehörden heute gezielt einzusetzen, um Menschen in diese Situation, in ein Leben in der Illegalität, zu treiben - wohl in der Hoffnung, daß sich auf diesem Weg wieder bewaffnete Gruppen konstituieren. Auch um die Wiederholung solcher Abläufe zu verhindern, erscheint mir der Versuch einer öffentlichen Auseinandersetzung mit der Raf-Geschichte so wichtig.

 

Gegen diese Auseinandersetzung gibt es staatlicherseits die verschiedensten Widerstände, denn die Politik überläßt das Feld den Verfolgungsbehörden und einer Rachejustiz - die da ihre eigenen Interessen und Ziel verfolgen -, und die das 'Problem Raf' bzw. Gefangene aus der Raf auf justizieller Ebene behandeln und abarbeiten wollen und sollen.

 

Doch die Raf - und das zeigt auch die mehr als 20-jährige Kontinuität dieses Kampfes - war immer und in erster Linie die Reaktion von Menschen auf die hier herrschenden Verhältnisse. Bei allen Verirrungen und allen Fehlern, wir waren kein krimineller Haufen, der losgezogen ist, um irgendwelche Besitztümer anzuhäufen oder ähnliches. Und wer heute versucht, der Raf-Thematik auf dieser Ebene zu begegnen, der hat dafür seine eigenen Motive - und die dürften, wie es in diesem Land gute alte Tradition ist, zuallererst im Bereich der Verdrängung zu suchen sein.

 

 

 

Sich mit der Raf-Geschichte auseinanderzusetzen, heißt zum einen, sich mit dieser Gesellschaft und den hier herrschenden Denk- und Wertmustern auseinanderzusetzen. Und es heißt auch eine Auseinandersetzung mit der Vergangenheit dieses Landes, denn ohne NS-Faschismus, die Tabuisierung und Verdrängungen nach 45 und diesem daraus resultierenden massiven Abgrenzungsbedürfnis einer ganzen Generation gegen diese Eltern hätte es die Raf in dieser Form und über diese Zeitspanne nie geben können. Man braucht sich heute doch bloß die Reaktionen und die Abwehr auf das Goldhagen-Buch anzuschauen, dann weiß man auch, warum es eine Auseinandersetzung mit der Raf-Geschichte nicht geben soll.

 

 

 

Nicht nur die Irrungen auf unsrer Seite, unsere Bereitschaft zur Eskalation und die Verselbständigung des Militärischen haben eine sehr viel engere Verbindung zur Geschichte dieses Landes, als uns, oder zumindest mir, das lange bewußt war.

 

Aber auch diese völlig überzogenen Reaktionen auf staatlicher Seite, Ausnahmezustand 77, das öffentliche Nachdenken von Politikern über standrechtliche Erschießungen von Gefangenen, um Druck auf die Schleyer-Entführer auszuüben, Killfahndung und Morde an Gefangenen, haben diese geschichtlichen Wurzeln.

 

 

 

Es brauchte da schon zwei Seiten, die gut zueinander paßten, damit diese Eskalationsspirale so funktionieren konnte, wie sie funktioniert hat - das hat nicht die Raf allein zu verantworten.

 

Über diese Zusammenhänge, dieses Zusammenspiel, gibt es heute ja wohl bei einigen Leuten, die in den 70er Jahren in verantwortlichen Positionen auf Staatsseite wichtige Entscheidungen in bezug auf die Raf bzw. auf Raf-Gefangene getroffen haben, durchaus ein Bewußtsein. Es wäre sicher nicht schlecht, wenn sie das über Gespräche im privaten Kreis hinaus auch in eine öffentliche Debatte über diese Zeit einbringen würden.

 

 

 

Ich glaube zwar auch nicht, daß eine Auseinandersetzung über all diese Fragen heute auf allzu breites Interesse stößt, aber es gibt Menschen, die diese Diskussion führen wollen, und es gibt viele und die unterschiedlichsten Gründe dafür.

 

Eine wesentliche Voraussetzung dafür ist staatlicherseits ein anderes Umgehen mit uns und unserer Geschichte und dafür braucht es Signale in diese Richtung, die nur von der Politik kommen können.

 

Birgit Hogefeld

 

 


Beiträge zum Buch: Versuche, die Geschichte der RAF zu verstehen (s. Info Nr. 13)

 

Die Diagnose des Übervaters: Entgegnung auf Horst Eberhard Richter

 

Im Juni 1996 erschien im Psychosozial-Verlag das Buch "Versuche, die Geschichte der RAF zu verstehen. Das Beispiel Birgit Hogefeld."

In diesem Buch befinden sich unter anderem zwei Beiträge des Psychoanalytikers Horst Eberhard Richter und zwei Birgit Hogefelds.

Die eine Prozeßerklärung befasst sich mit Isolationshaft, die andere mit der Geschichte der RAF.

9 Jahre lang war Birgit Hogefeld Mitglied der RAF, über 20 Jahre, schreibt sie, ist ihr Leben aber eng mit dieser Gruppe verbunden. Daher übernimmt sie in ihrer Prozeß-erklärung Verantwortung für die Politik der RAF weit über den Zeitraum ihrer Mitgliedschaft hinaus, bis in die 70er Jahre hinein.

Birgits Prozeßerklärung ist sehr selbstkritisch, und, da sie auch auf die verschiedenen Etappen ihrer Politisierung eingeht, sehr persönlich.

An dieser Prozesserklärung zieht sich nun der Artikel von Horst Eberhard Richter hoch.

Einen kürzeren Beitrag stellt Horst Eberhard Richter Birgits zentraler Erklärung "Zur Geschichte der RAF" voran und analysiert diese Erklärung in einem zweiten ausführlichen Text.

 

Für uns war die Politik der RAF über Jahre Teil unserer politischen Auseinandersetzungen. Wenn auch auf anderer Ebene und im Konkreten anders, können wir doch viele der von Birgit Hogefeld angesprochenen Erfahrungen nachvollziehen bzw. erkennen uns darin wieder.

Deshalb denken wir, daß es notwendig ist, auf die "Anmerkungen" Horst Eberhard Richters, der meint, die Arbeit der Psychologen des Staatsschutzes, des BKA und des VS machen zu müssen, einzugehen.

 

Horst Eberhard Richter galt vor allem in den 70er Jahren als einer, der als Arzt und Psychoanalytiker mit seinen Schriften und Aktivitäten ein politisches Engagement dokumentiert und die Psychoanalyse als Instrument sozialer Einmischung wieder populär gemacht hat. Davon bleibt in seinem Textkommentar "20 Jahre in der RAF" nur ein fader Geschmack angepaßter Ideologie zurück.

Lautete der Untertitel seines 1972 erschienen Buches "Die Gruppe" noch: "Hoffnung auf einen neuen Weg, sich selbst und andere zu befreien", hat er bei dem Versuch, die RAF und insbesondere Birgit Hogefeld zu analysieren, kräftig daneben gegriffen.

Schon in der Einleitung zu Birgits Erklärung maßt er sich an, als Arzt und Psychoanalytiker die Erklärung zu analysieren und dann eine Diagnose zu stellen.

"Indessen läßt der Bericht den Versuch der Autorin spüren, über die theoretische Auseinandersetzung ihre Identität als individuelle Person zurückzugewinnen" (H.E.Richter: S.16).

Dieser kurzen und wertenden Charakterisierung von Birgits Prozeßerklärung liegt die offene Unterstellung zugrunde, daß der Eintritt in die RAF gleichbedeutend mit der Aufgabe der Identität gewesen sein muß.

Dagegen stehen gerade die Gefangenen der RAF mit ihren Isolations- und Sonderhaftbedingungen und ihrem jahrelangen Kampf für Menschen mit einer starken persönlichen Identität, ohne die sie diese ganzen unmenschlichen Bedingungen überhaupt nicht ausgehalten hätten.

Auch die Offenheit und Selbstkritik von Birgit, die in ihrer Erklärung immer wieder deutlich werden, zeugen ebenfalls von einer starken persönlichen und politischen Identität, ohne die diese Erklärung überhaupt nicht denkbar wäre.

 

Was spricht für eine unglaubliche Arroganz aus der Tatsache, daß Horst Eberhard Richter Birgit mal so kurz vom Schreibtisch aus ihre persönliche Identität abspricht!

H.E.Richter attestiert der RAF dann weiter "sektiererischen Realitätsverlust", was er noch steigern wird mit der Gleichsetzung der RAF mit einer Sektenkultur.

Es drängt sich die Frage auf, warum die Prozeßerklärung von Birgit dafür herhalten muß, H.E. Richters eigenes entpolitisiertes Weltbild plausibel erscheinen zu lassen?

Richter geht es weder um Birgit noch um die RAF, sondern darum, sein eigenes Politikverständnis zu verkaufen: soziales Engagement ist legitim, solange es im Rahmen der bestehenden Ordnung bleibt und diese nicht grundsätzlich in Frage stellt. Für politische Veränderungen zu kämpfen, lohnt sich überhaupt nicht, für alle sonstigen Probleme leiste sich jede/r den eigenen Psychoanalytiker.

Richter vereinnahmt Birgit für seine Zwecke, von einer echten Auseinandersetzung kann somit keine Rede sein.

Birgits Aussagen werden von H.E. Richter nur benutzt und verzerrt und auf widerwärtige Weise in den Dienst der Pathologisierung der RAF gestellt.

Diese Pathologisierung der RAF scheint dann auch das eigentliche Anliegen von H.E. Richter zu sein, wie sich beim genaueren Lesen herausstellt.

Legitimiert durch sein Renommee im Bereich der Psychoanalyse, Gruppendynamik und Friedensforschung analysiert er das "Phänomen RAF" zu seinen Zwecken: Aus denen, die "ursprünglich keine verrückten Sonderlingen waren" (S.16), werden schnell Menschen mit "paranoider Position", wie er das Grundkonzept der RAF später bezeichnen wird.

Er wird der RAF und insbesondere Birgit Hogefeld eine "Opfer-Identifikation", eine "sado-masochistisch schematisierte Schwarz-Weiß Vision", einen megalomanen (=größenwahnsinnigen) Aktionismus, eine psychopathologisch klassische Flucht in Größen- und Allmachtsphantasien" diagnostizieren.

Was beabsichtigt H.E.Richter, indem er die RAF pathologisiert?

Der offensichtlich bestehende Erklärungsbedarf für die RAF muss nicht mehr in den politischen Verhältnissen gesucht werden, denn die sind, glaubt man/frau der Argumentationslinie eines H.E.Richter, sowieso nicht zu ändern. Einer der angetreten war, Psychoanalyse und Politik zu verbinden, fällt nun wieder zurück: alles wird individualisiert und entpolitisiert!

Reale gesellschaftliche Unterdrückung und der legitime Kampf dagegen für eine weltweit gerechtere soziale Gesellschaft haben keinen Platz in dieser psychoanalytisch verzerrten Denkweise und sind und bleiben doch der eigentliche Auslöser für die Entstehung der RAF wie für alle anderen sozialen Kämpfe.

 

Zusammenfassend stellen wir fest: Richter benutzt Birgits Erklärung, um sein entpolitisiertes Modell durchzubringen. Dem Anspruch einer Auseinandersetzung wird er nicht gerecht. Seine "Anmerkungen" sind denkbar ungeeignet, die Geschichte der RAF zu verstehen. Sein Standpunkt ist der des Übervaters: Vom Kampf eines Menschen um seine Geschichte und dem Willen, die Erfahrungen für neue Kämpfe nutzbar zu machen, ewig weit entfernt auf einem ruhigen Plätzchen auf der Seite der Etablierten und Mächtigen. N.N. Berlin

 

 

Anmerkungen zu einer "Entgegnung auf Horst-Eberhard Richter"

 

In einem Beitrag zu dem Buch "Versuche, die Geschichte der RAF zu verstehen. Das Beispiel Birgit Hogefeld" weist Horst-Eberhard Richter darauf hin, daß "noch immer hierzulande ... ein Tabu gepflegt (wird), das eine komplette und dauerhafte Ausgrenzung der RAF-Mitglieder verlangt, sofern diese ihre Geschichte nicht als Ausgeburt purer Destruktivität verwerfen. Wer diese Menschen verstehen und ihr Bemühen, sich selbst zu verstehen, der Öffentlichkeit zugänglich machen will, setzt sich sonderbarerweise dem Verdacht aus, er billige ihre Taten."

 

Das Gegenstück zu dem von Horst-Eberhard Richter angesprochenen Tabu liefert eine "Entgegnung auf Horst-Eberhard Richter", in der ihm schlicht und einfach unterstellt wird, er meine wohl, "die Arbeit der Psychologen des Staatsschutzes des BKA und des VS" machen zu müssen, und: sein "eigentliches Anliegen" sei die "Pathologisierung der RAF".

 

Beide, jenes Tabu, wie auch diese gereizt-empörte Unterstellung, gehorchen der gleichen Freund-Feind-Logik, die auf Texte und Argumente inhaltlich nicht mehr eingeht, sie nicht mehr zu verstehen sucht, sondern nur noch danach abhört und durchmustert, wofür oder wogegen sie sind. Einem psychologischen Text, dem das Moment der Selbstreflexion wesentlich ist, widerfährt es dann fast zwangsläufig, daß er als Angriff erfahren wird, der reflexhaft dem Feind zugeordnet wird: die einen sehen hinter dem Versuch, die RAF zu verstehen, Sympathisanten der RAF, für die anderen steht der gleiche Versuch im Dienste des BKA und des VS. Der Text mobilisiert nur noch Abwehrmecha-nismen, auf ihn wird mit Ausgren-zung und Diffamierung reagiert.

 

Es gibt einen Zusammenhang dieser Logik mit der Tatsache, daß der Prozeß gegen Birgit Hogefeld von der Öffentlichkeit eigentlich nicht mehr wahrgenommen wird. Das Gleiche gilt übrigens schon für die letzten RAF-Prozesse, die trotz einiger skandalöser Urteile keine öffentliche Resonanz mehr gefunden haben. "RAF-Prozeß": Da schaut man, wie bei den Obdachlosen in unseren Städten, nicht mehr hin; damit will man nichts zu tun haben. Im Falle des Prozesses gegen Birgit Hogefeld kommt hinzu, daß es die Ausgrenzung und Verdrängung jetzt auch von der anderen Seite gibt: Nach der Erklärung Birgit Hogefelds vom 2.3.95, in der sie erstmals öffentlich zu einer Aktion der RAF, zur Tötung des amerikanischen Soldaten Pimental, kritisch Stellung genommen hat, hat auch das "Angehörigen-Info" jede inhaltliche Berichterstattung über diesen Prozeß kommentarlos eingestellt; die Gründe lassen sich aus den Umständen erschließen, im "Angehörigen-Info" sind sie nicht diskutiert worden.

 

Max Horkheimer hat einmal gesagt, daß ein Richter, der in den Angeklagten nicht mehr sich hineinversetzen kann, kein gerechtes Urteil mehr fällen könne. Genau dadurch aber unterscheiden sich RAF-Prozesse von anderen Prozessen, daß sie jeden Versuch, in den Angeklagten sich hineinzuversetzen, ihn zu verstehen, prinzipiell und von vornherein auszuschließen suchen, und das mit dem schärfsten Instrument des Rechts, dem der Kriminalisierung.

 

Das Selbstverständnis der Angeklagten aus der RAF, mit dem sie vor sich selbst und vor der Öffentlichkeit ihre Entscheidungen und ihr Handeln begründen, ist ein politisches. Es ist damit prinzipiell kritikfähig und sicher auch kritikwürdig. Verfahrensgrundlage der RAF-Prozesse aber scheint es zu sein, diesen Sachverhalt konsequent auszublenden. Für die BAW, und nach den bisherigen Erfahrungen auch für die Gerichte, sind das Selbstverständnis der Angeklagten und ihre Motive nur noch Rationalisierungen einer niedrigen Gesinnung und eines Mordtriebs, die zwangsläufig aus ihrer staatsfeindlichen Grundhaltung sich ergeben. Die Angeklagten erfahren dieses Vorgehen als gewaltsame Ausgrenzung und Kriminalisierung ihrer auf Fakten, Wahrnehmungen und Erfahrungen gegründeten Überzeugungen.

 

Mit der Ausblendung des Selbstverständnisses der Angeklag-ten aber ändert sich sowohl ihr Status wie auch der Charakter der Prozesse: objektiv (aufgrund der Logik dieser Prozeßführung und nicht nur aufgrund ihrer subjektiven Erfahrungen im Prozeß) sind die Angeklagten nicht mehr Angeklagte, sondern Feinde. Die gleiche prozessuale Vorentscheidung entzieht der rechtsstaatlichen Forderung nach einem fairen Prozeß schon im vorhinein die Grundlage. Es gehört zu den Paradoxien der Logik dieser Prozesse, daß sie, gerade weil die Prozesse mit einer wütenden Verbissenheit entpolitisiert und als reine Kriminalprozesse geführt werden sollen, zu politischen Prozessen werden; und es ist eine Folge dieser Logik, daß die Gefangenen der RAF tatsächlich zu dem werden, als was sie sich erfahren und selbst bezeichnen, zu politischen Gefangenen.

 

In den RAF-Prozessen selber ist die Logik des Verfahrens geradezu sinnlich erfahrbar: Sie drückt in der Kälte und in der vergifteten Atmosphäre, die diese Prozesse kennzeichnen, sich aus. Hierzu gehört nicht zuletzt der verächtliche, höhnische und zynische Ton, in dem z. B. die Vertreter der Anklage im Hogefeld-Prozeß nicht nur über die Angeklagte, sondern ebenso über ihre VerteidigerInnen, über die Mutter der Angeklagten, über kritische Prozeßbesucher, die sie offensichtlich von "RAF-Sympathi-santen" nicht mehr unterscheiden können, und, wenn eine Aussage nicht in ihr Konzept paßt, auch über einen Zeugen (und das hinter seinem Rücken: nachdem er den Gerichtssaal verlassen hat) reden.

 

Es gehört zur inneren Logik dieser Atmosphäre, die darin der Logik des Vorurteils gleicht, daß sie von denen nicht mehr wahrgenommen wird, die sich mit ihr gemein machen, die sie übernehmen, sich mit ihr identifizieren. Diese Kälte scheint für die, die sie verbreiten, eine Naturqualität zu sein, die der moralischen Reflexion sich entzieht; die Erfahrung derer, die dieser Kälte ausgesetzt sind, ist für sie inexistent.

 

Diese Atmosphäre und die Gewalt ihrer Logik bleibt nicht auf den Gerichtssaal begrenzt. Sie strahlt zwangsläufig auch auf die Öffent-lichkeit aus, sie bestimmt das Bild, in dem RAF-Prozesse in der Öffentlichkeit wahrgenommen wer-den. Und man wird davon ausgehen dürfen, daß RAF-Prozesse auch in dem Sinne als politische Prozesse geführt werden, daß diese Öffentlichkeitswirkung beabsichtigt und gewollt ist (mit der Konsequenz, die in den letzten RAF-Prozessen immer deutlicher hervorzutreten scheint, daß es auf einen öffentlich und beweislogisch nachvollzieh-baren Schuldnachweis, auf den Nachweis der persönlichen Schuld der Angeklagten, so sehr eigentlich nicht mehr ankommt, sondern vor allem auf die formalrechtliche Haltbarkeit von Urteilen, deren eigentliches Ziel ihre Öffentlichkeits-wirkung ist).

 

Dem widerspricht es nicht, daß RAF-Prozesse in der Öffentlichkeit nicht mehr wahrgenommen werden, daß sie, wenn nicht im formalrechtlichen, so doch in einem moralischen Sinne "unter Ausschluß der Öffentlichkeit" geführt werden; es ist vielmehr eine der weiteren Folgen des prozessualen Verfah-rens, und auch die, so darf man unterstellen, ist gewollt: Würden RAF-Prozesse wirklich öffentlich wahrgenommen, so wären sie auch reflexions- und kritikfähig; dem Blick einer kritischen Öffentlichkeit aber würde diese Art der Prozeßführung, die nur in dem Tabu-Klima möglich ist, das sie selbst erzeugt, nicht standhalten.

 

Es gehört zu dem bedrückenden Eindruck der eingangs genannten "Entgegnung auf Horst-Eberhard Richter", daß diese Dinge, von denen ich annehme, daß sie zum Hintergrund der Reflexionen Horst-Eberhard Richters gehören, überhaupt nicht wahrgenommen werden. Statt dessen reproduziert dieser Text blind und hilflos genau die Logik, die auch die RAF-Prozesse beherrscht, und die er nicht begreift. Es wäre ihrem Verfasser etwas von der "psychoanalytisch verzerrten Denkweise", die er glaubt, so abfertigen zu können, zu wünschen. Feste Feindbilder sind keine geeignete Basis für eine Politik, die auf Befreiung zielt; wer sie nicht mehr zu reflektieren vermag, hat eigentlich, auch wenn er es nicht weiß, schon vor der Übermacht der versteinerten Verhältnisse kapitu-liert.

 

Am Ende der "Entgegnung" heißt es zu Horst-Eberhard Richter: "Sein Standpunkt ist der des Übervaters: Vom Kampf eines Menschen um seine Geschichte und dem Willen, die Erfahrungen für neue Kämpfe nutzbar zu machen, ewig weit entfernt, auf dem ruhigen Plätzchen auf der Seite der Etablierten und Mächtigen."

 

Dieser Satz erinnert an eine Bemerkung, die Georg Lukács zuerst auf Schopenhauer, später dann auf Adorno bezogen hat, das Wort vom "Grand Hotel Abgrund" (vgl. Lukács: Theorie des Romans, Neuauflage 1962, S. 17). Mir scheint, die Konstellation, die Lukács damals bezeichnen wollte, wird genauer getroffen, wenn man sie statt auf Personen auf die Sache bezieht; das aber ist leicht über eine Änderung des Bildes möglich, wenn man nämlich das Bild vom ortsfesten Hotel und dem Abgrund daneben (ähnlich wie das vom "ruhigen Plätzchen auf der Seite der Etablierten und Mächtigen") dynamisiert und durch das eines Luxuszugs, der auf den Abgrund zurast, ersetzt.

 

In diesem Zug wird man dann einige merkwürdige Aktivitäten beobachten können:

* einige verriegeln und bewachen die Türen (auf daß kein Unbefugter hereinkommt) und werfen alle raus, die nicht zu den privilegierten Nutzern des Luxus-Zuges gehören;

* andere bemalen die Fenster und geben die Bilder als die Außenwelt aus, auf die diese Bilder zugleich den Blick versperren;

* dann aber gibt es Einrichtungen, die die Aufgabe übernommen haben, den eingeschränkten und versperrten Blick auch von innen noch abzusichern: es reicht offensichtlich nicht, die Bewegung des Zuges, die Existenz der Außenwelt und den Abgrund nur zu leugnen, diese Leugnung muß zusätzlich durch Ausgrenzung und Diskriminierung derer, die der kollektiven Verdrängung sich entziehen, die den freien Blick sich nicht verbieten lassen wollen, stabilisiert werden. Und hier bietet sich als eine Art Naturheilmittel die Feindbildlogik als Vorurteils-generator, als identitäts- und gemeinschaftsstiftende Kraft, an: die Mobilisierung des blinden Flecks der Logik (aus dem gleichen Grunde brauchte der Nationalsozialismus den Antisemitismus).

 

Angesichts dessen bleibt die ernsthafte Frage, ob die Personali-sierung des Problems, ob die Beantwortung der Feindbildlogik durch Gegenfeindbilder noch hilfreich ist. Das Personal des mit wachsender Geschwindigkeit dahin-rasenden Kapitalismus-Express ist längst von ihm instrumentalisiert, es beherrscht ihn nicht mehr, sondern bedient ihn nur. Käme es nicht vielmehr darauf an, die Bedienungs-anweisungen des Zuges, seine Technik, die Bewegungskräfte und die mittlerweile automatisierten Beschleunigungsmechanismen zu studieren (zu denen - in den ökonomischen Kräften selber - auch die systembedingten Verblendun-gen, die über starre Feindbilder sich reproduzierenden Vorurteilsstrukturen, gehören), um den Sturz in den Abgrund eines neuen, und dann vielleicht endgültigen Insektenstaats, viel-leicht doch noch zu verhindern?

 

Hubert H.

 

 

 

Liebe berliner ProzeßbesucherInnen,

 

ich habe Richters Bemerkungen zu Birgits langer Prozeßerklärung vom Juli 1995 nochmals gelesen und finde sie immer noch zu oberflächlich. Aber sie als Arbeit eines Psychologen für den Staatsschutz zu sehen? Ich weiß nicht, woran ihr das festmacht, denn das, was ihr dazu ausführt, gibt der Text nicht her. Also frage ich mich, was eure heftige Kritik veranlaßt haben mag. Ich bin zwar kein Psychologe, denke aber, daß er einen Nerv bei euch getroffen hat und zwar nicht unbedingt den, den ihr mit eurem Text benennt. Deswegen scheint es mir auch nicht sinnvoll zu sein, auf einzelne Aspekte eurer Rezension einzugehen. Eher will ich versuchen, den Nerv zu benennen.

 

Sein Versuch, die RAF zu verstehen (Buchtitel), reicht sicher nicht aus. Er schreibt aber auch nicht als "Sympathisant", eher steht zu vermuten, daß er der Politik der RAF ablehnend gegenüber steht. Das allein disqualifiziert ihn jedoch nicht. Eine wissenschaftlich genaue Analyse erfordert ja nicht unbedingt ein positives Verhältnis zum Untersuchungsgegenstand. Auch wenn der Vergleich nicht so ganz hinhaut, Marx' Analyse der Kapitalbewegung war ja auch nicht von Sympathie für das Kapital erfüllt. Allerdings verstehe ich unter wissenschaftlicher Genauigkeit mehr als das, was Richter dort geleistet hat. Er deutet nur in groben Zügen an, aber gerade da, wo es spannend werden könnte, hört er schon wieder auf. Die genauere Darstellung gruppendynamischer Prozesse wie individueller Verarbeitungsmuster würden mich da schon eher interessieren.

 

Richters Analyse mangelt ganz sicher daran, daß er den Bezug zur politischen Realität herausnimmt. Ob das Absicht war und wenn ja, welche, wäre von ihm genauer auszuführen. Bis dahin ist der Text nur dann sinnvoll zu lesen, wenn wir das fehlende politische Moment mitlesen und uns unsere eigenen Gedanken dazu machen.

 

"Gruppenstrukturen, die keine Differenzen geschweige denn Widersprüche aushalten, müssen nicht, aber können leicht verhindern, daß Menschen wachsen und an innerer Stärke gewinnen." (Birgit in ihrer Prozeßerklärung vom Juli 1995, im Buch auf Seite 39)

 

Ist es wirklich eine Unterstellung, wenn Richter Birgits Eintritt in die RAF mit der Aufgabe ihrer Identität in Verbindung bringt? In ihrer Erklärung wechselt Birgit tatsächlich von der "Ich"- zur "Wir"-Form über, wenn es um ihre Zeit mit und in der RAF geht. Wenn ich auch geneigt bin, die RAF als Kollektiv von sich selbst bewußten Individuen zu begreifen, so kann es durchaus sein, daß jede und jeder in der RAF einen Teil des eigenen Ich in einer Art Kollektiv-Über-Ich transformiert hat. Und es ist eine nicht unerhebliche Frage, ob die Menschen in der RAF (aber auch die Gefangenen aus der RAF) dies genügend reflektiert haben. Angesichts dessen, was die RAF von Anfang der 70er bis 1992 zu den eigenen kollektiven Strukturen gesagt hat, sind die beiden folgenden Jahre ziemlich desillusionierend gewesen - ich meine hier insbesondere die Spaltung. Die fiel ja nicht vom Mond auf unbearbeitete Erde, obwohl ich zugeben muß, daß ich dann doch überrascht (und erschrocken) war.

 

Mir stellt sich die Frage, ob das, was Richter hier für die RAF analysiert und was ich in vielem noch zu verkürzt halte (und manchmal für so banal, daß ich auch ohne Fachbegriffe darauf hätte kommen können und es z.T. auch bin), um der RAF gerecht zu werden, nicht vielmehr mindestens genauso für die Teile der radikalen Linken zutrifft, die seit 25 Jahren für sich eine besondere antisystemi-sche Radikalität reklamiert haben.

 

Denn das, was Richter aus psychologischer Sicht zur RAF schreibt, gilt in weiten Zügen auch für weite Teile der legalen Linken. Wer nicht für uns war/ist, war/ist gegen uns. Identifikation mit den "Opfern" imperialistischer Ausplünderung ist sicher kein biographischer Einzelfall, sondern durchzieht Denken und Handeln vieler Linker. Damit verbunden Schuldgefühle und Leistungsdruck. Und ein gewisses Maß an Verlogenheit, denn schließlich müssen die Widersprüche zwischen dem, was frau/man denkt, bringen zu müssen (Ansprüche von außen und/oder an sich selbst), und der eigenen Lebensrealität kompensiert werden. So weit entfernt von Sektierertum, gar von Sektenstrukturen? Wirklich? Wer auch nur halbwegs die Strukturen der (radikalen) Linken der letzten 25 Jahre kennen gelernt hat, weiß, daß es hierarchische waren und sind. Von Egotrips und Aktionismus, Macht und unhinterfragbaren "klaren" Weltbildern ganz zu schweigen. Das ist nichts neues und schon vor über 20 Jahren kritisiert worden. Geändert hat sich nichts. Und das ist eine Frage an alle, die sich heute noch als links begreifen: wie wollt ihr, wie wollen wir das ändern? Wollen wir es überhaupt und wann packen wir es endlich an?

 

Oder um es platt (und richtig) wie die frühe RAF zu sagen: wenn du es willst, dann tust du's - oder du willst es nicht. Nur kann das nicht durch Druck oder auf Befehl, sondern nur als gemeinsamer kollektiver und bewußt angegangener Lernprozeß vonstatten gehen. Emanzipation und Repression schließen sich aus. Ob Richter diese Konsequenzen seiner Analyse begreift, weiß ich nicht, ist aber auch unerheblich. Aber Staatsschutzfragen sind seine Fragen nicht, sondern für eine emanzipatorische Linke essentielle. Sie gehen ans Eingemachte und mobilisieren Abwehr. Diese lese ich in eurer Rezension. Doch darüber müßte geredet werden, offen und solidarisch. Und manchmal ist der Blick eines Außenstehenden dabei hilfreich, selbst oder gerade weil er Psychologe ist.

 

[Ihr klammert euch an "Identität", der Begriff erscheint dreimal hintereinander an zentraler Stelle eures Textes. Könnte es sein, daß dieses selbstvergewissernde, aber auch selbstverteidigende Etwas-Sein verhindert (und auch verhindern soll), die eigenen Widersprüche wahrnehmen, reflektieren und auch akzeptieren zu können - bei sich selbst und anderen?]

 

Zum Schluß - trotz aller Kritik eine Selbstverständlichkeit - solidarische Grüße,

 

der Rezensent aus Nr. 13.

 

 

Zum gleichen Kontext ein Beitrag aus dem Jahr 1992

 

Ich wurde gefragt, ob mein Brief aus '92 im Kontext dieser Kontroverse im Prozeßinfo abgedruckt werden könnte. Da ich denke, daß das, worum es mir darin geht, heute aktueller ist denn je, nicht zuletzt was die Zustände unter denen betrifft, die mehr als zwei Jahrzehnte lang, drinnen und draußen, gemeinsam gekämpft haben, habe ich zugestimmt. Ich habe aber in meinem Brief von einem Emanzipationsprozeß geredet, also davon, die subjektiven Deformationen und Verletzungen aus eigener Kraft anzugehen. Das wäre ein Lernprozeß, der ein ganz anderes Begreifen über sich und andere in Gang setzt als die klassifizierende Betrachtung des Psychoanalytikers von außen.

 

Berlin, 24.10.1996, Lutz Taufer

 

 

>> DIE SACHE MIT DEN "KLAREN POSITIONEN" [...] ist eben so eine Sache. Dahinter steckt die Überzeugung, daß das Handeln der Menschen bzw. der Linken bestimmt ist von rationalen Prozessen, daß also eine solch "klare Position" Ausdruck rationaler, klarer Vernünftigkeit und Überle-gung ist. Ich bezweifle das. Nicht grundsätzlich und nicht in jedem Fall. Aber den Verbalradikalismus, den es in den vergangenen Jahren etwa bei einigen sog. Antiimpis gegeben hat, also diese Sorte "klarer Positionen" betrachte ich eher als eine Art Schutzpanzer gegen die aggressiver werdenden Zumutungen der kapitalistischen Leistungs- und Konkurrenzgesellschaft, der ununterbrochenen Enteignung der eigenen politischen Anstrengung, Initiative durch die Repression oder durch Institutionen. Es gibt den weitgehend unbewußt ablaufenden Mechanismus, die Ohnmachts- und Hilflosigkeitsgefühle, in die du hier sehr schnell reinkommen kannst, dadurch zu kompensieren, daß du dich in einem mächtigen Feind spiegelst. Je mächtiger, desto größer kannst du dir, der den Mut hat, diesem Feind die Stirn zu bieten, selbst vorkommen. Ich mache mich über Genossinnen und Genossen, die einem solchen Dilemma erliegen, ganz bestimmt nicht lustig. Ich halte es auch für albern und nur für eine Wiederholung dieses Mechanismus auf anderer Ebene, wenn dann welche herkommen, und solche Verbalradikalos mit dem Gestus der Verachtung abhaken. Denn der subjektive Mechanismus, der abläuft, ist kapitalverursacht, staatsverursacht - und entweder lernen wir es, damit umzugehen und solche unbewußt steckenbleibenden Konfliktsituationen aufzulösen - oder wir überlassen diese Genossinnen und Genossen eben Kapital und Staat. Marx war es, der seinerzeit feststellte, daß der Arbeiter bei der Arbeit außer sich und erst außer der Arbeit bei sich ist - diese Zustandsbeschreibung können wir heute, wo wirklich auch noch der intimste Winkel menschlicher Existenz warenförmig adaptiert und deformiert wird, nicht übernehmen. Es gehört zur Tradition der Linken, sich wirksam gegen Repression zu schützen, aber gegen die stündlich auf uns in dieser Gesellschaft einstürzenden moralischen, ideolo-gischen und emotionalen Pressio-nen haben wir bis heute kaum Methoden der Sicherung unserer Autonomie entwickelt. Wenn jetzt eine oder einer kommt und will mit mir über die Frage diskutieren, um nur ein Beispiel zu nennen, ob es im Staat, in der politischen Klasse, Fraktionen gibt oder ob es ein monolithischer Apparat ist, kann das eine vernünftige Auseinander-setzung sein - es kann aber auch eine "Position" sein, die gesponsert ist von eben solchen Kompensa-tionsbedürfnissen, wie ich sie oben beschrieben habe. Im zweiten Fall ist es sinnlos, im Stil eines Streits um Positionen zu argumentieren und aufzuklären, denn was immer du in die Diskussion an Argumenten einbringst, du erreichst die Ebene der bewußtlos bleibenden Konflikt-situationen nicht. Wer erträgt schon gerne bewußt das Gefühl von Ohnmacht und Hilflosigkeit? Also organisiert der mentale Prozeß alles, um dieser schmerzhaften Situation aus dem Weg zu gehen. Und nachdem du die "Position" mit hundert Argumenten widerlegt hast, wird das hundertundeinste auftau-chen, eine schlechte Unendlichkeit. Um zu einer Lösung, zu einem lösenden Prozeß zu kommen, braucht es einen anderen Diskurs. Der ist zwischen drinnen und draußen nicht organisierbar, denn es ist zweifellos ein Diskurs, in dem die emotionale Seite eine große Rolle spielt, und es ist ein Prozeß, der nicht immer nach der Logik einsichtsvollen Nachvoll-zugs von Argumenten verläuft, denn vor allem im Bereich eingeklemmter Konflikte, bewußtloser, weil ver-drängter Konflikte bestehen häufiger sehr starke Widerstände, die als bestimmte Rationalisierungen un-unterbrochen "unverdächtig" organi-siert werden. Ich denke, solche bewußtlos bleibenden Konfliktsitua-tionen haben ganz besonders in Zeiten der Defensive, wo der Gegner sehr stark erscheint oder ist und wo du dich oft klein fühlst, eine starke Ausbreitung, die Menschen neigen in Situationen solcher Bedräng-ung, auf lebensgeschicht-lich weiter zurückliegende Verhaltensmecha-nismen zurückzugreifen, weil sie sich mit diesen Verhaltensweisen auskennen, sich mit ihnen sicherer fühlen. Ein Emanzipationsprozeß ist ja auch immer verbunden mit einer Öffnung und somit erstmal mit Verwundbarkeit, und die Bereitschaft, ein solches Risiko einzugehen, sinkt natürlich mit der Aggressivität der Gegenseite und vor allem aber auch mit dem regressiven Verhalten, dem Abrutschen der Emanzipations-prozesse in der eigenen Umgebung. Wo der Umgang untereinander sehr robust und aggressiv und verständnislos ist, dort ist der, der sich weiter um Offenheit und Emanzipation und Menschlichkeit bemüht, natürlich schnell in der Rolle des Trottels oder des Nicht-Kämpfen-Wollens. Aber genau das wäre das Kunststück, um das wir kämpfen müßten. Denn hinter der allgemeinen Abkapselung, hinter abweisendem Verhalten, hinter Verhalten, das bis an die Grenzen des Verfolgungswahns geht, steckt natürlich, dialektisch gesehen, das gegenteilige Bedürfnis - das Bedürf-nis nach Menschlichkeit, Freund-schaft, nach sozialer Gerechtigkeit, nach Entfaltungsmöglichkeiten - und ich bin mir absolut sicher, daß eine linke Bewegung, die den Mut und die Kraft und die Selbstsicherheit hat, einen solchen menschlichen Emanzipationsprozeß auf den Weg zu bringen, gegen die allumfassende Wirklichkeit von Macht und Egoismus und Konkur-renz sichtbar und erlebbar zu machen, daß eine solche Gruppe ungeheuer überzeugend und erfolgreich sein wird. Das hat natürlich nichts mit Innerlichkeit zu tun, denn die Ursachen der Entfrem-dung liegen nicht in uns, sie sind materieller Natur und wollen bekämpft sein. Und die Innerlichkeit ist schließlich nur ein Ja zum Machtanspruch von Staat und Kapi-tal, der da lautet: wir bestimmen alles alleine - ihr habt euch aus allem rauszuhalten. Also eine Wiederholung der Entfremdung auf anderer Ebene. Eine Realitätsflucht. Ein solcher Emanzipations-prozeß ist auch nicht dadurch organisierbar, daß man über ihn spricht wie über die NATO oder die Entwicklung der Produktivkräfte. Ich hatte vor 7 Jahren, in meinem Brief, den ich als Kritik an der Erschießung von Pimental geschrie-ben hatte, geschrieben: "Entfremdung kann man nicht analysieren, wie man die Counter, die NATO, die Bourgeoisie analysiert, also etwas, was außerhalb von einem selbst ist; Entfremdung kann man nur entziffern, wenn man dabei bei sich selbst anfängt ..." und das wiederum ist ein ganz anderer Diskurs als der Diskurs, der seit Jahr und Tag betrieben wird. Um dorthin zu kommen, müßtest du diese Mauer der Widerstände - und ich behaupte, bei vielen Positionsbausteinen dieser Mauer handelt es sich um ebensolche Widerstände - durchbrechen.

 

Ich will noch kurz auf einen anderen Punkt hinweisen. Wenn du Psychoanalytiker werden willst, mußt du eine Lehranalyse machen, also eine Analyse deiner eigenen subjektiven Konstellation, damit du mit deinen Schwächen und Stärken bewußt umgehen kannst und sie nicht an den Konflikten deiner Patienten unbewußt auslebst. Linke Politik ist ja irgendwo eine vergleichbare Situation. Wie immer du dich selbst politisch einschätzst, wie immer du dich politisch verhältst, ML oder libertär oder was weiß ich, du setzt dich mit deinem politischen Handeln der Gesellschaft mehr oder weniger vor die Nase, du hast also eine bestimmte Verantwortung der Gesellschaft gegenüber - und ich denke, du darfst die nur wahrnehmen, wenn du dich einigermaßen selbst kennst. Es gibt ja in der Linken schon immer diese Haltung, daß gesagt wird, was das Subjektive betrifft, hat das mit der Politik nichts zu tun. Das halte ich nicht nur für brutal, sondern auch für ausgesprochen dumm. Das ist m.E. durchaus verwandt dem kapitalistischen Leistungsprinzip, das im Nazi-Reich gipfelte in der Aussonderung aller, die angeblich nicht leistungsstark waren, bis hin zur Euthanasie. Und mit den subjektiven Anteilen unserer Handlungsantriebe müßten wir endlich mal lernen umzugehen. Methoden entwickeln, wie wir zu dem kommen, was wir früher Identität nannten. Denn das meint nichts anderes als die Übereinstimmung von Denken und Fühlen im politischen Kampf, was aber in den letzten Jahren oft so mißinterpretiert wurde, daß Empfindungen, Gefühle, Instinkte, Wünsche, die nicht auf der politischen Linie liegen, unterdrückt werden. Damit sind sie natürlich nicht aus der Welt, sondern toben sich umso verheerender aus. Und umgekehrt, würde ich sagen, entfernt sich eine solchermaßen zurechtgetrimmte Politik immer stärker von der Alltagsrealität der Menschen, denn die kommunizieren mit der Wirklichkeit sehr viel emotionaler als wir. Und ich behaupte mal, die Wünsche und Gefühle, z. B. Gerechtigkeitsgefühl, das jedem Menschen eingeborene Bedürfnis nach Selbstbestimmung und anderes mehr, nach der Rebellion gegen Unterdrückung, der Durst nach Freiheit (auch wenn diese 'natürlichen' menschlichen Regungen im Lauf eines kapitalistischen Sozialisations-prozeß verkrüppelt und zugeschis-sen werden), all diese Gefühle und Bedürfnisse sind oft ein besserer Kompaß in der Frage "was tun?" als alle im Kopf mühsam ausgerechnete Analysen und Positionen.<<

 

Lutz Taufer

 

 


...die allerletzte Seite...

 

 

Dies ist das letzte Info zum Prozeß gegen Birgit Hogefeld.

Die InfoAG ist bereits in Auflösung begriffen und es wird voraussichtlich keine gemeinsame Stellungnahme zu unserer Arbeit geben.

 

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Ohne die Arbeit des Berliner "Prozeßbüro Birgit Hogefeld" hätte das Info nicht erscheinen und schon gar nicht verbreitet werden können.

 

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Hinweis: Nächste Prozeßtermine im Verfahren gegen Monika Haas:

Donnerstag, 21.11. und Donnerstag 28.11. jeweils 10.15 Uhr Frankfurt, Gerichtsgebäude E, Saal II - Weitere Termine bei: Forum für Monika Haas. Postfach Bodo Lube 180148, 60082 Frankfurt

Broschüre: Der Prozeß gegen Monika Haas. Oktober 1996, 8,--- DM gegen Vorkasse bei obengenannter Adresse.