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Kapitel Einleitung

Das vorliegende Buch bezieht sich auf einige Ereignisse aus meinem Leben - auf die Erinnerungen, die ich daran habe. Es zeichnet ein ganz bestimmtes Bild von mir: eines, das in vielen Gesprächen in einem schmucklosen kleinen Zimmer im Gefängnis Rebibbia0.1 entstanden ist.

Meine Erinnerungen wären sehr wahrscheinlich nicht die gleichen gewesen, hätte ich im Schatten einer großen Buche gesessen. Auch ist die biographische Erzählung oftmals trügerisch. Sie steckt willkürliche Unterschiede im Fluß der gesellschaftlichen Ereignisse ab und bedient sich der unbeständigen Sprache individueller Mythen.

Ich bitte die Leser, den über die Jahre veränderten Blick zu beachten und die folgenden Seiten leichten Herzens zu durchstreifen, ohne sich durch jene Schatten der »Endgültigkeit« betrügen zu lassen, die das geschriebene Wort irgendwie immer mit sich schleift, selbst wenn es leichthin geäußert wurde.

Ich habe mich auf das Gespräch mit Mario Scialoja aus zwei Gründen eingelassen: Ich wollte mich den vielen Fragen stellen, die von mehreren Seiten an mich gerichtet wurden. Da ich eine Person des öffentlichen Lebens bin, glaube ich, daß dies unausweichlich ist. Es wäre kleinmütig, sich dem zu entziehen. Hinzu kam, daß ich die Arbeiten des Interviewers seit Jahren verfolgte, ihn persönlich bereits kannte und ihm auch vertraute.

Zum Schluß noch eine Anmerkung: Sollte ich mit meinen Worten jemanden empfindlich getroffen haben, bitte ich um Nachsicht. Ich habe es vermutlich nicht vorsätzlich getan, da ich kein Freund der herrschende Mode der Beleidigungen, Unterstellungen und Verleumdungen bin.

Renato Curcio

Zum ersten Mal interviewte ich Renato Curcio im Januar 1975, als er sich im Gefängnis von Casale Monferrato befand. Ich ließ ihm die Fragen schriftlich über seinen Anwalt, Edoardo di Giovanni, zukommen, über den ich auch einige Tage später die getippten Antworten bekam. Damals benutzte der Leiter der Roten Brigaden noch ausschließlich das schematische und abstruse Kauderwelsch des rigidesten Marxismus-Leninismus. Auf persönliche Fragen zu antworten, lehnte er ab.

Zwölf Jahre später, im Januar 1987, traf ich Curcio zum ersten Mal persönlich im Gefängnis Rebibbia. Das Gespräch dauerte über drei Stunden.

Mit diesem Interview brach er sein langes Schweigen in der Gefangenschaft: Er definierte seine Position als die einer Person, die »nichts bereut0.2, nicht abschwört0.3 und unbeugsam0.4« ist. Gleichzeitig lancierte er einen Appell zugunsten der »Kampagne für die Freiheit« aller politischen Gefangenen und Exilierten. Ich traf auf einen freundlichen Mann, der klar und gefaßt Auskunft gab. Und ich fand Gefallen an seiner nüchternen und direkten Art, in die er seine sehr lebendigen Erzählungen einstreute.

Ich war überzeugt, daß im direkten Gespräch sehr viel über das Leben und die Wege einer Symbolfigur des bewaffneten Kampfes zu erfahren sein würde. Ich schlug Curcio das Projekt eines Interview-Buches vor. Er entgegnete, daß er lieber »als freier Mann« sprechen würde, ohne die Einschränkungen der Haft, wenn er Teile seiner Existenz bloßlegen sollte.

In den folgenden Jahren, bei weiteren Treffen, sprach ich immer wieder von dem Projekt. Im Frühjahr 1992 gelangte der Gründer der Roten Brigaden endlich zu der Überzeugung, daß der Augenblick, seine Geschichte zu erzählen, gekommen sei. Nun liegt sie vor, um analysiert und kritisiert zu werden. Verleugnen muß er sich dabei nicht.

In meiner Rolle als Chronist war ich bemüht, in der Erinnerung des Interviewten zu graben. Mein Ziel war, Curcio dazu zu bewegen, ein historisches Gesamtbild zu präsentieren, gerade um den Jüngeren jene dramatischen Ereignisse aus den 70er Jahren etwas näherzubringen.

Mit offenem Blick ist das Ergebnis von fünfzehn Gesprächen, etwa 35 aufgezeichneten Stunden, durchgeführt am Tisch eines »Anwaltszimmers« in Rebibbia.

Wie im Journalismus üblich, hatte ich anfangs meinen Gesprächspartner gesiezt, aber im Laufe der Zeit und mit Vertiefung unserer Auseinandersetzung schien diese Formel in störender Weise künstlich, und wir gingen zum »Du« über.

Ich möchte nicht vergessen, mich bei der Generaldirektion der Haftanstalten für die gewährten Genehmigungen, und besonders beim Wachpersonal des Gefängnisses von Rebibbia für die Höflichkeit, die es mir entgegenbrachte, zu bedanken.

Mario Scialoja



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