Redaktionsgruppe Jitarra
»Heute nachmittag um 15.15 Uhr wurden in Bad Kleinen
(Mecklenburg-Vorpommern) die seit Jahren mit internationalem Haftbefehl
gesuchten Mitglieder der terroristischen Rote Armee Fraktion (RAF), Birgit
Hogefeld und Wolfgang Grams, im Auftrag des Generalbundesanwalts von einem
Mobilen Einsatzkommando (MEK) des Bundeskriminalamts verhaftet. (...) Die
Verhaftung der beiden Beschuldigten erfolgte beim Verlassen der Gaststätte
Waldeck auf dem Bahnhofsvorplatz von Bad Kleinen. Dabei kam es zu einem von
Hogefeld eröffneten Schußwechsel. Grams erlitt Schußverletzungen,
an deren Folge er gegen 18.00 Uhr in der Universitätsklinik Lübeck
gestorben ist.« Dies ist der Text der Presseerklärung der
Bundesanwaltschaft vom 27. Juni 1993. Als die ersten Meldungen im Radio, die
ersten Bilder im Fernsehen kommen, lebt Wolfgang Grams noch. »Schwerverletzt«
heißt es. Ein paar Stunden später ist er tot. »Seinen Schußverletzungen
erlegen« heißt es.
Im ersten Moment schien es, als sei Wolfgang Grams bei einem bewaffneten Zusammenstoß um¹s Leben gekommen. Der Verdacht einer gezielten Erschießung kam noch nicht auf, obwohl bereits am ersten Tag Widersprüche auftauchten. Es kamen aber auch sofort Assoziationen zu vergleichbaren Situationen, in denen Polizei und Sondereinsatzkommandos tatsächliche oder vermeintliche Mitglieder der RAF oder der Bewegung 2. Juni gezielt erschossen hatten oder alles unternahmen, damit Verletzte nicht überleben. Erinnerungen wurden wach: an den Mord an Georg von Rauch 1971, der, mit erhobenen Händen an der Wand stehend und nachdem er nach Waffen durchsucht worden war, von einer Polizeikugel aus einem Meter Entfernung durch das Auge getroffen wurde; an Willy-Peter Stoll, der 1978 in einem Restaurant von zwei Polizisten erschossen wurde; an Elisabeth von Dyck, die 1979 von der Polizei beim Betreten einer Wohnung durch einen Schuß in den Rücken getötet wurde. Oder an Rolf Heissler, dem 1979, ebenfalls beim Betreten einer Wohnung, ein Polizist ohne Vorwarnung und ohne, daß er den Versuch unternommen hätte, seine Waffe zu ziehen, in den Kopf schoß . Daß Rolf Heissler überlebte, war nicht vorgesehen. Das sind nur einige der zahlreichen Fälle, in denen dieser Staat Morde oder Mordversuche an politischen GegnerInnen begangen hat.
Die Entwicklung nach dem 27. Juni 1993 bestätigte diese Assoziationen.
Die Bundesanwaltschaft verhängte eine Nachrichtensperre. Schon bald wurden
neue Widersprüche zu ihren kargen Pressemitteilungen bekannt. Die Medien
begannen zu spekulieren und nachzuforschen, wie die Schießerei tatsächlich
abgelaufen sein könnte. Am 1. Juli berichtete die Fernsehsendung Monitor
von einer Zeugin, die schon am 27. Juni ausgesagt hatte, daß Wolfgang
Grams durch einen Kopfschuß aus nächster Nähe erschossen worden
sei.
Bereits in diesen Tagen, als Regierung und Behörden sich völlig
in Widersprüche verwickelten und eine absurde Erklärung nach der
anderen abgaben, war klar, daß von dieser Seite keine Aufklärung der
Ereignisse zu erwarten sein würde, sondern im Gegenteil konzentrierte
Anstrengungen unternommen würden, die Geschichte zu verdrehen und zu fälschen.
Wieder einmal sollte Selbstmord oder Unfall die staatliche Version werden.
Dagegen wurden verschiedene Initiativen ergriffen, um zu verhindern, daß
das schon bald absehbare Ergebnis der staatlichen »Ermittlungen«
unwidersprochen stehenbleibt. Es entstand die Idee, eine Unabhängige
Internationale Untersuchungskommission (IUK) einzurichten.
Ausgangspunkt der Initiative zur Einrichtung einer Unabhängigen
Internationalen Untersuchungskommission zur Aufklärung der Todesumstände
von Wolfgang Grams war die Überzeugung, daß es besonderer
Anstrengungen bedürfe, um die Staatsversion zu überprüfen und
schlicht die Wahrheit herauszufinden. Die Kommission sollte aus internationalen
unabhängigen Persönlichkeiten, ExpertInnen, GerichtsmedizinerInnen,
AnwältInnen, ÄrztInnen und MenschenrechtlerInnen bestehen - ähnlich
der Kommission, die nach dem Tod Ulrike Meinhofs eingerichtet worden war.
Stimmen mit gesellschaftlicher Relevanz sollten in die laufenden Diskussionen
eingreifen.
Der Einsatz von Bundeskriminalamt und der GSG 9 in Bad Kleinen
selbst, aber auch der politische und strukturelle Zusammenhang der Ereignisse in
und um Bad Kleinen sollten fachlich und politisch untersucht und bewertet
werden. Dies immer unter der Voraussetzung, daß die Kommission tatsächlich
mit dem entsprechenden Material, Gutachten, Protokolle etc., hätte arbeiten
können. Auf Regierung und Behörden sollte öffentlich Druck ausgeübt
werden, damit die erforderlichen Unterlagen und Protokolle zur Verfügung
gestellt würden.
Nach Abschluß ihrer Untersuchung hätte die Kommission einen öffentlichen
Bericht vorlegen sollen.
Wir haben unzählige Organisationen und Persönlichkeiten
in der BRD angesprochen, so zum Beispiel den Republikanischen Anwältinnen-
und Anwälteverein, die Strafverteidigervereinigung, die Internationale Liga
für Menschenrechte, amnesty international, die Humanistische Union, Bürgerrechte
und Polizei, die Vereinigung der Verfolgten des Naziregimes, die PDS sowie AnwältInnen,
GerichtsmedizinerInnen und JournalistInnen.
International wurden AnwältInnen
und MenschenrechtlerInnen aus der Türkei, Mexico, den Philippinen, Spanien,
USA und der Schweiz angefragt.
Die internationale Beteiligung hätte
der Kommission stärkeres politisches Gewicht verliehen. Dadurch, daß
Persönlichkeiten aus dem Trikont hier in der BRD Menschenrechtsverletzungen
untersuchen, sollte auch der gängigen herrschenden Propaganda
entgegengetreten werden, die die westlichen Industriestaaten so gerne als Hort
von Demokratie und Menschenrechten abfeiert. Üblicherweise ist das Verhältnis
ja umgekehrt: ExpertInnen aus den Metropolen untersuchen Fälle von
Menschenrechtsverletzungen in Ländern des Trikonts.
Die Kommunikation
mit den potentiellen Mitgliedern aus der BRD gestaltete sich jedoch sehr
schwierig. Bis zum Schluß, das heißt bis zu der Entscheidung im
November 1993, das Vorhaben einer Untersuchungskommission aufzugeben, konnten
sich nur sehr wenige der Angesprochenen zu einer Zusage durchringen. Von allen
Anderen kam überhaupt keine Rückmeldung oder es wurden immer wieder Gründe
angeführt - tatsächliche, zum Teil aber auch fadenscheinige -, ihre
Entscheidung hinauszuzögern. Letztendlich war die Unterstützung viel
zu gering, um eine Kommission einzurichten.
Die internationalen
Organisationen und Persönlichkeiten - vor allem die aus den Ländern
des Trikonts - bekundeten dagegen sofort ihre Bereitschaft, sich zu beteiligen
bzw. die Kommission zu unterstützen. Die Möglichkeit einer »ausländischen«
Kommission ohne hiesige Beteiligung wurde kurz diskutiert. Wir haben dies jedoch
verworfen, weil es bedeutet hätte, die Linke hier zu Lasten Anderer aus
ihrer Verantwortung zu entlassen. Außerdem hätten wir für die
Arbeit der international Beteiligten kaum eine ausreichende Basis herstellen können.
Diese Erfahrung machte uns deutlich, daß wir uns über die
hiesige »demokratische Öffentlichkeit« Illusionen gemacht hatten.
Wir hatten erwartet, daß sie sich gemäß ihrem eigenen Anspruch
und ihren Stellungnahmen für eine Aufklärung des Todes von Wolfgang
Grams einsetzen würde. Daß aus diesen Kreisen bis heute immer wieder
gerne öffentlich eine Untersuchungskommission zu den Ereignissen in Bad
Kleinen gefordert wird, hinterläßt vor diesem Hintergrund bei uns
einen etwas schalen Beigeschmack.
Auch die radikale Linke hat sich schwer
damit getan, angemessen auf die Ereignisse zu reagieren. Mit Ausnahme der
bundesweiten Demonstration in Wiesbaden am 10. Juli 1993, zweier Kundgebungen in
Bad Kleinen, einer Plakataktion und einigen Beiträgen in linken
Zeitschriften war sie in der öffentlichen Diskussion um die Vorgänge
in Bad Kleinen kaum präsent.
Schon bald stand der V-Mann Steinmetz im
Mittelpunkt der Diskussion. Die Bestürzung über die Tatsache, daß
ein V-Mann so weit vordringen konnte, und die Fehler im Umgang damit, die vor
allem in der ersten Zeit nach Bekanntwerden der Existenz eines »dritten
Mannes« in Bad Kleinen gemacht wurden, bewirkten eine tiefe Verunsicherung.
Dazu kamen die politischen Widersprüche unter und mit den politischen
Gefangenen, zugespitzt im Zusammenhang mit der Politik der RAF seit April 1992,
die eskalierten und im Oktober 1993 zum Bruch unter den politischen Gefangenen
und zwischen einem Großteil der Gefangenen und der RAF führten.
Als sich das Scheitern der Initiative für eine Internationale
Untersuchungskommission abzeichnete, war uns klar, daß das nicht das Ende
unserer Arbeit sein könne. Deshalb entschlossen wir uns, die inhaltliche
Arbeit wie Materialauswertung, Recherche, etc. weiterzuführen und ihre
Ergebnisse zu veröffentlichen.
Noch vor Abschluß unserer Arbeit wiederholte sich die Geschichte: Fast genau ein Jahr nach Bad Kleinen wird in Hannover der 16-jährige Kurde Halim Dener von der Polizei erschossen. Er hatte Plakate zur Unterstützung des kurdischen Befreiungskampfs geklebt. Der tödliche Schuß wurde aus kurzer Entfernung in seinen Rücken abgegeben.
Dieses Buch ist das Ergebnis unserer Arbeit. Es beleuchtet einen Moment des staatlichen Vernichtungsinteresses gegen Fundamentalopposition und soll ein Beitrag sein gegen das Vergessen und gegen die staatliche Absicht, einmal mehr »Selbstmord« als Geschichte festzuschreiben.
Wir möchten uns an dieser Stelle bei allen bedanken, die uns mit solidarischer Kritik, Rat und praktischer Hilfe unterstützt haben.
September 1994