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Inhaltsverzeichnis Inhalt Utopie Aufwärts

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Fragen des Alltags, die einer Utopie bedürfen

NACH DEN VORHERGEGANGENEN Überlegungen drängen sich die offenen Fragen zeitgenössischen utopischen Denkens in meinen Vordergrund. Diese beginnen im unmittelbaren Alltagsleben und enden schließlich in der Weltpolitik.5.1 Beginnen wir bei den intimen Beziehungen zwischen Menschen, welchen wenigstens nachgesagt wird, das Alltagsleben zutiefst zu bestimmen. Ob dies tatsächlich der Fall ist: Das zu untersuchen würde ein eigenes Buch erfordern. Von Robin Norwoods »Wenn Frauen zu sehr lieben« bis hin zur einschlägigen Liste männlicher Bekenntnisse, die ja bereits mit Goethes »Leiden des jungen Werther« beginnen, - allein das Studium literarischer Dokumentationen könnte uns schon überzeugen, was hier seit langem (und manche sagen: seit jeher) im argen liegt. Wie könnte ein, auch erotisches, Zusammenleben zwischen den Geschlechtern, bzw. innerhalb derselben, aussehen, das weder durch Ausgrenzung noch durch Versteinerung, weder durch Gleichgültigkeit noch durch Zwangszusammenhänge gekennzeichnet ist? Wie könnte eine Antwortvielfalt realisiert werden, welche niemandem eine Lebensart aufdrückt, die seinen Bedürfnissen, Wünschen, Prägungen etc. zu widersprechen, jeweils, neigt? Spätestens die Erfahrung der vergangenen Jahrzehnte haben uns gezeigt, daß es hier nicht nur darum sich handeln kann, die traditionelle (idealtypisch: katholische) Vorstellung von der heterosexuellen lebenslangen Zwangseinehe zu überwinden.

Zwischenzeitlich gab es ebenso dogmatische Anschauungen auf dem homosexuellen Felde (Guy Hoguenhem, Eschi Rehm bei den Männern, Valerie Solanas bei den Frauen) und auf der Ebene der Gemeindeehe (Otto Mühl); auch die »offene Zweierbeziehung« (Dario Fo/Franca Rame) und die derzeit weithin vorherrschende Monogamie - »treu« um jeden Preis, auch wenn es nur drei Wochen dauert - haben zwischenzeitlich ihre Tücken erwiesen. Zwar hat es immer schon mal utopische Lösungsvorschläge gegeben, die der Beantwortung der gestellten Frage relativ nahe gekommen waren - indes wird es seine Gründe gehabt haben, daß erstere kaum je authentisch genug waren, um in der Wirklichkeit umgesetzt zu werden. Ich denke etwa an die »neue Liebeswelt« Charles Fouriers. Und AIDS macht diese Aufgabe auch nicht eben einfacher.

Nicht anders hinsichtlich der Kinder. Noch ist es niemandem gelungen, eine ebenfalls antwortvielfältige Form des Kinderaufwachsens zu entwerfen, in welcher weder die Mütter, noch beide Eltern, noch die Kinder, noch alle zusammen in biographisch folgenreiche Leidenszusammenhänge abgedrängt worden sind. Entweder wird auch im utopischen Kontext völlig naturwüchsig vom Elternrecht ausgegangen (was in der Praxis zu 80 Prozent heißen wird, daß an den Müttern die Arbeit hängenbleibt), oder die utopische Lösung entlastet zwar die Eltern, läßt jedoch den Kindern eine Art gehobener Heim-, allenfalls Internatserziehung zuteil werden und sollten die Kinder Pech haben, wäre es nicht einmal eine »gehobene«. Zwischen den Polen Überlastung einerseits, lohnabhängiger Gleichgültigkeit andrerseits schwankend, steht eine passable realutopische Lösung noch aus.5.2 Die in letzter Zeit häufig ausformulierte Realutopie, Kindererziehung - wie auch korrespondierend dazu die Erwerbsarbeit - gleichmäßig auf beide Eltern zu verteilen, entlastet zwar, was schon viel ist, die Mütter vom Dauerstreß, hat ansonsten jedoch vor allem die Wirkung, nunmehr glücklich beide Eltern zu überlasten. Nicht, daß es nicht auch hier Ansätze gäbe. So ist verschiedentlich die Kibbuz-Erziehung ihrem Strukturprinzip nach (bis 16 Uhr Kindergruppen mit einer spezialisierten Fachkraft, ab 16 Uhr Eltern) gelebt worden - wie aber wäre sie in ein gesellschaftliches Gebilde, das nicht Kibbuz heißt, zu übertragen? Die Kinderdörfer Hermann Gmeiners verhießen einstmals ein nicht uninteressantes Modell (eine professionelle alleinerziehende Mutter mit synthetischer Großfamilie, ergänzt durch weitgehende, potentiell weltweite, Unterstützung) - hat es einen Grund, daß es um sie relativ still geworden ist? Daß kaum eine Untersuchung publik geworden ist, wie das Leben der Kinder als Erwachsene sich fortgesetzt hat? Gäbe es Übertragungsmöglichkeiten, die den Müttern nicht ein Leben aufzwänge, als wären sie Klosterschwestern? Immer mal, zum dritten, ist von umfassender Selbstorganisationen der Kinder die Rede, mögen sie nun »Kinderrepubliken« heißen (wie im spanischen Bemposta) oder »Schülerschulen«. Wir wissen, daß die berühmte, in Barbiana, alsbald zerfiel, nachdem der Pfarrer, der sie angeleitet hatte, verstorben war. Wieso blieben diese immer Inseln, wieso konnte aus ihnen nie eine Art Bewegung werden? Und selbst wenn: Wie wäre da wiederum gewährleistet, daß einzelne Kinder nicht von ihrer Gleichaltrigengruppe ausgegrenzt, fertiggemacht werden, eine Art »Herr der Fliegen« im utopischen Gewande? Welche, und seien es subsidiäre, Eingriffsmöglichkeiten müßten für gleichzeitige Erwachsenengruppen, oder auch Kinder-Erwachsenenengruppen, vorgesehen werden?

Gehen wir über den Bereich der zeitgenössischen Kernfamilie hinaus. Immer wieder wird die Erneuerung der Nachbarschaften beschworen. Die zeigt, wie sehr die Vereinzelung und Anonymisierung in nur wenigen Jahrzehnten vorangeschritten sein muß: Noch in meiner Jugend wurde die Anonymisierung geradezu als Erlösung von der überstarken sozialen Kontrolle durch die Nachbarn empfunden!

Wir haben gesehen, daß verschiedene zeitgenössische Utopien (z.B. jene von P.M.) gerade aus der Stärkung der Nachbarschaft ihre Brisanz gewonnen haben. Nicht zu vergessen - obwohl sie in der Praxis ja schon beinahe vergessen worden ist! - ist jene Nachbarschaftsutopie der »kleinen Netze«, die Ende der Siebzigerjahre eine gewisse Rolle spielte5.3: Diese Nachbarschaften von 80-100 Personen sollen zwar nicht soviel wie die Subsistenzgruppen des P.M., aber doch erhebliches miteinander leisten können. Sie sollen Einheiten gegenseitiger Hilfe sein, einander beim Kinderaufwachsen wie bei der Pflege alter Leute unterstützen, Gartenbau betreiben, Reparaturen durchführen, Feste veranstalten, politische Aktionen initiieren, eventuell sogar einige Produkte oder auch Dienstleistungen produzieren. Eine gewaltige Aufgabe für ein nachbarschaftliches Netz, zusammengewürfelt, wie dieses unter den zeitgenössischen Wohungsbaubedingungen nur zustande kommen kann.5.4 Nicht zufällig also ist die Utopie des »kleinen Netzes« bislang ziemlich ohne praktische Auswirkungen geblieben. Entweder es wird gleich zu einer größeren internationalen Einheit: einem Projekt, einer Solidargemeinschaft, einer Annäherung an eine Minisubsistenzgruppe - oder, auf dem utopischen Felde, die Aufgabe wird so groß, daß sie nicht bei der Vision des »kleinen Netzes« verbleiben kann, sondern sich totalisieren muß: Wie müßten Wohnungsbau, Wohnraumverteilung, Erwerbsarbeit, Verkehr etc. sich verändern, damit so etwas wie ein »kleines Netz« auf einer breiteren Basis überhaupt erst möglich werden kann? Und da dies eine ausgesprochene Langzeitutopie darstellte: Was kann der soziale und emotionale Kitt werden, um einander gleichgültige, nicht latent feindliche, Nachbarschaften überhaupt zu einem gemeinsamen Handeln zu bewegen? Ohne Zwang, ohne Gruppendruck, ohne Sanktionen durch böse Nachrede, die denn doch die Flucht in eine Hochhaussiedlung als erträglicher erscheinen ließe. Hier schon angedeutete Überlegungen führen uns zu einem der, auch traditionellen, Kernpunkte utopischer Intentionen: der ökonomischen Seite der Utopie. Im an Katastrophen aller Art so reichen 20. Jahrhundert ist in einer doppelten Verschränkung, zweierlei klargeworden: Sowohl die Marktwirtschaft hat nicht wirklich funktioniert als auch ,noch offensichtlicher, die Planwirtschaft nicht; sowohl die Privatisierung von (großem) Eigentum hat auf die Welt verheerende Wirkungen ausgeübt als auch hat eine Vergesellschaftung versagt, die als Verstaatlichung sich begriffen - und sich mißverstanden hat. Wohlwissend, daß es zum Konsens der letzten fünf Jahre leider auch vieler Intellektueller gehört, der Marktwirtschaft und dem Privateigentum heilsame Wirkungen zu zuschreiben, die diese schon aus strukturellen Gründen nicht in dieser Allgemeinheit haben können, halte ich dem entgegen, daß dieses Lob nur bei recht kurzsichtiger Betrachtung der Dinge aufrechterhalten werden kann. Entweder die ökologischen Folgen sind ausgeblendet worden5.5, oder die Funktion der Dritten Welt (wo einem Bananenkonzern gleich mehrere Kleinstaaten gehören, in welchen er seine Profitgrundlage mit Klauen und Zähnen verteidigt, kann es mit der vielbeschworenen »Freiheit« nicht weit her sein), oder die profitablen Wirkungen der künstlichen Herstellung von Mangel. Dies wäre eine holzschnittartige Beschreibung der Lage in der Landwirtschaft wie im Wohnungsbau.

Gehen wir auf das Feld zukünftiger utopischer Aufgaben zurück, um dies mit einigen konkreten Beispielen zu veranschaulichen.

Es ist angesichts der realen, fast schon hoffnungslosen Situation naheliegend, daß der Wohnungsbau der Zukunft zu meinen Lieblingsbeispielen zählt. Planwirtschaft hieße hier, kostengünstig eine Mehrzahl von Monstern in Betonplattenbau aufs freie Feld zu stellen und auf die erforderlichen Fonds für Reparaturen, periodisch fällige Renovierungen etc. einfach zu verzichten. Marktwirtschaft heißt hier, in Privatinitiative Wohnraum zu erstellen (manchmal, durchaus nicht immer, ergeben sich daraus sogar einigermaßen hübsche Häuser), den, außer einer dünnen Schicht reicher Leute, sei es in Miete, sei es in Wohnungseigentum, niemand bezahlen kann. Soziale Marktwirtschaft hieße hier noch allenfalls, den nicht so reichen Leuten durch Zuschüsse das Anmieten des überteuerten Wohnraums wenigstens gelegentlich möglich zu machen, die Alternative dazu ist Massenobdachlosigkeit, wie im London, was seine Grenzen in öffentlicher Mittelknappheit oder wahlweise in einer nicht mehr finanzierten Steuerlastquote hätte. In beiden Fällen subventionieren die Steuerzahlenden die Gewinne der Hauseigentümer. Die dringend erforderliche Realutopie des Wohnbaus bestünde darin, einen Weg jenseits des genannten Dilemmas zu finden.

Nicht anders beim anderen Problempaar Privatisierung - Vergesellschaftung. Da die meisten Strömungen der Arbeiterbewegung - primär der als »Kommunismus« sich mißverstehende Leninismus, aber auch, wenn auch in Maßen, die Sozialdemokratie, selbst noch am Rande die katholische Soziallehre - Vergesellschaftung als Verstaatlichung mißverstanden haben, hatte dies zur Folge, daß die Utopien einer staatsfernen Vergesellschaftung nicht so üppig gesät sind, wie dies erforderlich wäre. Diese Einstellung erleichtert allerdings die Aufgaben für die künftigen Jahrzehnte weniger als diese noch komplizierter zu machen. Zum einen, und darin bestünde auch die eher einfachere Übung, wäre es erforderlich, die gesamte genossenschaftssozialistische Tradition der vergangenen beiden Jahrhunderte aufs neue zu studieren und die zu beerben. Diese begänne mit Fourier und Owen, schlösse eine Wiedervornahme der gesamten realutopischen Literatur der Jahrhundertwende mit ein, und landete bei der Vielfalt der Ansätze nach dem Beginn unserer zeitgenössischen Krise um 1966/67. Um es weniger abstrakt zu machen: Wenn schon alles nach »Privatisierung« schreit - was, mit wenigen Ausnahmen5.6 den Begriff verfehlt, vielmehr die Umschichtung des Produktivvermögens vom großen Staat zu noch größeren Konzernen meint -, wäre es dann nicht sinnvoll, das ursprüngliche Konzept Fouriers: fünf zwölftel Arbeit, vier zwölftel Kapital, drei zwölftel Talent herzunehmen und es als eine Art Kapitalgesellschaft mit vinkulierten (an bestimmte Personen oder Gruppen gebundenen, folglich auch nicht börsenfähigen) Aktien zu gestalten?5.7 Oder: Wie wäre es, die Arbeiten Franz Oppenheimers sich einmal zur Gänze vorzunehmen und es nicht immer nur bei dessen berühmten Transformationsgesetz bewenden zu lassen? Das heißt: Ein alternatives Projekt - bei Oppenheimer eine Produktionsgenossenschaft - geht immer entweder pleite oder verwandelt sich in ein Projekt, das von in die herrschende Gesellschaft integrierten Projekten nicht mehr zu unterscheiden ist. Wer weiß schon, daß Fabier Sidney und Beatrice Webb ein Standardwerk zum Genossenschaftswesen geschrieben haben? Wie sähen die Werke des Exil-Anarchisten Peter Kropotkin aus, wenn wir den zwischenzeitlichen Siegeszug der Unterhaltungselektronik mit einbeziehen, d.h. die Bedürfnisse nicht mehr auf Essen, Wohnen und Kleider sich beschränken lassen? Welche Möglichkeiten hatten seit 1905 die mithin israelischen Kibbuzim, jenseits von Allgemeinplätzen vom Typus »Hischdruth« oder »Jewish Agency«, sich in einer Weise zu finanzieren, daß sie bis 1967 auf ca. 230 angewachsen waren? Wo waren die »Points of no return« der genossenschaftlichen Unternehmen vom Typus Raiffeisen oder Schulze-Delitzsch, vom Typus Coop/Bank für Gemeinwirtschaft/Neue Heimat/Konsum? Wie funktionieren die Vergesellschaftungsformen der Stiftungsökonomie, etwa in den USA oder der Schweiz? Wenn Kropotkin in seiner Transformationsstrategie den »freiwilligen Vereinigungen« so einen großen Stellenwert einräumt - wie könnte das auf den Weg gebracht werden, daß die freiwilligen Vereinigungen sich nicht nur gründen, sondern auch bestehen bleiben und, vor allem weniger gegeneinander als miteinander, arbeiten? Welche weiterführenden Momente gibt es in den Konzeptionen des Karl Korsch, in jenen des Austromarxismus? Wo beinhalten sie offene Potentiale5.8; wo - etwa in der Ökologiefrage - haben sie dazu beigetragen, jene Form des realsozialistischen oder sozialdemokratischen Etatismus voranzutreiben, welche den Namen des Sozialismus so sehr zu diskreditieren geeignet war?

Jede Menge zu tun, jede Menge zu lernen, und doch ist dies, wie ich oben erwähnte, die leichtere Aufgabe. Die schwierigere besteht darin, realutopisch zu konstruieren, wie in einer sich wandelnden, von großen Konzernen beherrschten, von Konkurrenzen und Haßzusammenhängen durch und durch zerfressenen Welt genossenschaftlicher Sozialismus in die Gänge gebracht werden könnte. Dabei ist es sicher hilfreich, sich zu vergegenwärtigen, wo, in welchen Punkten, Marx nach wie vor hilfreich sein könnte - und wo bestimmt nicht. Als Analytiker zählt er nach wie vor zur erforderlichen Grundausstattung zukunftsorientierten Denkens, wie ein Dutzend anderer, oft völlig konträrer, Theoretiker auch: Seine Aussagen über die Ware, über die Rolle der Maschinerie, über die Akkumulation des Kapitals haben sich bedauerlicherweise als von bislang bleibender Aktualität erwiesen. In dreierlei Hinsicht indes, wenigstens, auch obige Aufzählung ist ja sicherlich nicht vollständig, können wir Marx getrost vergessen:

  1. Es gibt nicht den geringsten Grund, anzunehmen, daß die kapitalistische Gesellschaftsformation kurzlebiger sein wird, als dies vor ihr die feudale, die asiatische oder die auf der Haltung von Sklaven beruhende war. Alle Annahmen dieser grundsätzlichen Akzeleration (Verschnellerung) haben sich bislang als falsch erwiesen - und, wo selbst sie in die Praxis »umgesetzt« werden konnten, als verheerend.

  2. Entsprechend hat die Gewalt sich nicht als »Geburtshelferin einer neuen Gesellschaft« erwiesen, sondern, um in der Metapher zu bleiben, als ihre »Engelmacherin«.

  3. Wie oben bereits dargelegt, ist die Dichotomie5.9 von »Bourgeoisie« und »Proletariat« , die im Prozesse der wirtschaftlichen Entwicklung verwirklicht worden war, immer inhaltsleerer geworden: Beide traditionellen Hauptklassen haben in eine Milchstraße von Klassenströmungen sich ausdifferenziert, insbesondere die letztere, mit außerordentlich unterschiedlichen Bedürfnissen, Wünschen und Interessen.

Gerade indem ich Marx in seiner vor bald 150 Jahren gemachten Aussage ernstnehme, er wolle keine Rezepte für die »Garküche der Zukunft« entwerfen, seine Aufgabe sei es vielmehr, immer neue und gründlichere Analysen für den »Misthaufen der Geschichte« zu produzieren - können wir nicht umhin, selbst die Richtung zu bestimmen, in die wir wollen. Der erste Schritt ist hierbei noch relativ klar: mit einigen einigermaßen gleichgesinnten Personen sich zusammenschließen, um die Güter und Dienstleistungen der jeweils eigenen Neigung herzustellen und zu verbreiten.5.10 Dies wird auch mit größeren Schwierigkeiten, als auf den ersten Blick erkennbar sind, getan.5.11 Schon hier besteht das Problem, daß aus den verschiedensten Gründen diese Projekte, Betriebe, Genossenschaften, Vereine oft eher gegeneinander als miteinander arbeiten. Im nächsten Schritt scheint es mir erforderlich, im einigermaßen allseitigen Konsens eine Fülle von »freiwilligen Vereinigungen« zu entwerfen, in welchen Kooperationen verschiedenster Art zwischen diesen, auch Ermutigungen zu Neugründungen, ermöglicht werden können. Dies ist bereits eines der künftigen Probleme genossenschaftlicher, bzw. genossenschaftsähnlicher Vergesellschaftung - und ich schreibe dies nicht zufällig aus voller Überzeugung nieder, weil ich an diesem Punkt auch selbst seit ca. 20 Jahren vorerst gescheitert bin. Wobei es mir im Lauf der Jahrzehnte zunehmend klar geworden ist - und ich freue mich über jeden noch so punktuellen, noch so prekären Zusammenschluß, der tatsächlich erfolgte, sei dies nun, zeitweilig, das »Netzwerk Selbsthilfe« gewesen oder die Versuche zu Projektemessen oder in neuerer Zeit der »Tag der Erde« - , daß moralische Appelle allein hier nichts vorantreiben werden, sondern wenigstens Spuren gegenwärtigen oder künftigen Interesses mit enthalten sein müssen. Hier enden allerdings die konkreten Beispiele - und hier beginnen, wiederum, die Fragen: Wie kann es optimal bewerkstelligt werden, daß genossenschaftliche oder genossenschaftsähnliche Formen entstehen, die auch Menschen die Mitarbeit ermöglichen, welche in völlig anderen beruflichen Zusammenhängen stehen, die sie auch nicht ohne Not verlassen wollen oder können? Gewiß, um beim exponiertesten Beispiel zu beginnen, achte ich jede internationale Vollgenossenschaft, mag dies nun ein Kibbuz sein, ein Ashram5.12, eine spirituelle Gemeinschaft5.13, die vielen Kommunen, die entstanden sind - seit 1989 auch zunehmend auf ehemaligem DDR-Gebiet - oder die sich noch in Planung befinden wie zum Beispiel durch Rudolf Bahro. Selbst hinsichtlich jener faktischen Vollgenossenschaften, die in den alternativen Bewegungen weniger angesehen sind, habe ich, auch wenn sporadische Interaktionen mit diesen noch so nervig waren, vor der üblichen vorschnellen Ausgrenzungen gewarnt.5.14 (Auch ist mir nicht zu jeder faktischen Vollgenossenschaft gleich Jonestown eingefallen.) Wenn auch dieses als Extrem ebenso im Hinterkopf bestehen bleiben sollte wie beim Christentum die Inquisition, beim Liberalismus die Abschlachtung der Pariser Commune und Robespierres Guillotine, beim Sozialismus die Moskauer Prozesse usw. Dennoch kann die allgemeine Norm künftiger genossenschaftssozialistischer Bewegungen nicht darin bestehen, Menschen aus ca. 80 Klassenströmungen darauf zu verpflichten, das Feld ihrer Tätigkeiten zu verlassen, um Rüben zu ziehen, den Mond zu verehren oder verfallene Häuser zu renovieren. Wie können weitere dieser in außerordentlich verschiedenen Formen, von der Subsistenzgemeinschaft bis hin zum Genossenschaftsförderungsverein etabliert berufstätigen Personen so auf einen Nenner gebracht werden, daß ein einigermaßen zusammenhängendes Netz entsteht, wo auch die je spezifischen Interessen gewahrt bleiben? Welche neuen Formen der Mitbestimmung Konsumierender könnten hierbei entstehen?

Einige Entwicklungen - etwa die ca. 700.000 deutschen Fördernden von Greenpeace - stimmen ja durchaus hoffnungsvoll: Wie kann auf lange Sicht jenes Auseinanderlaufen einer effizienten ökologischen Konzernstruktur und einer Vielzahl mitbestimmungsferner Fördernder, wodurch Greenpeace gekennzeichnet ist, auf anderen Feldern vermieden werden?

Selbst wenn es durch die nächste utopisierende Generation möglich wäre, Fragen wie die vorliegenden theoretisch und praktisch zu beantworten, bliebe die weltweite Hegemonie der multinationalen Konzerne bestehen. Auch wenn sich Wissenschaftler, wie Jan Tinbergen in seinem Bericht an den Club of Rome, große Mühe gegeben haben: Welche Konzepte gäbe es, die nicht bloß darauf hinausliefen, dem Krokodil die Zähne zu putzen? Welche Rolle könnten »Ethik-Fonds« bei der Umstrukturierung der multinationalen Konzerne spielen, und wie müßten erstere für diese Aufgabe zusammengesetzt sein? Gäbe es Formen der Entflechtung und Dezentralisierung, die vom »Standard-Oil-Effekt« frei wären?5.15

Wäre es sinnvoll, Konzerne kurzfristig zu verstaatlichen, mit der einzigen Auflage, deren Aktien ohne viel staatliche Zwischenlagerung streuend umzuverteilen, etwa an Mitarbeitende, Gebietskörperschaften verarmter Regionen, Umweltverbände, Selbstorganisationen Erwerbsloser, geschädigte und/oder verelendete Länder der Dritten Welt? Und: Sollte es irgendwann zum nächsten weltweiten Bankenkrach kommen - wer hebt die Scherben auf? Wie wären die Vermittlungsinstanzen zwischen den weitblickenden genossenschaftlichen Experten und Expertinnen einerseits, jenen Spitzenmanagern, die kaum noch von Konzerneigentümern zu unterscheiden sind, andrerseits? Muß das Erbrecht an nennenswertem Produktivvermögen eine heilige Kuh bleiben? Muß es eine Art Naturgesetz bleiben, daß eine demokratisch in keiner Weise legitimierte gesellschaftliche Macht großer Wirtschaftstreibender, seien es Privateigentümer, Managern oder Nomenklaturisten, automatisch festgeschrieben wird?

Die Erwähnung der demokratischen Legitimation führt, wie sollte es anders sein, zur Sphäre des Staates. Um wiederum bei den »eigenen Kräften« zu beginnen: Daß die politische Partei als Form der umfassenden, stufenweisen und/oder grundsätzlichen Veränderungen historisch nicht mehr authentisch (wenn auch gesetzlich fest einbetoniert) sein dürfte, scheint eine Erkenntnis zu sein, die über die diversen subkulturellen Oppositionen weit hinausgehen dürfte - nicht zufällig ist von der »Politikverdrossenheit« die Rede, nicht zufällig geht in den USA, die sich durch ein besonders minderheitenfeindliches Wahlrecht kennzeichnen, schon die Hälfte der Bevölkerung nicht mehr zur Wahl. Aber was soll nach den Parteien kommen? Welche Struktur, welches Netz, wäre historisch authentisch genug, um die Tagträume, Wünsche, Bedürfnisse, Interessen von etlichen Dutzend unterschiedlichster abhängiger Klassenströmungen so zu verknüpfen, daß diese zu ihrer polititschen Umsetzung drängen könnten? Ist die Rotation politischer Ämter tatsächlich schon gegessen, oder war nur zu wenig konkret (zu schematisch, zu kurzfristig...) phantasiert worden? Sollte aber auf den Ebenen der Ministerien und der Abgeordneten rotiert werden, wie sähe es dann mit jener Ebene der Ministerialbeamten aus, welche automatisch im Amt bleiben und jetzt schon stolz darauf sind, oft ein Dutzend Minister oder Ministerinnen zu »überleben«?5.16 In welchen Sphären wäre die Einführung von Räten, in welchen die umgehende Einführung von Volksanwälten (Ombudsfrauen) sinnvoll? Welche Rolle sollen Konzepte von Gewaltenvereinheitlichung, die in historischen Utopien bis hin zum Marxismus ja eine sehr große Rolle gespielt hat, oder von noch weitergehenden Gewaltenteilungen spielen? Und, selbstredend, wie könnten auf allen Ebenen staatlichen Handelns Momente direkter Demokratie (Urabstimmungen, Volksbegehren etc.) verstärkt eingeführt werden? Auch, da alle mir bislang bekanntgewordenen Gegenargumente (Todesstrafe, Ausländerfeindlichkeit...) ausnahmslos dieser Sphäre entstammen: Wäre eine Lösung für diesen meines Erachtens anzustrebenden Fall zu finden, daß allgemeine Grund- und Menschenrechte ihrer Entscheidbarkeit durch Volksabstimmungen zu entziehen sind?

Dieser Katalog mag, ich weiß, vielen zu etatistisch (zu staatstragend) klingen. Durchaus ist mir bewußt, daß es nicht zu wenige Utopien gibt, deren Endziel darin bestünde, den Staat abgeschafft oder doch in seinem Stellenwert stark vermindert wissen zu wollen: Anarchisten wollen dies kurzfristig, Marxisten langfristig, - »absterben« - manche utopischen Sozialisten, z.B. Herbert George Wells, sehr langfristig. In diesem Falle jedoch vermindern die für künftige utopische Erörterungen zu stellenden Fragen sich keineswegs. Im Gegenteil, da zum einen sämtliche oben gestellten Fragen an die den Staat dann tendenziell ersetzenden »freiwilligen Vereinigungen« (Kropotkin) übergehen, zum anderen noch einige Fragen hinzuträten, erhöht die Komplexität sich noch beträchtlich. Was mich im übrigen nicht stört, da ich weder dem Luhmannschen Glaubensbekenntnis von der »Reduktion der Komplexität« anhänge, noch in Jürgen Habermas' bekannter Rede von der »neuen Unübersichtlichkeit« etwas anderes zu sehen vermag als eine Aufforderung an die Wissenschaft, ähnlich in der »Unübersichtlichkeit« die Möglichkeit einer nicht unbedingt eingreifenden Übersicht wiederherstellen, wie dies die Enzyklopädisten im 18. Jahrhundert zur Zeit der Aufklärung versuchten. Nicht zufällig zählen einige der zeitgenössischen Utopien, z.B. P.M. s »bolo'bolo« oder »Olten«, wie wir gesehen haben, zum komplexesten, was wir uns vorstellen können. Eine Auswahl dieser »nicht-etatistischen« Fragen wäre: Wie sollen diese freiwilligen Vereinigungen zustande kommen? Welche optimalen Größenverhältnisse wären, auf welcher Ebene - von lokal bis weltweit -, anzustreben? Wer wählt welche freiwilligen Vereinigungen aus, die welche Funktionen ausüben sollten? Wie demokratisch können, sollen, müssen die Strukturen dieser freiwilligen Vereinigungen sein? Zur Erläuterung: Im Ist-Zustand kann es mir vergleichsweise gleichgültig sein, wie demokratisch intern Greenpeace oder auch die katholische Kirche verfaßt sind - niemand zwingt mich, Verbänden wie den genannten beizutreten. Völlig anders wäre es, bildete Greenpeace ein Moment dessen, das den Umweltministerien nachfolgte, oder die katholische Kirche hinsichtlich des Familien- oder Sozialbereichs - wie ja überhaupt, ironischerweise, die Bundesvereinigung der sechs Spitzenverbände im Sozialressort eine Vorform Kropotkinschen Anarchismus zu bilden scheint. Wie werden sie instandegesetzt, soziale Sicherheit wenigstens in einem vergleichbaren Maße zu gewährleisten, wie dies jene Staaten, die als Sozialstaaten sich verstehen, gelegentlich immer noch einigermaßen zustande bringen? Welche Übergänge von den diversen Ministerialabteilungen, Magistratsabteilungen, ausgelagerten Verwaltungseinheiten mit eigenständiger Rechtsform zu einem Ensemble freiwilliger Vereinigungen wären denkbar? Die Probleme und Rechtsunsicherheiten, die derzeit in den ehemals realsozialistischen Ländern auch nur beim Übergang zu einer kapitalorientierten »Privatisierung« wahrnehmbar sind, veranschaulichen trefflich jenes Bündel von Problemen, mit welchen es ein utopischer Übergang vom Staat zu freiwilligen Vereinigungen zu tun bekäme. Wie könnte das Gewaltmonopol in einer Weise dezentralisiert werden, daß weder ein Automatismus naturwüchsig pazifistischer Menschen, noch ein Automatismus von Bürgerwehren, Banden, Warlords-Clan-Armeen (oder auch von, wenn auch nur gelegentlich durchgeführten, blutrünstigen Ritualen, wie bei P.M. oder Callenbach) die notwendige Folge wäre? Wie vorher schon im Libanon, bieten auch für die Legitimität dieser Fragen die jugoslawischen, georgischen, armenischen, aserbaidschanischen Entwicklungen unangenehm deutliches Anschauungsmaterial. Und schließlich: Wer verträte, auf welche Weise, die Interessen jener, die, aus welchen Gründen auch immer, sich nicht entschließen könnten, einer oder mehreren dieser freiwilligen Vereinigungen beizutreten?

Daß ich Fragen dieser Art beharrlich zu stellen geneigt bin, ist mit Sicherheit auch eine Auswirkung der historischen Entwicklungen vor allem seit 1989. Dem Realsozialismus war ich nie mit Sympathien gegenüberstehend, und doch bin ich entsetzt über jene Atavismen, Egoismen, Nationalismen, Militarismen, Rassismen, die in den vergangenen Jahren freie Fahrt erhalten haben.5.17 Wenn ich etwas in diesen Jahren dazugelernt habe, dann das, daß nicht nur jedes gewaltförmige Vorgehen seine Subjekte verroht, normativ verheerend (im Doppelsinn des Wortes) und letztendlich auch meist strategisch kontraproduktiv ist - und daß, wo es dennoch notwendig ist (etwa in der alliierten Intervention gegen den Nationalsozialismus 1941-45), eher ein Anlaß zur Trauer als zur Feier. Das wußte ich auch schon vorher. Auch dies, daß die Falle gewaltförmigen Vorgehens darin besteht, eine Haßspirale auf Jahrhunderte hin in Gang zu halten und den Haßzusammenhang immer weiter auszubauen. Die Schlacht auf dem Amselfeld war immerhin, um nur ein Beispiel zu nennen, vor 600 Jahren. Solcherarts bestünde eine der Aufgaben von Utopien darin, Haßspiralen, wo irgend möglich, zu unterbrechen, zu deeskalieren - oder, als Minimalprogramm, wenigstens nicht neue aufkommen zu lassen. Deshalb werden in den nächsten Jahrhunderten Utopien behutsam zu sein haben, zäh wie präzise - wo immer ausgegrenzt, unterdrückt, zerschlagen, gesäubert werden sollte, und sei es auch im Namen noch so humanistischer Ideen, wird langfristig wenig mehr erreicht werden können als eine neue Verstärkung des Haßzusammenhanges.

Leider gibt es noch viel zu wenige Utopien gegen die Haßspirale. Unversehens geraten wir in die Gebiete des Weltmarkts, der Migration, der Ausländerfeindlichkeit, des Nationalismus. Versetzen wir uns, und sei es der Übung halber, in das Jahr 2.500 (unterstellen wir hierfür, unwahrscheinlich genug, daß die Menschheit zwischenzeitlich weder durch die Totalität ökologischer Krisen, noch durch Biotechnik, noch durch eine Vielzahl von Kriegen ausgerottet worden ist). Nach den Erfahrungen der vergangenen Jahre und Jahrzehnte können wir folgendes überraschungsfrei feststellen: Den Israelis wird zu Deutschland Auschwitz einfallen (als Metapher für die Shoah), den Palästinensern zu Israel Deir Yassin, Schabra und Schatila. Die Xhosa werden für falsch halten, was die Zulu für richtig halten, und umgekehrt. Die Serben werden, sehr langfristig, »1.500 Jahre Schlacht auf dem Amselfeld« vorbereiten, dafür werden die Österreicher das Lied »Prinz Eugenius, der edle Ritter/wollt dem Kaiser wiederum kriegen/ Stadt und Festung Belgrad« nach wie vor in Ehren halten. Die Bosniaken werden an Gorazde (um wiederum nur eine Metapher zu nennen) denken, die Deutschen an Königsberg, die Polen an Wilna. Die Native Americans werden an ihre Ausrottung durch die USA und durch Spanien sich erinnern, die Armenier an jene durch die Türkei, die Kurden an jene durch Türkei, Iran und Irak. Zum anderen können wir annehmen, daß die Prozesse zwar ein Jahrtausend oder länger, aber doch nicht ewig dauern. So ist von der Schlächterei der Sachsen durch Karl »den Großen« um 800 außerhalb von Historikerkreisen nur noch verhältnismäßig selten die Rede; vergleichbares gilt für Melos oder auch für Troja. Dies erscheint mir vorweg erforderlich festzuhalten, vor allem, da diese Liste schier ins Unendliche verlängert werden könnte: die afrikanischen Ethnien, die russischen Völker, Tamilen und Singhalesen, Tibeter und Chinesen.5.18

Dies scheint mir - wie nach Ernst Bloch schon der individuelle Tod jeder/s Einzelnen von uns - der antiutopische Fakt par excellence zu sein. Jede/r, der/die in seiner/ihrer Utopie den Gartenzaun der ideellen Vollgenossenschaft verlassen möchte, um doch »nur« die uneingelöste Utopie Immanuel Kants von ewigem Frieden zu realisieren, muß an der Überwindung dieses antiutopischen Fakts ansetzen, bei Strafe eines jahrhundertlangen Sich-Weiterwälzens von Mord und Mißhandlung, von Vertreibung und Vergewaltigung. Und dies wohl wissend: daß einige der umfassendsten ideologischen Systeme, die dies bereits beansprucht hatten, das Christentum, der Liberalismus, der Leninismus, der Islam bereits daran gescheitert sind. Mögen im Zentrum der normativen Vorstellungen bislang noch so sehr Nächstenliebe, internationale Solidarität, multinationale Weltwirtschaft, »Islam heißt Frieden« gestanden haben: Die Realität hieß im günstigen Falle weltumspannende Gleichgültigkeit, in den ungünstigeren Fällen Massenmord und Vertreibung. Dies berührt, wie gesagt, die Sphäre des Weltmarkts. Anders gesagt: Jene internationale Solidarität, die fraglos auch in den Führungsetagen der multinationalen Konzerne vorhanden ist, ist mit Notwendigkeit immer eine internationale Solidarität weniger, und das zu Lasten der Vielen. Das utopische Potential in dieser Sphäre ist ohne Zweifel vorhanden. Daß es, allem Anschein zuwider, in bescheidener Form vorhanden ist, dafür zeugen viele neuere Sachverhalte, die gleichwohl unverbunden nebeneinander im Raum stehen. Zu erwähnen wären hier etwa: die internationalen nicht-staatlichen Organisationen;5.19 die Ansätze zu horizontaler Vernetzung weltweit unterdrückter Ethnien;5.20 die »Mischehen«; die vielfältig verzweigten Hilfsaktionen; in manchen - aber auch nur machen! - Fällen sogar bleibende Kontakte und Solidariäten, die durch den Tourismus entstanden waren. Doch bleibt all dies so seltsam unverbunden, daß es letztlich, in seinen praktischen Wirkungen, ähnlich folgenlos bleibt wie die multinationalen »Solidaritäten« der Führungsetagen.

Beginnen wir abermals im Kleinen: Im blutigen Konflikt des ehemaligen Jugoslawien habe ich von Slowenen, Kroaten, Serben, Bosniaken, Montenegrienern und Makedoniern gehört, von Ungarn, Albanern, Roma und, ausnahmsweise, sogar von Juden. Das Land hat es, von gleichfalls außerordentlich mörderischen 5 Jahren abgesehen, immerhin 70 Jahre lang gegeben. Mich wundert es, daß in den 70 Jahren keine Minderheit übergreifender »Jugoslawen« entstanden ist, bzw. diese sich nicht in den Diskurs merkbar eingeschaltet hat. Dieser Prozeß ist bekanntlich vorerst, und wohl bis weit ins 3. Jahrtausend, irreversibel, gleich, welche der Strategien eingeschlagen wird: Ob es bei der »ethnischen Säuberung« der Bosniaken bleibt - oder ob im Gegenzug eine »ethnische Säuberung« der Serben einträte, der Haß wird bleiben. Auch hier folgt die Warnung der Utopie auf dem Fuße. Jede Verallgemeinerung des Besonderen würde anstatt in der Utopie wiederum im Terror münden. Dem nationalsozialistischen Terror der ethnischen Reinheit entspräche der Terror einer ethnischen Zwangsvermischung, wie sie in der chinesischen Utopie K'ang-Yu-Weis vorgesehen und in den berüchtigten Zwangsverheiratungen des Scheichs Karume in Sansibar Realpolitik geworden war. Was nicht als freiwillige Vereinigung entsteht und bleibt, hat den Anspruch einer Utopie, die den Namen verdient, verwirkt, noch ehe diese geschichtsmächtig geworden ist.

Gehen wir einen Schritt weiter. Könnte beispielsweise eine Realutopie darauf fußen, daß aus Personen, Familien, Singles, Gruppen unterschiedlicher Länder grenzüberschreitende »Clans« entstünden, wofür eine Menge von ideellen Normen zugrundelägen, unterstützt von Momenten gegenseitiger Hilfe im Bedarfsfalle? Hier könnten die Esperantisten als eine Art Keimform gelten, mit dem Vorbehalt ihrer leider rein patriarchalen und etablierten Repräsentation auch die Rotary-Clubs. Wobei ich, um Mißverständnisse auszuschließen, betone, daß ich mir weder von synthetischen Sprachen ein wesentliches Mehr an Völkerverständigung erwarte, noch instande bin, in einem eurozentristischen Konstrukt aus weithin romanischen, germanischen und slawischen Wortstämmen auch nur die Kümmerform einer »Weltsprache« sehen zu können. Aber, wie gesagt, es muß sich ja nicht um »meine« Normen handeln. Zum anderen werden die Christen behaupten, dies täten sie längst. Mitnichten, werde ich antworten, solange Römische Kurie und Genfer Weltbund der Kirchen im Regelfalle auf einem bornierten territorialen Gemeindeprinzip basieren, dessen Internationalismus nur einen Überbau führender Funktionäre darzustellen pflegt.

Vergleichbares gälte für eine lockere Vernetzung der millionenfachen mehr oder weniger isolierten notwendigen Hilfsmaßnahmen. Vielleicht wäre es - realutopisch - möglich, die vielfältig bereits bestehenden Modelle von Patenschaften auszubauen, miteinander in Zusammenhänge zu bringen, zu vervielfältigen, vor allem einen Rückkopplungsmechanismus einzubauen: Gruppen, die durch Patenschaften einigermaßen saniert worden sind, übernehmen ihrerseits wieder Patenschaften. Mag sein, und hier gehe ich noch einen Schritt weiter, daß eine solche Realutopie sogar einen Beitrag zur aktuellen, ausgesprochen repressiv geführten Diskussion zu Ausländerfeindlichkeit und »Festung Europa« führen könnte, was selbstredend die Diskussion über das (nach wie vor notwendige!) Asyl, mit der erstere unzulässigerweise immer wieder in einen Topf geworfen wird, nicht im geringsten beeinträchtigen dürfte. Sie bestünde darin, die Beweislast einfach umzukehren. Die Arbeitsemigrantinnen und Arbeitsemigranten, die neu eingereist sind, wären erst dann in ein Land ihrer Wahl zu entlassen, wenn für jeden Einzelfall mit internationalisierter Hilfe die geeigneten Patenschaftsverhältnisse hergestellt worden wären. Utopie, ich weiß - aber hier sprechen wir ja über Utopien. Gehen wir den nächsten Schritt weiter. Weltweit gibt es eine große Zahl von Genossenschaften und genossenschaftsähnlichen Einrichtungen, auch von zum Teil passablen gemeinwirtschaftlichen Unternehmungen. Allein in Deutschland sind es mehrere tausend, in Österreich mehrere hundert. Abgesehen davon, daß die Bedeutung von Genossenschaften weltweit sehr unterschiedlich ist: von den europäischen Selbstverwaltungsbestrebungen über die osteuropäischen Restverwaltungen bis hin zum Bemühen, zu überleben, und das weltweit. Auch eine Reihe von Analysen wären erforderlich, beispielsweise denke ich an jene zum Niedergang der sozialdemokratischen Gemeinwirtschaft in Zentraleuropa und zum Scheitern der jugoslawischen Arbeiterselbstverwaltung. Es müssen ja nicht sämtliche strukturellen Fehler endlos wiederholt werden. Es könnte sich eine Fülle von Utopien auf verstärkte Kooperation dieser genossenschaftlichen oder genossenschaftsähnlichen Einheiten beziehen. Wie könnte es, beispielsweise, aussehen, wenn es europaweit Service- und Distributionsstellen für Mondragon-Kühlschränke (für Österreich: Eiskästen) gäbe? Wenn die alternative Speiseeis-Aktiengesellschaft aus Vermont in Europa Geschwistergenossenschaften hätte, welche ihrerseits wiederum mit Naturata, dem Dritte Welt Handel etc. vernetzt wären? Welche Spielräume für alternative Joint Ventures mit Genossenschaften in Osteuropa und in der Dritten Welt gibt es? Könnte es geben?

Schließlich gipfelten die aus der Ebene des Weltmarkts resultierenden Utopien in Vorstellungen, wie, und dies so gewaltfrei wie irgend möglich, einmal in fernen Tagen der Umbau der multinationalen Konzerne stattfinden könnte. Und hierzu gibt es noch kaum weitertreibende Phantasien. Nicht zu reden von der weltweiten Problematik, wo wir zwar zwischenzeitlich über jede Menge kritischer Analysen und Modelle verfügen5.21, indes kaum über Lösungsvorschläge, die über ergebnislose Konferenzen vom Typ Rio oder, zum anderen, über die Rede vom »lokal handeln« hinausgingen. Schließlich werden unweigerlich neue Herrschaftsstrukturen vom Typus der UNO- oder EG-Bürokratie entstehen, gelingt es nicht, eine realisierbare Utopie transnationaler Willensbildung zu erstellen - und sei es auch mit elektronischer Hilfe, etwa durch entsprechend zusammengeschaltete Mailboxen. Sollte ich einiges vergessen haben (was mit Sicherheit der Fall sein wird), bitte ich um Nachsicht: Dies veranschaulicht nur, wie vielfältig die anstehenden Probleme sind und sein werden, so daß dies auf 20 Seiten nicht einmal als Aufzählung darzustellen ist.



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