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Wed Dec  4 17:37:44 1996
 

Die »letzte Version« nicht dem Staat überlassen!

Redaktionsgruppe Jitarra



»Heute nachmittag um 15.15 Uhr wurden in Bad Kleinen (Mecklenburg-Vorpommern) die seit Jahren mit internationalem Haftbefehl gesuchten Mitglieder der terroristischen Rote Armee Fraktion (RAF), Birgit Hogefeld und Wolfgang Grams, im Auftrag des Generalbundesanwalts von einem Mobilen Einsatzkommando (MEK) des Bundeskriminalamts verhaftet. (...) Die Verhaftung der beiden Beschuldigten erfolgte beim Verlassen der Gaststätte Waldeck auf dem Bahnhofsvorplatz von Bad Kleinen. Dabei kam es zu einem von Hogefeld eröffneten Schußwechsel. Grams erlitt Schußverletzungen, an deren Folge er gegen 18.00 Uhr in der Universitätsklinik Lübeck gestorben ist.« Dies ist der Text der Presseerklärung der Bundesanwaltschaft vom 27. Juni 1993. Als die ersten Meldungen im Radio, die ersten Bilder im Fernsehen kommen, lebt Wolfgang Grams noch. »Schwerverletzt« heißt es. Ein paar Stunden später ist er tot. »Seinen Schußverletzungen erlegen« heißt es.

Im ersten Moment schien es, als sei Wolfgang Grams bei einem bewaffneten Zusammenstoß um¹s Leben gekommen. Der Verdacht einer gezielten Erschießung kam noch nicht auf, obwohl bereits am ersten Tag Widersprüche auftauchten. Es kamen aber auch sofort Assoziationen zu vergleichbaren Situationen, in denen Polizei und Sondereinsatzkommandos tatsächliche oder vermeintliche Mitglieder der RAF oder der Bewegung 2. Juni gezielt erschossen hatten oder alles unternahmen, damit Verletzte nicht überleben. Erinnerungen wurden wach: an den Mord an Georg von Rauch 1971, der, mit erhobenen Händen an der Wand stehend und nachdem er nach Waffen durchsucht worden war, von einer Polizeikugel aus einem Meter Entfernung durch das Auge getroffen wurde; an Willy-Peter Stoll, der 1978 in einem Restaurant von zwei Polizisten erschossen wurde; an Elisabeth von Dyck, die 1979 von der Polizei beim Betreten einer Wohnung durch einen Schuß in den Rücken getötet wurde. Oder an Rolf Heissler, dem 1979, ebenfalls beim Betreten einer Wohnung, ein Polizist ohne Vorwarnung und ohne, daß er den Versuch unternommen hätte, seine Waffe zu ziehen, in den Kopf schoß . Daß Rolf Heissler überlebte, war nicht vorgesehen. Das sind nur einige der zahlreichen Fälle, in denen dieser Staat Morde oder Mordversuche an politischen GegnerInnen begangen hat.

Die Entwicklung nach dem 27. Juni 1993 bestätigte diese Assoziationen. Die Bundesanwaltschaft verhängte eine Nachrichtensperre. Schon bald wurden neue Widersprüche zu ihren kargen Pressemitteilungen bekannt. Die Medien begannen zu spekulieren und nachzuforschen, wie die Schießerei tatsächlich abgelaufen sein könnte. Am 1. Juli berichtete die Fernsehsendung Monitor von einer Zeugin, die schon am 27. Juni ausgesagt hatte, daß Wolfgang Grams durch einen Kopfschuß aus nächster Nähe erschossen worden sei.
Bereits in diesen Tagen, als Regierung und Behörden sich völlig in Widersprüche verwickelten und eine absurde Erklärung nach der anderen abgaben, war klar, daß von dieser Seite keine Aufklärung der Ereignisse zu erwarten sein würde, sondern im Gegenteil konzentrierte Anstrengungen unternommen würden, die Geschichte zu verdrehen und zu fälschen. Wieder einmal sollte Selbstmord oder Unfall die staatliche Version werden. Dagegen wurden verschiedene Initiativen ergriffen, um zu verhindern, daß das schon bald absehbare Ergebnis der staatlichen »Ermittlungen« unwidersprochen stehenbleibt. Es entstand die Idee, eine Unabhängige Internationale Untersuchungskommission (IUK) einzurichten.


Warum es keine Unabhängige Internationale Untersuchungskommission gibt

Ausgangspunkt der Initiative zur Einrichtung einer Unabhängigen Internationalen Untersuchungskommission zur Aufklärung der Todesumstände von Wolfgang Grams war die Überzeugung, daß es besonderer Anstrengungen bedürfe, um die Staatsversion zu überprüfen und schlicht die Wahrheit herauszufinden. Die Kommission sollte aus internationalen unabhängigen Persönlichkeiten, ExpertInnen, GerichtsmedizinerInnen, AnwältInnen, ÄrztInnen und MenschenrechtlerInnen bestehen - ähnlich der Kommission, die nach dem Tod Ulrike Meinhofs eingerichtet worden war. Stimmen mit gesellschaftlicher Relevanz sollten in die laufenden Diskussionen eingreifen.
Der Einsatz von Bundeskriminalamt und der GSG 9 in Bad Kleinen selbst, aber auch der politische und strukturelle Zusammenhang der Ereignisse in und um Bad Kleinen sollten fachlich und politisch untersucht und bewertet werden. Dies immer unter der Voraussetzung, daß die Kommission tatsächlich mit dem entsprechenden Material, Gutachten, Protokolle etc., hätte arbeiten können. Auf Regierung und Behörden sollte öffentlich Druck ausgeübt werden, damit die erforderlichen Unterlagen und Protokolle zur Verfügung gestellt würden.
Nach Abschluß ihrer Untersuchung hätte die Kommission einen öffentlichen Bericht vorlegen sollen.
Wir haben unzählige Organisationen und Persönlichkeiten in der BRD angesprochen, so zum Beispiel den Republikanischen Anwältinnen- und Anwälteverein, die Strafverteidigervereinigung, die Internationale Liga für Menschenrechte, amnesty international, die Humanistische Union, Bürgerrechte und Polizei, die Vereinigung der Verfolgten des Naziregimes, die PDS sowie AnwältInnen, GerichtsmedizinerInnen und JournalistInnen.
International wurden AnwältInnen und MenschenrechtlerInnen aus der Türkei, Mexico, den Philippinen, Spanien, USA und der Schweiz angefragt.
Die internationale Beteiligung hätte der Kommission stärkeres politisches Gewicht verliehen. Dadurch, daß Persönlichkeiten aus dem Trikont hier in der BRD Menschenrechtsverletzungen untersuchen, sollte auch der gängigen herrschenden Propaganda entgegengetreten werden, die die westlichen Industriestaaten so gerne als Hort von Demokratie und Menschenrechten abfeiert. Üblicherweise ist das Verhältnis ja umgekehrt: ExpertInnen aus den Metropolen untersuchen Fälle von Menschenrechtsverletzungen in Ländern des Trikonts.
Die Kommunikation mit den potentiellen Mitgliedern aus der BRD gestaltete sich jedoch sehr schwierig. Bis zum Schluß, das heißt bis zu der Entscheidung im November 1993, das Vorhaben einer Untersuchungskommission aufzugeben, konnten sich nur sehr wenige der Angesprochenen zu einer Zusage durchringen. Von allen Anderen kam überhaupt keine Rückmeldung oder es wurden immer wieder Gründe angeführt - tatsächliche, zum Teil aber auch fadenscheinige -, ihre Entscheidung hinauszuzögern. Letztendlich war die Unterstützung viel zu gering, um eine Kommission einzurichten.
Die internationalen Organisationen und Persönlichkeiten - vor allem die aus den Ländern des Trikonts - bekundeten dagegen sofort ihre Bereitschaft, sich zu beteiligen bzw. die Kommission zu unterstützen. Die Möglichkeit einer »ausländischen« Kommission ohne hiesige Beteiligung wurde kurz diskutiert. Wir haben dies jedoch verworfen, weil es bedeutet hätte, die Linke hier zu Lasten Anderer aus ihrer Verantwortung zu entlassen. Außerdem hätten wir für die Arbeit der international Beteiligten kaum eine ausreichende Basis herstellen können.
Diese Erfahrung machte uns deutlich, daß wir uns über die hiesige »demokratische Öffentlichkeit« Illusionen gemacht hatten. Wir hatten erwartet, daß sie sich gemäß ihrem eigenen Anspruch und ihren Stellungnahmen für eine Aufklärung des Todes von Wolfgang Grams einsetzen würde. Daß aus diesen Kreisen bis heute immer wieder gerne öffentlich eine Untersuchungskommission zu den Ereignissen in Bad Kleinen gefordert wird, hinterläßt vor diesem Hintergrund bei uns einen etwas schalen Beigeschmack.
Auch die radikale Linke hat sich schwer damit getan, angemessen auf die Ereignisse zu reagieren. Mit Ausnahme der bundesweiten Demonstration in Wiesbaden am 10. Juli 1993, zweier Kundgebungen in Bad Kleinen, einer Plakataktion und einigen Beiträgen in linken Zeitschriften war sie in der öffentlichen Diskussion um die Vorgänge in Bad Kleinen kaum präsent.
Schon bald stand der V-Mann Steinmetz im Mittelpunkt der Diskussion. Die Bestürzung über die Tatsache, daß ein V-Mann so weit vordringen konnte, und die Fehler im Umgang damit, die vor allem in der ersten Zeit nach Bekanntwerden der Existenz eines »dritten Mannes« in Bad Kleinen gemacht wurden, bewirkten eine tiefe Verunsicherung. Dazu kamen die politischen Widersprüche unter und mit den politischen Gefangenen, zugespitzt im Zusammenhang mit der Politik der RAF seit April 1992, die eskalierten und im Oktober 1993 zum Bruch unter den politischen Gefangenen und zwischen einem Großteil der Gefangenen und der RAF führten.
Als sich das Scheitern der Initiative für eine Internationale Untersuchungskommission abzeichnete, war uns klar, daß das nicht das Ende unserer Arbeit sein könne. Deshalb entschlossen wir uns, die inhaltliche Arbeit wie Materialauswertung, Recherche, etc. weiterzuführen und ihre Ergebnisse zu veröffentlichen.

Noch vor Abschluß unserer Arbeit wiederholte sich die Geschichte: Fast genau ein Jahr nach Bad Kleinen wird in Hannover der 16-jährige Kurde Halim Dener von der Polizei erschossen. Er hatte Plakate zur Unterstützung des kurdischen Befreiungskampfs geklebt. Der tödliche Schuß wurde aus kurzer Entfernung in seinen Rücken abgegeben.

Dieses Buch ist das Ergebnis unserer Arbeit. Es beleuchtet einen Moment des staatlichen Vernichtungsinteresses gegen Fundamentalopposition und soll ein Beitrag sein gegen das Vergessen und gegen die staatliche Absicht, einmal mehr »Selbstmord« als Geschichte festzuschreiben.

Wir möchten uns an dieser Stelle bei allen bedanken, die uns mit solidarischer Kritik, Rat und praktischer Hilfe unterstützt haben.


September 1994