Inhalt | Karl Heinz Roth: Auf dem Glatteis |
Karl Heinz Roth: Auf dem Glatteis | 2. Metropolitane Varianten des neuen Akkumulations- |
Eine Gegenwart muß immer von der Vergangenheit abgetrennt werden. Die vergangene Epoche war die Epoche von Ford und Keynes. Eine Epoche, in der die Beziehung zwischen Massenproduktion, Massenarbeit und Einkommensgarantie mit dem Anspruch auf Vollbeschäftigung gekoppelt war. Eine Epoche, in der es einen konstanten Ausgleich der inneren Instabilität der Kapitalakkumulation durch staatliche Nachfragemobilisierung gegeben hat. Diese Epoche wurde Ende der sechziger, Anfang der siebziger Jahre in die Krise gestürzt. Einmal von unten, durch die Sozialrevolte, die damals internationale Dimensionen angenommen hatte. Und danach, 1971-73 - ausgehend von den USA und den internationalen Wirtschafts- und Finanzeliten -, wurde diese Krise von oben vertieft. Die ökonomischen Folgen sind bekannt. Wichtig scheint mir der Hinweis, daß diese Krise - wie meiner Meinung nach alle Krisen - gemacht wurde, und zwar von unten, und danach - im Gegenzug - von oben.
Seit den siebziger Jahren konturiert sich nun allmählich das Ufer des gegenwärtigen Zeitalters. Es ist einmal geprägt durch die Internationalisierung des Krisenangriffs durch das Finanzkapital, das über neue Geld- und Bondmärkte die Emanzipation der Zinssätze von den fallenden Profitraten erzwungen hat. Und es ist zweitens charakterisiert durch eine »monetaristische Konterrevolution« (Milton Friedman), die zuerst in den Volkswirtschaften der damaligen Schwellenländer begann, dann in die Metropolen USA und England übertragen wurde und zuletzt im Implosionsprozeß des osteuropäischen Staatskapitalismus geendet hat. Die Hauptcharakteristika dieser Konterrevolution sind bekannt: Budgetrestriktionen, Sozialabbau, Kreditsperren gegen überakkumulierte Schlüsselsektoren, Liberalisierung des Außenhandels, Kapitalexporte in Niedriglohngebiete, Privatisierung des staatlichen Kapitalbudgets (Transportsektor, Telekommunikation usw.) und nicht zuletzt Zerschlagung der tarifpolitisch regulierten Arbeitsmärkte, das heißt der integrierten Arbeiterbewegung zusammen mit und nach den aufbegehrenden Fraktionen der neuen Linken.
Die Folgen sind seit den achtziger Jahren absehbar. Die sozialstaatliche Regulation, der Klassenkompromiß, wurde von der kapitalistischen Investitionspolitik entkoppelt. Kostenfaktoren der Einzelunternehmen werden seither immer mehr auf gesamtwirtschaftliche Strukturen abgewälzt. Es kam in der Folge zur Umwandlung der Sozialstaaten. Nach dem Verlust ihrer Währungs-, Zins- und zunehmend auch ihrer Steuersouveränität erlebten wir ihre Umwandlung in konkurrierende Staubecken totalisierter Kapitalmärkte. Der Transportsektor und damit - in keynesscher Terminologie - das gesamte Kapitalbudget des Staatssektors wurde Teil der inneren Kapitalakkumulation. Das Ergebnis war weltweit die Herausbildung einer neuen industriellen Reservearmee, ein Trend zur Massenverelendung bei allgemeiner Polarisierung der Gesellschaften in Arm und Reich auf der Verteilungsebene. Wir haben also die Wiederkehr von Proletarität im Rahmen eines normalisierten, quasi vorkeynesianischen Krisen- und Akkumulationszyklus zu konstatieren. Trotz aller Phasenverschiebung handelt es sich dabei um eine Wiederkehr im Weltmaßstab. Nach der Niederlage der Sozialrevolten und dem Untergang des Realsozialismus ist dieser vorkeynesianische und zugleich neue Kapitalismus zur Tagesordnung übergegangen.
Wie sieht dieses neue Zeitalter aus der Sicht von unten aus? Aus der Sicht von unten dominiert die endgültige Zerstörung der agrarischen Subsistenzproduktion [Produktion zum Lebensunterhalt] in der Peripherie und Semiperipherie des Kapitalismus. Die Expropriierten werden zu Millionen in latente Bestandteile der industriellen Reserverarmee umgewandelt. Nur ein Bruchteil von ihnen wird im internationalen Agrobusiness absorbiert. Der größere Teil ist zur Abwanderung in städtische Agglomerationen gezwungen worden. Wir haben seit Mitte der Siebziger und vor allem in den achtziger Jahren in diesen Agglomerationen die Entstehung neuer Schwitzbudensektoren erlebt, die höflich als informeller Sektor bezeichnet werden. Der zunehmende Stadt-Land-Gegensatz in der Pauperisierung [Verarmung] wurde teilweise gegenläufig aufgehoben durch zirkulierende Migrationsbewegungen. Sie stellten gleichzeitig eine Verbindung zum schrumpfenden formellen Sektor der Krisenbranchen her. Dieser allgemeine Mobilisierungsprozeß des neuen Proletariats wurde in den Metropolen ergänzt durch die Einschränkung der Sozialbudgets zur Absicherung proletarischer Existenzrisiken (Alter, Krankheit, Invalidität und vor allem Arbeitslosigkeit). Die mehr und mehr dem Hire-and-Fire-Prinzip ausgelieferte aktive Arbeiterarmee wird parzelliert, segmentiert, verkleinert und immer häufiger flexibel ausgewechselt. Hinzu kommen besondere Ausgrenzungsformen, beispielsweise gegenüber Ausländern, denen in den Metropolen zunehmend eine Sündenbockfunktion zugewiesen wird. Damit soll von den eigenen Ängsten und Erfahrungen im permanenten Entsolidarisierungsprozeß abgelenkt werden.
Die Quantitäten dieser neuen, angebotsorientierten Arbeitsmarktstrukturen sind bekannt. 150 Millionen Menschen befinden sich heute auf Wanderschaft innerhalb und außerhalb ihrer Länder und Kontinente. 120 Millionen sind offiziell arbeitslos, davon 38 Millionen in den OECD-Ländern. 500 Millionen - etwa 100 Millionen Familien - vegetieren als enteignete kleinstbäuerliche und Squatterfamilien im neuen pauperistischen Sektor als Bondlabour [Leiharbeit], als selbständige Arbeiter, als Saisonarbeiter und Jobber. In den Metropolen erleben wir den Übergang von Welfare zu Workfare [Welfare: Wohlfahrt]. Gleichzeitig werden bis zu 30 Prozent der Arbeitsverhältnisse - in einigen Ländern sind es noch mehr - entgarantiert. Es entstehen Niedriglohnsektoren. Prekäre Arbeitsverhältnisse setzen sich durch. Weltweit sehen sich die Proletarierinnen und Proletarier mit einer neuen Qualität des Verwertungsanspruchs konfrontiert, mit - überspitzt formuliert - einer Vollbeschäftigungsstrategie auf pauperistischer Basis. Denn weltweit geht nicht die Arbeit aus, sondern die Einkommen sinken. In den Beziehungen zwischen deregulierten Arbeitsmärkten und Mehrwertketten kann deshalb nicht mehr zwischen Ausbeutung für normale und parallele Kapitalakkumulation unterschieden werden, wie dies Rosa Luxemburg noch für die Verhältnisse zu Beginn des Jahrhunderts wahrnahm. In gewisser Weise wird heute die Eroberung der nichtkapitalistischen Sphären und ihre Umwandlung in Bestandteile des Akkumulations- und Krisenzyklus abgeschlossen, und zwar als Massenerfahrung.
Mir scheint es wichtig, diese Fakten, die auf den ersten Blick sehr banal wirken, doch einmal zu resümieren, weil ich glaube, daß wir die internationalen Dimensionen der heutigen Gesellschaftsprozesse ins Auge fassen müssen.
Wie sieht das neue Zeitalter aus der Sicht von oben aus? Es ist charakterisiert durch eine wiederhergestellte internationale Despotie des Kasino-Finanzkapitals. Die Einkünfte aus Geldvermögen überflügeln weltweit die produktiven Unternehmergewinne. Die Rentierschichten haben sich in den letzten zwei Jahren weltweit verdoppelt bis verdreifacht. Diese Rentierschichten mobilisieren die Bodenmärkte und die entnationalisierten Transportsphären - vor allem Transport- und Geldmärkte sowie Dienstleistungen. Sie plündern als Rentiers der Staatsverschuldung die Staatshaushalte. Spekulation, antisozialer Egoismus und allgemeine Bereicherungssucht werden von ihnen als Kernelemente einer neuen kulturellen Hegemonie beansprucht.
Das zweite wesentliche Charakteristikum sehe ich im Prozeß der Unternehmensrationalisierung: Vom Postfordismus und Toyotismus zum Akkumulationstyp à la Hollywood. Unter dem Hochzinsdiktat und der Liquiditätspräferenz »lieber sparen statt investieren« wurden vielfältige Initiativen zur Wiederherstellung des produktiven Unternehmergewinns gestartet. Zu Beginn der achtziger Jahre wurde eine Konzeption der flexiblen Automatisierung versucht. Das computerintegrierte Manufacturing wurde proklamiert. Es scheiterte an der Rigidität der Arbeiter. Mitte der achtziger Jahre wurde weltweit das »3. Italien« mit seinen innovativen Klein- und Mittelunternehmen und den angeschlossenen Subunternehmen und selbständigen Arbeiterinnen und Arbeitern entdeckt. »Small is beautiful«, tönte es durch die Lande, der Postfordismus assoziierte sich mit grünalternativen Denkstrukturen. Währenddessen akkumulierte ein neues System der Benettonschen Netzwerkunternehmen. Es kam zu einer Zentralisation des Kapitals ohne eine Konzentration der Produktionsstrukturen.
In der 2. Hälfte der achtziger Jahre wandten sich dagegen die internationalen Konzernkonglomerate vor allem der Autoindustrie dem sogenannten Toyotismus zu, einem japanischen Produktionsmodell, das nach der blutigen Zerschlagung der japanischen Arbeiterklasse Mitte der sechziger Jahre dort entwickelt worden war. Es wurde nur partiell übernommen. Die Einfriedungsstrukturen, beispielsweise die »company unions« und die »company worlds« [Betriebsgewerkschaften und Betriebswelten], die Beherrschung ganzer Regionen durch die Familienkonzerne (Zaibatsu) waren natürlich nicht transferierbar. Man paßte sich der Produktionsstruktur an. »Lean Production« wurde zum Schlagwort. Die Verbindung von Arbeitsprozeß und Produktkontrolle, Just-in-time (Kanban), die Ausbildung von Zulieferketten nach einem Supermarktmodell, der kontinuierlich verbesserte Produktionsprozeß, das Teamwork, die Qualitätszirkel: Diese Schlagworte waren in der 2. Hälfte der achtziger Jahre noch neu - heute haben sie sich weitgehend durchgesetzt. Das Produktionsmodell selbst hat sich aber nicht durchgesetzt, denn seine begrenzte Übernahme als »management by stress« brachte keinen Druchbruch der Profitabilität. Die Transplants [z.B in den USA aufgebaute Fabriken japanischer Autokonzerne] und die Großkonzerne, die das japanische Modell übernahmen, wurden mehr und mehr zum »concession bargaining« [gewerkschaftliches Feilschen um Zugeständnisse] gezwungen, das heißt, sie mußten die fehlende Einfriedung und Atomisierung der Arbeiterklasse durch die Drohung und Realisierung von Produktions- und Abteilungsauslagerungen im Falle von Restriktionen von seiten der Arbeiterklasse ersetzen.
Den letzten Schritt und das neueste Modell erleben wir seit Anfang der 90er Jahre von den USA aus: Das Konzept des »industrial engineering« [Analyse und Umgestaltung ganzer Unternehmen oder Teilbereiche davon]. Ein neuer Mischtyp von Benetton und Toyota wird versucht. Es entstehen Netzwerkkonglomerate, in denen sich die Beziehungen zwischen Kern- und Randbelegschaften zunehmend verwischen und traditionelle mittlere Managementhierarchien zunehmend abgebaut werden. An die Spitze dieser Konglomerate treten Manager mit despotischer Herrschaftsfunktion. Sie setzen geschäftsführende Einheiten, Generalisten ein, die Projekte in Gang bringen. Nur noch für jeweilige Aufträge werden befristet Entwicklungsspezialisten, Konstrukteure, Programmierer, Fertigungsarbeiter usw. gemietet. Selbst so traditionsreiche Konzerne wie beispielsweise Siemens haben sich in der jüngsten Zeit in solche geschäftsführenden Einheiten aufgesplittert. Das ist die Hollywoodmethode: Man produziert, wie man einen Film plant und erstellt.
Diese Produktionsweise, und das halte ich für entscheidend, nähert sich der Mobilität der Geldvermögen maximal an: Vom Supermarkt Toyotas und von den Netzwerkunternehmen Benettons zur Hollywoodpremiere unmittelbar neben dem Spielsaal des internationalen Finanzkapitals. Auf diese Weise werden mikroökonomische Kostenfaktoren optimal auf die Gesamtgesellschaft übertragen, die gleichzeitig immer mehr Instrumente zur wirtschaftspolitischen Gesamtsteuerung verliert. Die Profitraten der Einzelunternehmen steigen wieder. Aber die ausgelagerten Kostenfaktoren drohen im Prozeß des Ausgleichs der Durchschnittsprofitraten und der Mehrwertrealisierung zurückzukehren. Deshalb forcierter Sozialabbau, deshalb mehr Armut, deshalb aber auch Anstieg der behördlichen Armuttransfers bei immer geringer werdenden Leistungen und so eine Spirale der Deregulierung, die nach unten geht. Das ist die Vision des gegenwärtigen Zeitalters aus der Sicht von oben.
Zweifellos wird diese Optik in den jeweiligen territorialen Konstellationen recht unterschiedlich durchgesetzt. Nehmen wir den Fall Osteuropa. Die postsozialistischen Eliten verzichteten 1989-90 auf gemischtwirtschaftliche Interventionsschritte beim Übergang vom Staatskapitalismus zur Marktökonomie. Interne Deregulierung und schlagartige Konfrontation mit der internationalen Konkurrenz bewirkten die rapide Zerstörung der rohen staatskapitalistischen Variante der Massenproduktion, ohne daß bisher Zyklen von Neuinvestitionen - von einigen Ländern abgesehen - nachfolgten. Von der Depression geht es weiter zur Deindustrialisierung. In Rußland leben inzwischen offiziell zwei Drittel der Bevölkerung unter der Armutsgrenze.
Im krassen Gegensatz dazu erleben wir im Indopazifik einen neuen Boom auf der Grundlage eines blutigen, informatisierten Taylorismus und Toyotismus. Benachbart sind in China neue Entwicklungszentren mit einem Akkumulationsschub in der massenhafte Pauperisierung entstanden.
In den Metropolen stagniert die wirtschaftliche Entwicklung. In den USA ist ein sehr merkwürdiges Niedriglohnwunder bei riesiger Massenverelendung zu beobachten. England steckt in einer Depression: Dort steht trotz des Fiaskos des Thatcherismus - Sozialabbau und Steuerentlastung haben zu einer größeren Staatsverschuldung statt zur Verschlankung des Staatsapparats geführt, und das Land wird mitnichten mit neuen Investitionszyklen belohnt - kein Kurswechsel ins Haus. In Schweden hingegen hat dieser Kurswechsel stattgefunden. In West- und Mitteleuropa gibt es Regionen mit unternormalem Wachstum. Auf sie werde ich im zweiten Teil zu sprechen kommen.
Insgesamt ist also eine zunehmende geografische Differenzierung bei uniformer globaler Strategie erkennbar. Die Zukunft wird zeigen, wie weit es den internationalen Wirtschafts- und Finanzeliten gelingt, die Kompensation der Krisenspirale durch innerimperialistische Blockbildungen und Konfrontationen aufzuhalten.
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