(Innenminister Kanther)
Hans Branscheidt
Man kann den mit der Untersuchung des Ereignisses von Bad Kleinen
beauftragten Beamten, Polizisten und Staatsanwälten, liest man ihre endlos
fortgeschrieben Geschichten dazu, irgendwann in ungeduldiger Empörung
nachsagen, sie seien in einer mutwilligen Fahrlässigkeit mit den Dingen
verfahren, die am Ende einfach kriminell ist. Es sind dies aber keine ordinären
Kriminellen sondern Politiker, die sich nach Kräften mühten, einer
Hauptaufgabe heutiger Politik zu entsprechen: die Bedingungen der Erkenntnis
primärer Wirklichkeit außer Kraft zu setzen.
Keine Hungerrevolte auf der Welt, die nicht im Sinne der Behauptung von der Irrationalität der Betroffenen interpretiert werden müßte. Keine mafiotische Struktur in armen Ländern, Ergebnis der weltbankgeleiteten Verelendung und der damit verbundenen Sinnlosigkeit demokratischer lnfrastrukturen, die nicht als bloß kriminelles Phänomen erkennbar werden soll. Kein globaler Konflikt, der nicht aufwendig ethnisiert und tribalisiert werden müßte, damit man ihn verkennt.
Und insofern sind Politiker und ihre Agenturen wirklich mühsam und
belastet unentwegt damit beschäftigt, Ursachen und Wirkungen gegeneinander
austauschen zu müssen, also auch Tatsachen zu entwerten.
Das befördert
nicht mehr nur die schlichte Lüge, um die es sich dabei sicher handelt,
sondern meint harte Totalarbeit im Sinne politischer Hauptaufgabe.
Derart gerät die Sache auch, was Bad Kleinen betrifft, zu einem
routinierten Arbeitsgespräch, wenn im Innenausschuß des Bundestages
der Abgeordnete Lüder (FDP) laut-verzweifelt darüber klagt, daß
die »Positionierung der Leiche (des Wolfgang Grams)« von Bericht zu
Bericht ständig wechselt. Worauf der Angeordnete Gerster (CDU) ganz und gar
nicht zynisch, sondern nur arbeitsbewußt erwidert: »Die Gleise (auf
dem Bahnhof) haben sich verschoben«.
Damit haben sich und werden sich
Untersuchungsausschüsse beschäftigen, die solchen Gleisverschiebungen
keinen physikalischen Glauben schenken. Mich interessiert das weniger: Wolfgang
Grams ist ermordet worden! Ob am Tatort selber und verursacht durch die dort Tätigen
und die herrschenden Umstände und Bedingungen, oder im Rahmen des schon
vorher angelegten Kalküls durch Dienste und Polizeien, die sich endlich
selber aus ihrer eigenen spitzelgeleiteten Aktion einer operativ-politischen Maßnahme
gegen die RAF auf finale Weise »befreien« wollten. Am Ende steht
allemal der moralische Imperativ des Kanzlers und seiner Rede vor der GSG 9, die
meint: »Wenn ihr schießt, dann schieße ich«.
Die Geschichte ist also nicht am Ende. Und die wahre Genesis beginnt immer am Schluß, der den Hölderlin-Satz eröffnet: »So viel Anfang war nie«. Das gilt für Wolfgang Grams - und keine Trauerrede, nichts von Nachruf.
Die Bezeichnung dessen, was Wolfang Grams bewegte, besteht inhaltlich im
zutreffenden Verhältnis zur primären Wirklichkeit, nicht in erster
Linie in seinen empirischen Taten. In der überhaupt nicht isolierten Übereinstimmung
mit den Fragen aller anderen Menschen seiner Zeit: Wie kann ich würdig
leben? Wofür lohnt es sich, einzutreten? Was ist Moral, was Recht? Welches
Gemeinwesen führt zum Glück oder Unglück? Was bedeutet Mündigkeit
und Entmündigung? Was ist Autonomie? Wie läßt sich dem
Individuum, das innerlich so zerstört ist, die Treue halten?
Diese
Fragen und Aufgaben sind nicht veraltet. Sie sind nicht gelöst. Sie harren
noch der Lösung und müssen weiter bearbeitet werden - und liegen
angeschossen auf dem richtigen Gleis. Sie haben nur große Mühe mit
der gigantisch-totalitären Maschinerie ihrer Entwertung und Umdeklarierung,
in der das Unwahre auch ganz förmlich zur Wahrheit werden soll.
Möglich
wird Lösung dann, wenn das Ungelöste im Zusammenhang begriffen wird,
wenn in geschichtlich-gesellschaftlichen Zusammenhängen ein Begriff von
ihnen entworfen wird, der die ganze Trostlosigkeit, aber auch die Hoffnung auf
Veränderung beinhaltet. Für Wolfgang Grams war das Unabgegoltene ein
Geltungsanspruch an die Gegenwart. »Nie war so viel Anfang«. Oder
Friedrich Engels in seiner lauteren, der triftigsten aller Begründungen
menschlich-politischer Tat: »Wir reklamieren den Inhalt der Geschichte!«
Er meinte damit die Kommunisten.
Wolfgang Grams hat diesen Satz gehört und auch verstanden.