nadir start
 
initiativ periodika Archiv adressbuch kampagnen suche aktuell
Online seit:
Sun Jun 10 18:49:28 2001
 

Inhaltsverzeichnis Inhalt Karl Heinz Roth: Auf dem Glatteis Aufwärts

Voherige Seite 4. Neue Proletarität 6. Perspektiven einer neuen Klassenorientierung Nächste Seite

5. Die Krise der Linken

Das neue Zeitalter zeichnet sich dadurch aus, daß es aus einer fundamentalen Krise ein neues Akkumulations- und Regulationssystem hervorbringt, dessen endgültige Perspektive freilich noch keineswegs auszumachen ist. Vor allem ist es aber auch ein Zeitalter der Krise der Linken. Mit »der Linken« meine ich jene gesellschaftlichen Kräfte, die sozialreformerische Prozesse allein ablehnen und nach einem völlig andersgearteten Modell gesellschaftlicher und politischer Egalität streben. Je größer und je tiefer diese Krise - unsere Krise - wurde, desto stärker war die Tendenz, die Beziehung zur eigenen Geschichte - unserer Geschichte seit den sechziger Jahren - zu verlieren. Ich glaube, daß wir von einem Verlust des kollektiven Gedächtnisses bedroht sind. Geschichtslosigkeit ist aber mehr als bloße Resignation oder Unachtsamkeit. Es ist vor allem auch ein Akt des Verdrängens. Ich will nur ein paar Stichworte nennen, über die in vielen Zusammenhängen ein stillschweigender Konsens des Schweigens besteht:

Viele unserer politischen Zusammenhänge waren im Innern autoritär strukturiert. Sie hatten sehr starke Tendenzen zur Ausgrenzung oft besonders naher Nachbarströmungen. Und das hat intern entsolidarisiert. Das bezieht sich keineswegs nur auf die neoleninistischen Gruppierungen.

Wir haben ziemlich intensiv versucht, die materialistische Kritik unserer eigenen Geschichte zu vermeiden. Wir wollen uns damit nicht konfrontieren. Wir wollen die vergangenen Optionen und Niederlagen nicht dahingehend untersuchen, inwieweit diese Niederlagen notwendig waren, nicht vermieden werden konnten und inwieweit sie vermeidbar waren.

Es gab und gibt auch eine große Unfähigkeit zu Kurskorrekturen. Ich möchte hier nur das Beispiel des bewaffneten Kampfs andeuten. Das Syndrom der Pentiti [pentiti: Reumütige, unter Kronzeugenregelungen aussagende Rotbrigadisten] ist auch eine Rache am Prinzip, daß Grenzüberschreitungen in der Militanz nur in eine einseitige Richtung vorzunehmen waren. Wenn Illegalität immer zur Ablösung vom Massenkonsens und zu einer elitären Selbstkonstitution führt, und wenn sie notwendigerweise immer dazu führen würde, dann müßten wir sie vielleicht doch prinzipiell verwerfen. Auch hier, glaube ich, muß viel aufgearbeitet und nachgedacht werden, um die zweifellos vorhandenen positiven Erfahrungen der Illegalität für die Zukunft zu bewahren.

Die eigene soziale und materielle Selbstwahrnehmung war und ist in unseren politischen Zusammenhängen oft ausgegrenzt. Dabei sollte sie nach meiner These Kern unseres politischen Engagements sein. Wir sollten gerade als Linke von unseren eigenen materiellen Lebensbedingungen ausgehen und nicht als Prekarisierte auf politischen Ersatzebenen agieren. Gerade im Prozeß und in der Erfahrung der sozialen Marginalisierung gibt es sehr starke Individualisierungserfahrungen und Rückzugstendenzen. Das ist eine an sich paradoxe Verhaltensweise, die aber aus dieser Ausgrenzung der eigenen materiellen Konstitution herrührt und gegenwärtig viele Restprojekte gefährdet.

Ich meine aber auch, daß wir in vielen Fällen unfähig gewesen sind, Teilsiege wahrzunehmen und erkämpfte Positionen auszubauen. Ich erinnere an die Frauenbewegung, die wohl von allen Sozialbewegungen am weitesten egalisierend in die Gesellschaft gewirkt hat und die - so meine ich - auch uns linke Männer ein Stück weit verändert hat. Es sollte eigentlich möglich sein, jetzt über einen neuen politischen Schulterschluß zu reden und über Bedingungen eines gemeinsamen Widerstands gegen die Deregulierung und gegen die mit ihr einhergehende »Wiederentdeckung« der unbezahlten Hausarbeit nachzudenken.

Das sind unsystematische Beispiele. Ich möchte zeigen, daß der Kampf gegen die Krise als ein Weg zu solidarischem und egalitärem Handeln immer innere Solidarität voraussetzt. Das ist ein unverzichtbarer Teil des kollektiven Gedächtnisses, denn ohne innere Solidarität kann nicht kollektiv-historisch agiert werden. Solange wir hier stagnieren, solange wir uns gegenseitig ausgrenzen und nicht aufeinander zugehen, werden wir nicht in der Lage sein, neu in das Wechselspiel von proletarischer Homogenisierung und Dissoziierung einzugreifen und wieder geschichtsmächtig zu werden.



Voherige Seite 4. Neue Proletarität 6. Perspektiven einer neuen Klassenorientierung Nächste Seite

Inhaltsverzeichnis Inhalt Karl Heinz Roth: Auf dem Glatteis Aufwärts

Kontakt: nadir@mail.nadir.org