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Über die Fortsetzung eines Skandals - | Über dieses Dokument, Download |
Hätte es die Stasi nicht gegeben, wären viele Geisteswissenschaftler im Westen arbeitlos, Journalisten und Schriftsteller wüßten nicht mehr, über was sie schreiben sollen, den sogenannten »DDR-Dissidenten« würde ihr Lebenssinn verloren gehen, den Ossis ein wesentlicher Bestandteil ihrer Ostidentität abhanden kommen und selbst das Nürnberger Arbeitsamt hätte Schwierigkeiten, seine Angestellten sinnvoll zu beschäftigen, die sich seit Dezember 1994 damit abmühen dürfen, Aktenschnipsel wieder zusammenzufügen und zusammenzukleben. Auf diese Weise hat die Wiedervereinigung doch noch einen Sinn bekommen und die Stasi einen Beitrag zur Überwindung der Schwierigkeiten beim Zusammenwachsen der zwei deutschen Staaten geleistet.
Heute läßt sich kaum mehr vorstellen, womit die Zeitungen ihre Seiten gefüllt und die Fernsehsender ihre Programme gestaltet hätten, wäre da nicht der Mauerfall und seine Folgen gewesen. Journalisten, die sich immer etwas Neues ausdenken mußten, um im Geschäft zu bleiben, öffnete sich die Büchse der Stasihinterlassenschaft. Die Jahre des Grübelns waren vorbei, die Stasi hatte für den Stoff gesorgt, an dem sich ganze Generationen von Autoren nähren können, die Stasi ist der Ideenlieferant für Talk-Shows, Kabarett, Theaterinszenierungen, Podiumsdiskussionen und dem anschließenden Abdruck des Protokolls, für Features, Feuilleton und Tagesthemen. Sie ist ein Quell der Inspiration für Verlage, Drehbuchautoren und Krimischreiber. Wieviel das öffentliche Leben der Bundesrepublik der Stasi verdankt, das wissen diejenigen am besten, die am meisten vom schlechten Ruf dieses Vereins profitiert haben. Noch im Jahre 5 der neudeutschen Zeitrechnung vergeht kaum ein Tag, an dem die Stasi nicht für eine Schlagzeile sorgt und nicht mit einer neuen Geschichte präsent ist.
Jahrzehntelang hingen ehemalige 68er am Tropf der Bundesanstalt für Arbeit, weil es für den Abschluß des damals so beliebten Studiums der Geisteswissenschaften keine Verwendung mehr gab, nachdem die C4-Professuren an der Universität unter ihnen aufgeteilt, die Redaktionen der Zeitungen und der Rundfunkanstalten besetzt waren und auch die Programmkommission der SPD niemand mehr benötigte. Das änderte sich erst mit der Wiedervereinigung und der Übernahme der riesigen Aktenberge, die die Stasi der Nachwelt vermacht hatte. Wer jetzt keinen Job bekam, war selber schuld, und so geschah es, daß die arbeitslosen Geisteswissenschaftler doch noch einer gemeinnützigen Arbeit zugeführt werden konnten, einer Arbeit übrigens, die maßgeschneidert auf die Altlinken paßte, denn niemandem konnte eine größere Freude mit der Aufarbeitung der DDR-Geschichte gemacht werden als jenen, die nach langen Jahren des Studiums der Schriften von Mao, Enver Hodscha, Trotzki und Lenin mit der gesellschaftlichen Bedeutungslosigkeit ihres Wissens konfrontiert wurden und deshalb auch einmal ein nützliches Rädchen im Getriebe von Staat und Gesellschaft sein wollten. Sie legten einen Eifer und kriminalistischen Spürsinn an den Tag, weil sie sich dafür rächen wollten, daß die Ideologie, der einst ihre Jugendliebe galt, ihnen nicht den Erfolg und Ruhm eingebracht hatte, den sie sich insgeheim immer versprochen hatten. Jeder normale Mensch würde sich noch mit der Lektüre eines Telephonbuchs vom Studium der Dokumente erholen, die kleinbürgerliche Ressentiments, eifriges Denunziantentum und devote Beflissenheit ausdünsten. Nicht so der in den SED-Archiven untergekommene Altachtundsechziger, der sich wundert, daß es stinkt, wenn er an der Mülltonne schnuppert, und dem es ein Erfolgserlebnis ist, wenn er eine kleine Verästelung im Stasigewebe aufgedeckt hat. Und ob es nun die Gespräche zwischen Honecker und Kohl, irgendwelche Ergebensheitsadressen und Hymnen auf die DDR sind oder IM-Berichte an die Stasi, man erfährt es von ihm.
Journalisten, die sich früher auf das Verhältnis von Deutschen und Juden spezialisiert hatten, haben umgesattelt und dank der Stasi ein neues Tätigkeitsfeld entdeckt, das so inspirierend auf sie zu wirken scheint, daß sie von sich nur noch in der Mehrzahl sprechen. Und auf die gleichen Journalisten, die sich früher gerne über den Gegenstand ihrer Kritik lustig gemacht haben, wirkt die Stasi wie ein moralischer Weichspüler, denn sie bekommen eine getragene und belegte Stimme, wenn sie vom »Unrechtsstaat und Terrorregime« DDR reden. Von Broder und seinem alter ego Henryk M. erfährt man dann, daß Herr T. seinen Nachbarn Herrn S. bespitzelt hat. Herr T. wurde in den Akten als IM Schneemann geführt und berichtete der Stasi darüber, daß Herr S. mit seiner Familie nach Ungarn reist und »trotz seiner Invalidität viel mit dem PKW unterwegs ist«. Als normales nachbarschaftliches Verhältnis ließe sich das bezeichnen und niemand fände das auch nur erwähnenswert, wäre da nicht die Institution Staatssicherheit, durch die erst ein alltägliches Ereignis zum belanglosen Aktenvorgang wird und sich als Artikel für den Abdruck im Spiegel qualifiziert.
Aber durch solche Vorgänge beweist sich nicht gerade ihre Gefährlichkeit oder Heimtücke. Stattdessen hat die Stasi vielmehr als eine Art Seelsorger gewirkt, der man alles anvertrauen konnte und die Mitteilungen ihrer Bürger Bedeutung dadurch verlieh, indem sie sie archivierte. Die Stasi war eine soziale Einrichtung, die den Kümmernissen der DDR-Bevölkerung eine fast liebenswürdige Aufmerksamkeit geschenkt hat. Für die Zeit nach ihrem Ableben hat sie Vorsorge getroffen, als sie das ethnologische und statistische Interesse an ihrer gemeinnützigen Tätigkeit berücksichtigte. Als vielleicht etwas primitiver Vorläufer von Infas standen ihr ein Apparat, siebzehn Millionen auskunftwillige Bürger und staatlich garantierte Arbeitsmöglichkeiten zur Verfügung, die Elisabeth Noelle-Neumann vor Neid erblassen lassen dürften. Diese in vierzig Jahren zusammengetragenen Umfrageergebnisse hat sie nun freundlicherweise dem Westen zur Auswertung überlassen.
Und was wäre mit den Opponenten des ehemaligen DDR-Regimes, wenn sie sich nicht an der Stasi abarbeiten dürften, wenn sie die Stasi nicht zumindest als Schimäre hätten, um über sie zu debattieren, sie zu analysieren und zu verurteilen? Gerade die heute im Wiedervereinigungsprozeß so sang- und klanglos untergegangenen ehemaligen Dissidenten haben es verdient, daß es da noch etwas gibt, aus dem sie auch heute noch Selbstwertgefühl schöpfen können, eine in ihrer Bedeutung allgemein anerkannte Institution, von der sie behaupten können, daß diese einmal ihr Gegner war. Und weil, wie alle zutiefst bedauern, es so erbitternd ist, daß ausgerechnet von den ehemaligen Bürgerrechtlern niemand mehr spricht, die doch schließlich die »erste friedliche Revolution auf deutschem Boden« gemacht haben, muß man es der Stasi hoch anrechnen, daß wenigstens sie sich auch nach 1989 um die Verlierer der Einheit kümmert. Wer würde denn heute noch mit dem Namen Jürgen Fuchs etwas anzufangen wissen, wenn er sich nicht mit dem auf die Stasi gemünzten »Auschwitz in den Seelen« unsterblich gemacht hätte, wem würde der Name Bärbel Bohley noch etwas sagen, wenn nicht ein bißchen vom Glanz der bekannten IMs mit den Decknamen »Notar« und »Sekretär« auch auf sie fallen würde, wer würde sich gar an Vera Wollenberger erinnern, wenn sie nicht mit dem Stasi-Mann »Donald« verheiratet gewesen wäre, und wer wollte bezweifeln, daß erst durch seine Beschäftigung mit Stasis und IMs sich auf Wolf Biermann wieder die Kameras zu richten begannen, nachdem es um ihn nach seiner Ausbürgerung still geworden war? Hat die Stasi durch diese fürsorgliche Tätigkeit etwa keinen Dank verdient, indem sie sich selbst um die bedürftigen Mitglieder der Gesellschaft kümmerte, die sich von der Medienöffentlichkeit so sträflich ignoriert fühlen?
Aber nicht nur auf eine gesellschaftliche Randgruppe hat die Stasi sozialtherapeutisch gewirkt. Sie hat auch den vom Wiedervereinigungsprozeß arg gebeutelten Ossi wieder zu Selbstvertrauen und Identität verholfen. Nicht irgendeiner Identität, sondern der spezifisch ostdeutschen Identität. Davon zeugte das mutige Auftreten von zwei beliebten ostdeutschen Rundfunkredakteuren, die der Mitarbeit bei der Stasi bezichtigt wurden bzw. sich selbst geoutet hatten. Etwa zweitausend Menschen zogen daraufhin in die Berliner Volksbühne, doppelt so viele wie diese aufnehmen konnte, um ihren gefallenen Helden aus dem Äther zuzujubeln. Der Applaus galt ihnen als Symbol für den ostdeutschen Widerstandsakt, bis zuletzt geschwiegen und sich geweigert zu haben, die eigene Biographie wegzuwerfen, für Ausdauer und Beharrungsvermögen, alles Tugenden, die sich ohne die Stasi überhaupt nicht hätten bilden können. Selbst Sascha Anderson, der dank seiner Stasikontakte vor einigen Jahren einmal kurzfristig im Rampenlicht der Öffentlichkeit stand und seitdem gründlich vergessen wurde, wurde von einer warmen Woge der Sympathie umspült. Die Stasi als identitätsbildendes Mittel wurde bislang nie richtig gewürdigt, obwohl es doch leicht einsichtig ist, daß der Vereinigungsprozeß nur dann von Erfolg gekrönt sein wird, wenn auch die Ostdeutschen Grund haben dürfen, stolz auf ihre Vergangenheit zu sein. Da sollte ihnen niemand hineinreden, denn schließlich mischen sich die Ostdeutschen auch nicht ein, wenn man im Westen nach nationaler Identität schürft und sich dafür aus der unrühmlichen Geschichte bedient.
Alles triftige Argumente, die die Unverzichtbarkeit der Stasi unter Beweis stellen. Hat sie sich nicht schon in Zeiten, als die DDR noch existierte, vor allem auch als Arbeitsbeschaffungsmaßnahme bewährt? Und hat sie diese sehr lobenswerte arbeitsmarktpolitische Maßnahme nicht auch nach ihrer Auflösung erfüllt, als ihr Erbe von der Gauck-Behörde übernommen wurde? Statt sie also zu stigmatisieren, sollte man den hohen Grad an Kompatibilität und die vielseitige Verwendung berücksichtigen, die sie bei allen möglichen Gruppen und Individuen der Gesellschaft gefunden hat. Als Medizin täglich verabreicht, verleiht sie die Kraft der sieben Herzen, und in ihrer always ultra-Funktion ist sie sowohl moralisch reinigend als auch sozial verträglich. Sie paßt auf jeden Kirchentag, denn sie gibt Leuten Hoffnung, die ihre Zukunft bereits hinter sich hatten. Sie ist die Chance der großen Versöhnung, von der alle reden. Sie ist die Würze am Einheitsbrei, den alle auslöffeln müssen. Kurz, der Stasi sollte das Bundesverdienstkreuz verliehen werden. Schließlich hat Martin Walser auch den Dolf-Sternberger-Preis bekommen, ohne daß es irgendeinen Zusammenhang zwischen Autor und Preis gibt, was von den vaterländischen Verdiensten der Stasi nicht behauptet werden kann, denn sie hat den größten Nervensägen im Land zu ihrem Ausdruck verholfen. Und aus diesen Gründen muß den Befürwortern der Stasi-Schlußstrichdebatte klar gemacht werden: Keine Schließung der Stasiakten, niemals!
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