Wolf im Schafspelz 35-Stundenwoche Sozialpartnerschaft Linke Klassenantagonismus März 84
Wollen wir wieder dem Wirbel der Medien Glauben schenken, so steht uns nach einem heißen Herbst nun ein heißer Frühling ins Haus.
Nicht ohne Übertreibung jedenfalls sollen die Verhandlungen
und die sie begleitenden Arbeitsniederlegungen über die 35-Stunden-Woche
zur größten gesellschaftlichen Auseinandersetzung der 80er, wenn nicht
sogar der Nachkriegszeit werden.
Da bleibt kein Auge trocken und auch die Herzen der skeptischsten
Gewerkschaftskritiker schlagen schneller.
Die sogenannte Basis aber läßt sich nur mühsam auf Vordermann bringen. Die
Stimmung selbst in der IGM Bastion Daimler/Untertürkheim ist lustlos
wie nie zuvor und nicht wenigen realistischen Metallern wird's irgendwie
mulmig, wenn sie an die nötigen 75 % bei der Urabstimmung denken.
In 35 Stunden wird das Gleiche geschafft nur für weniger Geld ist die
einleuchtende Begründung für die Ablehnung. Und wie sie angesichts des
Frontalangriffs des Kapitals und der Defensive der Klassen durchgesetzt
werden soll, eine andere.
Und nicht zuletzt sind da die Erfahrung mit dem bundesdeutschen
Gewerkschaftsapparat, der sich schwertut, auch mit noch so radikalen
Parolen und Reden sich glaubwürdig und Geschehenes vergessen zu machen.
Nicht so die (Gewerkschafts-)Linke. Die ficht's nicht an. Wenngleich selbst
die ansonsten unverdächtige Revier1 (1/84) davor warnt, sich mit
geschlossenen Augen vor den Karren spannen zu lassen. Es ist nicht das
erste Mal, daß das berühmte Wer hat uns verraten scheinbar absolut und
bei gegebenem Anlaß wieder in aller Munde sein wird.
Es ist plötzlich wieder notwendig, die Gewerkschaften vor dem politischen
Ruin zu bewahren und nahezu vorbehalts- und kritiklos die
35-Stunden-Forderung zu unterstützen.
Und überhaupt: Arbeitszeitverkürzung ist doch richtig. Mehr Freizeit und
weniger arbeiten wollten wir schon immer.
So eint die Systemfrage diejenigen, die eben dieses bekämpfen wollten und
diejenigen, die dies sagen, um es auf Trab zu bringen.(Dieter Marcello in
der TAZ vom 17.2.84)
Wir schreiben dieses Papier, um einerseits diese Einigung zu untergraben,
weil wir sie für falsch und gefährlich halten und dies nicht hinterher erst
feststellen wollen. Andererseits weil's prinzipiell notwendig ist, sich mit
den Bedingungen, dem Was, Wer, Wie, Wo und Warum von Forderungen und
Kämpfen auseinanderzusetzen, erst recht, wenn sie von Oben aufgestellt
und dirigiert werden.
Wenn heuer für die 35-Stunden-Woche die Klamotten hingeschmissen werden
sollen, so ist's nicht das erste Mal.
Der Stahlarbeiterstreik2 des Winters 78/79 wie auch die damalige
gesellschaftspolitische Situation ist uns deshalb aus aktuellem Anlaß einen
Rückblick wert. Charakteristisches Ergebnis der Krise der Massenarbeit,
des Kampfzyklus 6873 (in der BRD: Septemberstreiks 1969 und Stahl- und
Automobilarbeiterkämpfe 1973) war die weitgehende Trennung von Leistung und
Lohn. Und auf der Haben-Seite zu verbuchen: Lohnsteigerungen (von 69 bis
74/75 real ca. 30 %) über Produktivitätszuwachs.
Die Ablehnung, die Lohnarbeit als alleinigen Gradmesser von Selbstwert und
Bedürfnisbefriedigung anzuerkennen, war dessen Spiegelbild im
gesellschaftspolitischen Bewußtsein.
Die Abkopplung von Arbeit und Einkommen war ein Meilenstein gegen die
insbesondere in der BRD aus dem Nationalsozialismus überlieferte
Tradition des Leistungsdenkens.
Frontal gegen diesen bewußtseinsmäßigen Einbruch steht die vom DGB seit
Jahren propagierte Parole des Rechts auf Arbeit, die an das Arbeit macht
frei der Nazis erinnert.
Sicher als Folge davon führen die Ölkrise des Jahres 73, die
Massenentlassungen und die Arbeitslosigkeit (mittels Rationalisierung und
Internationaler Arbeitsteilung durchgesetzt) seit 74 als Angriff auf
Zusammensetzung und Einkommen der Klasse nur bedingt zu dem gewünschten
Resultat.
Trotz Arbeitslosigkeit steigen die Löhne (7476), die Arbeitsmoral ist
schlapp, Blaumachen ist immer noch auf der Tagesordnung und in der sozialen
Hängematte kann mensch sich noch durchschaukeln.
Da ein umfassenderer Angriff als Arbeitslosigkeit und Ölkrise nicht
sofort aus dem Ärmel zu schütteln war, setzte das Kapital noch einmal auf
Ausweitung von Produktion und Arbeit: Ende 76 wird der Einstellungsstop der
Großbetriebe aufgehoben, im Frühjahr 1977 beginnt die Bundesanstalt für
Arbeit eine Vermittlungsoffensive via ABM, Umschulung usw. Die Zahl der
Arbeitslosen bewegt sich 7678 um 950.000 mit sinkender Tendenz und einem
wachsenden Anteil jugendlicher Neu-Arbeitsloser.
Einleitung der Restrukturierung 35-Stunden-Forderung und Stahlarbeiterstreik
Inhaltlich an die alte Massenarbeiter3-Losung Mehr Lohn Weniger Arbeit anknüpfend, auf einer IGM-Tagung Anfang 77 in Köln erstmals (soweit wir's wissen) unter dem Begriff Modellsolidarität konkretisiert, wurde die 35-Stunden-Forderung auf dem IGM-Gewerkschaftstag im September 77 gegen den Vorstand, der dies mit allen Mitteln zu verhindern suchte, in den Forderungskatalog aufgenommen. Eugen Loderer, damaliger Vorsitzender der IGM, nannte die Forderung übertrieben und nicht durchsetzbar. Eine Einschätzung, der ein gutes Jahr später offensichtlich eine Änderung widerfahren sollte eine Änderung, die sich ausschließlich auf den nordrhein-westfälischen Tarifbezirk, genauer
auf die Stahlindustrie, bezog, nicht aber auf den Rest der Republik.
Fakten zum Hintergrund
1. In der strukturell schon damals angeschlagenen bundesdeutschen Stahlindustrie waren seit 1975 40.000 Arbeitsplätze wegrationalisiert worden. Demzufolge war auch die Forderung nach Arbeitszeitverkürzung mit dem Ziel der Eindämmung anstehender Freisetzungen wenigsten bei den betrieblichen Gewerkschaftskadern der Stahlbranche sehr populär (durch die bei 35 Stunden Wochenarbeitzeit notwendige Einführung einer 5. Schicht hätte zumindest eine Umverteilung der bestehenden Belegschaften, wenn nicht wenigstens vorübergehende Neueinstellungen rausspringen können). Nicht zuletzt sollte mit der angestrebten Stabilisierung der Belegschaften auch ihre Kampfstärke er- und zusammengehalten werden.
2. Die Kampfstärke und -bereitschaft der Stahlarbeiter hatte Tradition. Wie bei den Septemberstreiks 1969 waren sie auch im Streikjahr 1973 die ersten, die gegen die miesen Tarifabschlüsse der IGM Lohnerhöhungen erkämpften (Klöckner/Bremen, Hoesch/Dortmund, Mannesmann/Duisburg etc.) natürlich gegen den Willen der Gewerkschaftsführung, die ihre Zerschlagung in vorderster Reihe betrieb. Diese Erfahrung sowie die butterweiche Tarifpolitik der nächsten Jahre, die unter Kurt Herb in NRW mit List und Tücke den Arbeitsfrieden wahrte, hatten die Distanz der sog. Basis zur Gewerkschaftsführung konserviert.
3. Das Ruhrgebiet und dabei speziell die Stahlindustrie sollte in den nächsten Jahren einem einschneidenden Wandel durch Strukturkrisen unterzogen werden: Planmäßige Ruinierung der ökonomischen Substanz der Region und damit ihre Zurichtung zur Billiglohnregion in der Metropolen selbst (die Errichtung Freier Produktionzonen4 ist in Planung). Die heutige Arbeitslosenquote im Ruhrgebiet liegt bei 14,6 % (und lokal z.T. bei 25 %).
Die krisengeschüttelte Perspektive der Region verbunden mit der labilen Kontrolle der Klasse durch die Gewerkschaftsführung dürfte den Ausschlag gegeben haben, einerseits durch einen großen Streik die Belegschaften wieder mehr an die Gewerkschaft zu binden und andererseits durch seine wie sich zeigen sollte resignativen Folgen die Ruhe für die nächsten Jahre zu garantieren.
Zum Streik selbst
Zeitpunkt
Dezember 78/Januar 79
Die Bedingungen für einen unwirksamen Streik sind ideal
die Automobilindustrie als Hauptabnehmer von Stahl hat ihre Konjunktur erst
im Frühjahr. Schon allein deshalb war klar, daß es lange dauern würde, bis
sich Lieferschwierigkeiten bemerkbar machen.
Überdies war in der Zeit vor dem Streik Stahl auf Vorrat hergestellt
worden. Auch ist die Jahreswende nicht gerade der Zeitpunkt, zu dem auf
Hochtouren produziert wird: Weihnachtszeit Ferienzeit.
Der Streik beginnt am 28.11. nach nur 2-wöchiger Mobilisierung. Sie ist
trotzdem außerordentlich hoch. Es wird ein aktiver Streik, an dem nicht nur
die Mitglieder, sondern auch ihre Familien teilnehmen. Entgegen der
Forderung der Basis wird nur schwerpunktmäßig (etwa 25 % der Mitglieder)
gestreikt.
Dem Verlangen nach Vollstreik wird auch dann nicht nachgekommen, als das
Kapital zusätzlich 29.000 Arbeiter aussperrt und eine Koordinationsstelle
für Terminaufträge einrichtet, die die durch Streik und Aussperrung
ausfallende Produktion auf die restlichen Betriebe umdirigiert.
Bereits am 6.12. wird NRW-Minister Farthmann, der bekanntlich gegen die
Arbeitszeitverkürzung ist, als Schlichter akzeptiert und ernannt. Während
in über 30 Städten von DGB und IGM organisierte Kundgebungen gegen die
Aussperrung stattfinden, liegt am 17.12. das Verhandlungsergebnis auf dem
Tisch: 4 % mehr Lohn bei 15-monatiger Laufzeit ( = 3,2 % auf's Jahr
bezogen) plus ein paar Freischichten und etwas mehr Urlaub.
Der Vorschlag wird von der Großen Tarifkommission abgelehnt und die
Ablehnung mit der Ankündigung, den Streik auszuweiten, verbunden. Was die
Streikenden zu der Annahme verleitet, am Streikziel würde festgehalten und
es solle durch die Ausweitung unterstrichen werden. Denkste! Bis zur
Einbeziehung von weiteren 20.000 Stahlkochern dauert es noch ganze 2 Wochen
(3.1.). Einziger Grund für die Ablehnung des Kompromisses war nämlich die
Beschränkung der Freischichten auf die Nachtschicht (was im endgültigen
Abschluß hieß: 3 Freischichten für über 50-Jährige). In der ganzen Zeit
wird langwierig verhandelt und in bitterer Kälte weitergestreikt. Am 7.1.
erfolgt die Einigung auf der Basis der seit Wochen existierenden Formel,
mit einer Laufzeit des Manteltarifvertrages bis 31.12.83, d.h.
Festschreibung der 40-Stunden-Woche auf 5 Jahre. Unter dem Protest der
Streikenden segnet die Große Tarifkommission den Abschluß ab.
Die Stimmung für die Urabstimmung am 11.1. wird durch die planmäßige
Demontage des Streiks (Vorbereitungen zur Wiederaufnahme der Arbeit)
aufbereitet und ihr Ergebnis nach dem Motto: Ihr könnt ruhig wählen,
solange wir die Stimmen zählen durch massive Manipulation in manierliche
Form gebracht.
Es sollte sich sehr bald zeigen, daß die Strategie des IGÖorstandes
aufgegangen war. Trotz der während des Streik intensivierten autonomen
Strukturen wurde die Niederlage akzeptiert, d.h. sich mit ihr abgefunden.
Während der Großteil also resignierte, kanalisierten sich Wut und Schmerz
des Restes zum hundertsten Mal in der Geschichte der Gewerkschaftsbewegung
in dem auch diesmal erfolglosen Versuch, den verknöcherten
hierarchischen Apparat zu reformieren.
Kybernetisierung Prekarisierung Arbeitszwang
Was hat sich nun in den 5 Jahren seit dem Stahlarbeiterstreik getan, was ist heute die Situation?
Das Kapital weitete das Arbeitsvolumen bis in den Herbst 80
weiter aus. So stiegen allein 1979 die registrierten
Ausbeutungsverhältnisse um über 300.000. Ebenfalls vergrößert wurde der
Sektor der illegalen Arbeit, vor allem auf dem Bau.
Auf der anderen Seite wurde mit z.T. gewaltigen Investitionen
(Automobilindustrie 79/80: 35 Mrd.) der technologisch vermittelte Angriff
auf die Klasse vorbereitet. Über die Kybernetisierung von Hand- und
Kopfarbeit sollen die traditionellen Facharbeiter-, unteren und mittleren
Angestellten- und Technikerschichten entqualifiziert, aufgelöst und unter
dem zentralisierten Kommando des Kapitals neu zusammengesetzt werden
(NC/CNC-Automaten, Vernetzung der technischen und Verwaltungsabteilungen
mit Terminals, elektronische Heimarbeit usw.). Desgleichen werden die alten
Massenarbeiterabteilungen über die technologische Restrukturierung
(automatisierte Fertigungsleittechnik, Roboterisierung) und forcierte
Transnationalisierung (z.B. Produktion des Opel-Corsa, Ford-Fiesta und
Ford-Escort in Spanien ... bis hin zur Vernutzung der ostdeutschen und
chinesischen Arbeiterklasse durch VW) zersetzt.
Dieser Angriff setzt im Herbst 80 ein. In dessen Folge werden die erfaßten
Ausbeutungsverhältnisse bis Ende 82 um eine Million reduziert. Die
offizielle Arbeitslosenzahl wird im gleichen Zeitraum mehr als verdoppelt
(850.000 2,2 Mio.) ganz zu schweigen von der Stillen Reserve.
Dagegen werden die illegale Arbeit und die entgarantierten
Ausbeutungsverhältnisse erheblich ausgeweitet (Nach einer im Oktober 83 von
der Nürnberger Bundesanstalt für Arbeit veröffentlichten Untersuchung
wurden von den 1977 gemeldeten Arbeitslosen 90 % wieder vermittelt, davon
aber nur etwa jeder zweite in ein garantiertes Arbeitsverhältnis.)
gekoppelt mit einer rigorosen Einschränkung und Kürzung des Soziallohns. So
überschritt bereits im Mai 80 die Zahl der gemeldeten Arbeitslosen, die
kein Geld erhielten, weil entweder ihr Antrag nicht bearbeitet (27,7 %)
bzw. abschlägig beschieden (22,5 %) wurde, erstmals die 50 %-Marke.
Dieser bekanntlich unter sozialdemokratischer Regierungsverantwortung
eingeleiteten Soziallohnbeschneidung, gekoppelt mit der Zwangsmobilisierung
und -flexibilisierung der Arbeitsmärkte entsprach auf der Seite der (noch)
garantierten Teile der Klasse die von den Gewerkschaften mitgetragene
Kybernetisierung von Produktion und Verwaltung verbunden mit einer seit
1980 anhaltenden Reallohnsenkung (jährlich zwischen -0,3 und -2,2 %).
Konsequent fortgesetzt wurde und wird diese Politik von den Fraktionen der
Bonner Wende.5
Neben den bereits erfolgten Maßnahmen wie beispielsweise der Streichung des
Invaliditätsrentenanspruches für die Ungarantierten und einer neuen
Arbeitszeitordnung (die die alte von den Nazis 1938 für die
Kriegsproduktion erlassene bei weitem übertrifft) stehen u.a. demnächst
an:
Speziell die Entgarantierung und Flexibilisierung des gesamten
Klitschensektors (maximal 5 Beschäftigte) durch
Aufhebung des Kündigungsschutzes
die Möglichkeit, unbeschränkt viele Teilschaffer/innen bis zu 45 Stunden monatlich zu vernutzen, ohne daß dadurch der Klitschenstatus aufgehoben wird.
Allgemein die
Erweiterung der zulässigen Befristung von Ausbeutungsverhältnissen von einem halben auf ein Jahr.
Aufhebung der bisherigen 3-Monats-Grenze für den Einsatz der legalen Sklaven(Leih)arbeiter.
Vereinheitlichung der Hinzuverdienstgrenzen für Rentner auf 390 DM im Monat bei gleichzeitigen Rentenkürzungen.
Einführung der Teil-Arbeitsfähigkeit für Kranke.
Zwangsarbeit für arbeitslose Jugendliche bis 28 Jahren durch Koppelung der Zahlung des Arbeitslosengeldes/hilfe an Leistung unbezahlter Arbeit bzw. Weiterbildung.
Mit der Befreiung der Sozialdemokraten von der Regierungsverantwortung änderte sich ihre Rolle und damit auch die der von ihnen hegemonisierten Gewerkschaften. Die Zeit des offensichtlichen Schulterschlusses mit der offiziellen Bonner Politik ist vorbei, es darf oder besser
soll wieder Flagge gezeigt werden. Integration ist angesagt, denn der allerorts diagnostizierte soziale Sprengsatz muß entschärft werden. Der Versuch des DGB im Winter 82, die Arbeitsloseninis unter die eigenen Fittiche zu bekommen, war der erste, der massive Einstieg von SPD und DGB in die Friedensbewegung der nächste Schritt. Diese integrative Funktion der Sozialdemokratie ist nicht nur Strategie zur kapitalistischen Herrschaftssicherung. Sie ist gleichzeitig immer auch die Latte, an der sich die politische Existenzberechtigung der Sozialdemokraten als Herrschaftselite messen lassen und unter Beweis stellen muß.
Ein zusätzlicher Punkt, der für die momentane
Auseinandersetzung um die 35-Stunden-Woche von Bedeutung ist, ist die
Absicherung des eigenen Apparats. Durch die von den Gewerkschaften in aller
Konsequenz mitgetragene Restrukturierung wird eben auch die eigene
Machtbasis, das sind die Kernbelegschaften der Großbetriebe, zersetzt. So
verlor allein die IG Metall seit 1980 knapp 100.000 Mitglieder, Tendenz
steigend. Und Mitglieder sind vor allem Beitragszahler. So dürfte allein
der dadurch bedingte Beitragsverlust der IGM bei ca. 25 bis 30 Mio. DM
liegen.
Diese Kernbelegschaften müssen also der eigenen Selbsterhaltung wegen so
weit als möglich stabilisiert werden, wozu gleichzeitig gehört, nach Jahren
der Reallohnsenkung auch mal wieder Erfolge vorzuweisen.
In diesem Sinn stellt auch die sonst gewiß nicht gewerkschaftsprotegierende
FAZ fest: Schwache Gewerkschaften nützen niemandem.
Der Weg nach Silicon Valley führt nicht über die subventionierte Frührente
Die Forderung nach Arbeitszeitverkürzung bei vollem Lohnausgleich (35-Stunden-Woche) steht auf den ersten Blick in offensichtlichem Gegensatz zur vom Kapital geforderten Flexibilisierung, Mobilität, Reallohnsenkung und Ausdehnung des Arbeitstages.
Auf dem Hintergrund der zunehmenden Eliminierung nahezu aller Errungenschaften der Gewerkschaftsbewegung der letzten 100 Jahre DGB-Zimmermann
Es geht um die gesellschaftspolitische Substanz der
Republik und des Vorschickens der IGM als kampfstärkster Organisation
seitens der HBV, DPG, ÖTV und IG Druck und Papier scheint sich eine scharfe
Konfrontation abzuzeichnen.
Darauf könnte auch der strategische Schachzug des Kapitals im Vorfeld der
Tarifauseinandersetzungen, die Blüm'sche6 Vorruhestandsregelung, hindeuten.
Diese greift die Tendenz zur Verjüngung der Arbeitskraft auf, betrifft
ohnehin nicht viele, da das durchschnittliche Ausscheidungsalter inzwischen
bei 54 Jahren liegt und ist sowieso nur Ersatz für den Wegfall des
vorgezogenen Altersruhegeldes nach der bisherigen 58er- oder
59er-Regelung.
Mit dem einzigen, nicht unwesentlichen Unterschied, daß der Blüm'sche
Entwurf die finanzellen Lasten mehr vom Staatshaushalt weg auf die Mittel-
und Großbetriebe und die Betroffenen verschiebt.
Dies alles auf dem Hintergrund, daß sich die in einem Boom befindlichen
Automultis einen Streik kaum leisten können.
Daß der Blüm'sche Schachzug erfolgreich sein könnte, deutete zunächst auch
der Beifall der rechtssozialdemokratischen, mehr betriebs- als
sozialpartnerschaftlich orientierten Gewerkschaften unter Führung der IG
Chemie an.
Bis hierhin fügt sich alles noch in ein weitverbreitetes Bild.
Während die Unternehmer noch in verschiedenen Städten der BRD auf die
Straße gehen, wird Anfang Januar im Manager Magazin erstmals von dieser
Seite die Vorruhestandsregelung öffentlich in Frage gestellt. Der Weg nach
Silicon Valley (gemeint ist das in wenigen Jahren mit sog. Risikokapital
aus dem Boden gestampfte kalifornische Mikroelektronikparadies) führt nicht
über die subventionierte Frührente, verbunden mit der abschließenden
Fragestellung, wieviel der soziale Friede eigentlich wert sei.
Während Anfang Februar BMW-Chef Kuenheim auf der Bilanzpressekonferenz
seines Konzerns verkündete, in der Frage der Wochenarbeitszeitverkürzung
sei kein Kompromiß möglich und damit droht, das geplante Werk in Regensburg
im Fall ihrer Durchsetzung nicht zu bauen, ist in dem bereits zur gleichen
Zeit an den Kiosken ausliegenden Monatsjournal Capital7 aktueller als
jede Tageszeitung just jenes Zitat als kürzlich geäußert schon
nachzulesen. Eingebunden in einen Bericht, wonach derzeit bei BMW die
36-Stunden-Woche als Kompromiß favorisiert werde und zwar an vier Tagen
je 9 (!) Stunden, verbunden mit regelmäßiger Samstagsarbeit. Darüber
Ausdehung der Betriebszeit von jetzt 80 Stunden. (6Tage M-` 16 Stunden = 3
Schichten M-` 86 Stunden)
Die am gleichen Tag erscheinende Wirtschaftswoche schlägt in dieselbe
Kerbe: Es besteht im übrigen kein Gegensatz zwischen Arbeitszeitverkürzung
und Arbeitszeitflexibilisierung. Im Gegenteil: Eine 35-Stunden-Woche läßt
sich sogar noch flexibler handhaben als die gegenwärtige
40-Stunden-Woche.
Auch der neuste Stern8 (5/84) weiß aus dem eigenen Lager zu berichten,
daß der für die IGM-Tarifpolitik zuständige Jannsen eine verbindliche,
starre Arbeitszeitsregelung wie etwa den 7-Stunden-Tag nicht anstrebe.
Er denke an Blockfreizeiten, Freischichten, an Mischmodelle zwischen
längerer Tages- und kürzerer Nachtarbeit. Über die jeweilige Regelung
sollten die Betriebe selbst entscheiden! Es dauert nun keine zwei Tage, da
macht auch die IG Chemie einen Schwenk: wurde bisher eindeutig eine
Lebensarbeitszeitverkürzung favorisiert, empfiehlt der Hauptvorstand den
regionalen Tarifkommissionen nun die Verkürzung der Wochen- und
Lebensarbeitszeit. Verstärkt wird nun auch von gleicher Seite die seit
langem bekannte finanzielle Ausgestaltung der Blüm'schen
Vorruhestandsregelung kritisiert.
Die ungebrochenen verbalen Attacken und öffentlichen Auftritte vor allem
der Lobbyisten der Klein- und Klitschenbetriebe, die in diesem Konzept
real sowieso nix zu sagen haben und der Funktionäre von Gesamtmetall
sind die notwendige Begleitmusik, um eine Kompromißformel auf der Basis des
BMW-Modells durchzuboxen: weitgehendes Entgegenkommen in punkto
35-Stunden-Woche gegen totale Arbeitszeitflexibilisierung. Mithin Geben
und Nehmen auf beiden Seiten (Capital).
Für den Gewerkschaftsapparat wäre ein evtl. 36-Stunden-Abschluß (denkbar in
2 Etappen, z.B. 1985 oder 1986: 38 Stunden; 1988: 36 Stunden) ein
vorweisbares Traumergebnis, ein Sieg mit bitterem Nachgeschmack
allerdings.
Für's Kapital hieße das: Wiedereinführung der Samstagsarbeit (für die dann
der 25 %-Zuschlag incl. weiterer Zugeständnisse entfiele), 6-Tage-Woche und
Aufhebung des 8-Stunden-Tages. (Das jüngst mit großem Hallo in allen Medien
publizierte Beispiel der Gummiwerke Fulda zeigt denn auch vorbildlich, wo
der Hase langläuft: 38,5 Wochenstunden auf dem Papier = 44 Stunden plus
Samstagsarbeit die Reifenindustrie erlebt derzeit im Gefolge der
Autoindustrie einen Boom und dafür entsprechend Freizeit). Damit, über
die Verringerung der Totzeit, bessere Auslastung und schnellerer Umschlag
des fixen Kapitals, mithin eine Reduzierung der auf die Profitrate
drückenden fixen Kapitalkosten. Ein Modell, das nicht nur auf die
unmittelbaren Produktionsabteilungen, sondern auch auf die privilegierten
Facharbeiter-, Techniker- und Angestelltenschichten anwendbar ist (neben
6-Tage-Woche Einführung der Schichtarbeit). Darüberhinaus sind hierbei
einer verschärften Arbeitszeitintensivierung keine Grenzen gesetzt. So hat
sich die IGM auch ganz bewußt gegen eine Verbindung der
35-Stunden-Forderung mit einer Definition der Arbeitsbedingungen
entschieden.
Die Frage des Lohnausgleichs ist dabei vor allem aus zwei Gründen nur von
geringer Bedeutung:
1. meinte die bewußt diffus gehaltene Forderung von vollem Lohnausgleich nie Reallohnausgleich,
2. wurde die IGM von Anfang an nicht müde zu betonen, daß ein Lohnausgleich bei den Lohnverhandlungen berücksichtigt werde. Erst Anfang Februar wieder machte IGM-Mayr in einem Interview mit dem Handelsblatt folgende Rechnung auf: 1984 fordere die IGM nur eine Lohnerhöhung in Höhe der Inflationsrate (3 %). Ohne Arbeitszeitverkürzung aber müßte sie 1984 höher sein als 1983, wo sie 7 % betragen habe und mit 3,2 % abgeschlossen wurde.
Hiernach ist der Lohnausgleich also reine Definitionssache. Das zeigt auch folgende Rechnung
Geht mensch von einer 36-Stunden-Regelung aus, so käme allein der nominale Lohnausgleich fürs Kapital einer Lohnerhöhung von insgesamt 11,1 % gleich. Bei der üblichen 5-jährigen Geltungsdauer des Manteltarifvertrags wären dies im jährlichen Schnitt 2,22 %.
Wenn die IGM nun 3 % zusätzlich fordert, meint sie damit erfahrungsgemäß 1,3 bis 1,4 %. Macht summa summarum
3,5 bis 3,6 %, also
das Übliche.
In diesem Zusammenhang erscheint uns noch bemerkenswert, daß die
gewerkschaftsoppositionellen Gruppen die Frage des Lohnausgleichs in ihren
Einzelkritiken nie problematisiert haben ganz zu schweigen von grünen
Ökologen, die einen Lohnausgleich, von wegen Konsumverzicht (für die
Massen, versteht sich) am liebsten ganz vom Tisch hätten.
Dem Gewerkschaftsapparat wäre mit der angedeuteten Kompromißformel in
zweierlei Hinsicht gedient:
1. Durch die damit erforderliche Ausweitung der Schichten (z.B. dann 3
Schichten statt bisher 2) wäre der weitere Abbau der Mitgliederbasis in den
Großbetrieben zunächst gestoppt. In diesem Sinn rechnete auch der
Vorsitzende der DPG van Haaren Anfang Februar folgendes vor: die Post wolle
in den nächsten Jahren 30.000 Arbeitsplätze wegrationalisieren. Werde nun
die 35-Stunden-Woche durchgesetzt, so bedeute dies rein rechnerisch 70.000
neue Arbeitsplätze. Selbst wenn über Rationalisierung (gemeint ist
Arbeitsintensivierung) die Hälfte davon unterlaufen werde, blieben immer
noch 35.000.
2. Auch wenn es der Apparat bislang noch nicht geschafft hat, seine aus
Erfahrung zu Recht mißtrauische Basis für den großen Kampf zu mobilisieren,
so doch seine in- wie externe linke Opposition, trotz oder besser wegen
aller Detailkritiken. Und das ist ihm nicht weniger wichtig.
Allenthalben werden die Messer gewetzt und in diesem Zusammenhang gar von
Nur noch die Utopien sind realistisch (Oskar Negt9 in der TAZ) gesabbert.
Im Fall eines Streiks dürfte der Schulterschluß dann ein totaler
sein.
Und das ist exakt der Punkt, an dem sich das sozialpartnerschaftliche (IGM)
gegenüber dem betriebspartnerschaftlichen (IG Chemie) Gewerkschaftsmodell
für das Kapital beweisen kann. Dabei ist nicht die Frage ob, sondern WIE
die totale Arbeitszeitflexibilisierung auf gesamtgesellschaftlicher Ebene
am konfliktfreiesten durchgeführt werden kann. Einzelbetriebliche Lösungen,
wie z.B. in den Chemiekonzernen seit einiger Zeit praktiziert, sind für's
Kapital (auch intern, z.B. in Bezug auf die Kleinbetriebe) erstmal der
bequemere und vielleicht auch billigere Weg.
Das hat allerdings auch viel damit zu tun, daß in diesem Sektor
oppositionelle Tendenzen bislang erfolgreich aus welchen Gründen auch
immer ein- und ausgegrenzt werden konnten.
Dem gegenüber basiert das sozialpartnerschaftliche Modell der IGM
prinzipiell mehr darauf, die Linke in die kapitalitische Krisenstrategie
produktiv mit einzuspannen (ohne jedoch darauf zu verzichten, wenn nötig
kritische Teile auszuschließen).
Auf den konkreten Fall bezogen heißt das: wenn sich die Situation auf die
Alternative: keine Arbeitszeitverkürzung Arbeitszeitverkürzung gegen
Flexibilisierung zuspitzt, wird auch die Linke, wenngleich mit
knirschenden Zähnen, der letzteren den Vorzug geben. Die bittere Pille
einmal mitgeschluckt, werden sie dann auch das Maul halten müssen.
Wenn IGÖize Steinkühler am vorletzten Februarwochenende auf einer
35-Stunden-Solidaritätskonferenz im Frankfurter Holiday Inn von dem
schweren Weg in die 35-Stunden-Woche sprach, der mit großen Opfern
verbunden sein kann, so meinte er genau das. An wen dagegen sein Appell
gerichtet war, daß die Gewerkschaften im Fall eines Scheiterns gebrochen
seien würden und auf viele Jahre nicht mehr Hoffnungsträger sein
könnten, ob nun an die Basis, die Linke, das Kapital oder alle
gleichermaßen, kann dahingestellt bleiben.
Alles hat seinen Preis. Das war schon vor 60 Jahren so!
Die gelben Firmengewerkschaften wurden in Deutschland 1918 aufgelöst. Das Zugeständnis, Anerkennung der Gewerkschaften und vorübergehende Einführung des 8-Stunden-Tages wurde in der Zentralarbeitsgemeinschaft ausgehandelt. Von AEG-Chef Rathenau als Reaktion auf die revolutionären Kämpfe der Klasse initiiert, war sie ein Pakt zwischen Kapital und Gewerkschaften. Auf deren offizielle Anerkennung erfolgte im Gegenzug die blutige Niederschlagung der Arbeiteraufstände durch die Sozialdemokratie in der Ära Noske.10 Der Sekretär der Zentralarbeitsgemeinschaft hieß übrigens Hans Böckler. Er gelangte später als legendärer Führer des DGB zu Ruhm und Ansehen.
Die Kampagne um die 35-Stunden-Woche auf das zu reduzieren, was
sie bestenfalls ist, nämlich der Kampf zweier Linien um die beste Strategie
für die Durchsetzung der Flexibilisierung ist eine Sache. Eine Sache, für
die angesichts des gesunden Mißtrauens in den Betrieben die Zeichen gar
nicht so schlecht stehen wenn die Linke sich nicht weiterhin bereitwillig
vor fremde Karren spannen läßt.
Eine ganz andere Sache ist es, das, was die 35-Stunden-Kampagne zum Teil
jedenfalls vorgibt zu sein, in- und außerhalb der Betriebe tatsächlich
anzupacken: der Kampf gegen die vom Kapital abverlangte Zwangsmobilität und
-flexibilität, gegen die technologisch vermittelte Restrukturierung von
Fabrik und Gesellschaft im Sinne von sozialer Desorganisation der Klasse,
Vereinzelung, Ausgrenzung, Verelendung und Vernichtung.
Die Desorientierung und Verunsicherung der Linken als wesentliche
Voraussetzung für die Bereitschaft, breite diffuse Bündnisse in der
Hoffnung einzugehen, dort von innen her etwas aufzubrechen und bei allen
Detailkritiken schließlich doch den Schritt in die richtige Richtung
herauszudeuteln, hat sicher neben subjektiven vor allem objektive
Ursachen.
Mit dem Abflauen der autonomen Revolten der frühen 70er, die auch im
Reproduktionsbereich sowohl die verschiedenen Klassensegmente
repräsentierten, als sich auch zumindest inhaltlich den Kämpfen der
Massenarbeiter zuordneten, reduzierte sich die Thematisierung des
Klassenantagonismus langsam aber sicher und blieb letztlich auf
theoretische Zirkel beschränkt. Der Rückzug überwiegender Teile der
damaligen radikalen Linken ins Alternative vermittelte psychologisch
Resignation und bedeutete politisch einen Bruch in der Vermittlung von
Kontinuität und historischen Erfahrungen.
Unter anderem mit dem Ergebnis, daß sich die Kämpfe im Reproduktionsbereich
vor allem inhaltlich vom Bezug zum Produktionsbereich entfernten.
Dementsprechend günstig sind heute, wo die soziale Frage diesmal vom
Kapital neu definiert und in Angriff genommen wird, die Erfolgsprognosen
reformistischer Integrations- und Vereinnahmungstendenzen.
Und das allgemein verbreitete Gefühl, mit dem Rücken an der Wand zu stehen,
trägt sicher auch nicht gerade dazu bei, den Blick zu schärfen.
Es mag auch bequemer sein, sich an die Spitze einer Kampagne zu setzen
und deren Ziele und Forderungen, die mensch weder formuliert hat, noch
überblickt, mit den eigenen mehr oder minder revolutionären Projektionen zu
überlagern.
Schlimm daran ist weniger, daß so betriebene linke Politik inkonsequent
ist. Schlimm sind vielmehr die Auswirkungen. Zimmert doch die Linke durch
ihre Beteiligung aktiv an der Verfestigung der verbreiteten Resignation und
Perspektivlosigkeit mit, wird unglaubwürdig und fällt damit auch als
möglicher Bezugs- und Orientierungspunkt der Klasse flach.
Wie die politische Strategie im Gegenzug auszusehen hat, können wir auch
nur vage umreißen. Es kann dabei aber ohnehin nicht um Patentrezepte und
-programme gehen. Ergebnisse kann da nur eine massive und massenhafte
auch theoretische Auseinandersetzung bringen, in der es zunächst darauf
ankommt, entlang der Klassenlinie die zweifelsohne verschütteten
antagonistischen Tendenzen aufzuspüren und freizulegen.
Das heißt: auf der einen Seite autonome sozialrevolutionäre Positionen zu
entwickeln wenn sie auch vorerst minoritär bleiben werden , die das
Kapitalprojekt definieren und auf seine möglichen Bruchstellen hin
abklopfen. Und es heißt auf der anderen Seite, sie alsbald praktisch und
organisatorisch zu thematisieren und sie sowohl auf Massen- (politischer),
wie auf militanter Ebene voranzutreiben.