Birgit Hogefeld
Jetzt sitze ich an meinem Zellentisch und schaue auf sein Bild - es hängt
vor mir an der Wand.
Was für ein Mensch ist Wolfgang gewesen?
Vermutlich kannte ihn niemand so gut wie ich und gerade das macht es so schwer,
über ihn zu schreiben. Denn egal wo ich anfange und wo aufhöre, am
Ende wird es mir vorkommen wie vereinzelte Steinchen eines Mosaiks - das kann
wohl auch gar nicht anders sein, denn ein auch nur annähernd vollständiges
Bild nachzuzeichnen, erscheint mir unmöglich.
Wolfgang hat - wie viele
andere Jugendliche auch - mit Freundinnen und Freunden ganze Nächte lang über
seine Träume, Hoffnungen andere Lebensvorstellungen und eine menschliche
Welt philosophiert - mit viel Musik hören und machen, mit kiffen und andere
Drogen ausprobieren.
Er war sich schon früh im klaren darüber, daß
er nicht in diesem auf Leistung ausgerichteten Gesellschaftsmodell, in dem
Vorstellungen und Utopien von Menschen nicht zählen, leben will. Dazu haben
auch seine Erfahrungen in der Schule, die er fast durchgängig als nackte
Unterdrückung erlebt hat, beigetragen.
Gegen Ende seiner Schulzeit
schloß er sich der » Sozialistischen Initiative Wiesbaden« an.
Das war ein Zusammenschluß ganz unterschiedlicher Menschen aus dem linken
und fortschrittlichen Spektrum. In ihr galt der Grundsatz, niemanden
auszugrenzen. Von dieser Gruppierung gingen die verschiedensten Initiativen aus.
Viele waren im Sozialbereich, also als SozialarbeiterInnen in Jugendzentren oder
Obdachlosensiedlungen tätig; es gab aber auch Initiativen zur
Irland-Solidarität oder eine Palästina-Gruppe und auch der
Hungerstreik der politischen Gefangenen 1974, in dem Holger Meins umgebracht
worden ist, wurde von dieser Gruppierung unterstützt. Auch die »Rote
Hilfe« ist aus ihr hervorgegangen.
Damals lebte Wolfgang mit Leuten
aus diesem politischen Zusammenhang auch zusammen.
Als während des Hungerstreiks 1974 die Zentrale von amnesty
international in Hamburg besetzt wurde, um die Forderungen der Gefangenen zu
unterstützen, war auch Wolfgang mit mehreren Leuten aus der Roten Hilfe
Wiesbaden dabei. Ich glaube, es war das erste von unzähligen Malen, daß
er festgenommen worden ist.
Nach dem Abitur hat er als
Zivildienstleistender in einem Krankenhaus gearbeitet und später ein
Mathematikstudium angefangen, aber sehr schnell wieder abgebrochen. Danach hat
er Gelegenheitsjobs gemacht, meistens ist er zwei Nächte in der Woche Taxi
gefahren. Er war ein Mensch, der nicht viel Geld zum Leben gebraucht hat.
Angesichts der Brutalität, Unmenschlichkeit und Menschenverachtung
dieses Systems sah Wolfgang schon sehr viele Jahre, bevor er selber die
Entscheidung getroffen hat, hier bewaffnet zu kämpfen, im Kampf der RAF die
adäquate Antwort auf diese Verhältnisse. Er hat Kontakt zu den
GenossInnen, die damals in der RAF organisiert waren aufgenommen, denn er wollte
die gemeinsame Diskussion und er wollte sie in praktischen Dingen unterstützen.
Im Herbst 1978 wurde Willy Stoll in einem Restaurant in Düsseldorf von
Mitgliedern einer Spezialeinheit erschossen - es war die Zeit der »Kill-Fahndung«,
d.h. solche Einheiten hatten den Auftrag RAF-Mitglieder nicht lebend gefangen zu
nehmen, sondern sie zu erschießen. In dieser Zeit fanden außer Willy
auch Elisabeth von Dyck und Michael Knoll den Tod. Rolf Heißler und Günter
Sonnenberg wurden bei ihrer Festnahme durch Schüsse in den Kopf lebensgefährlich
verletzt.
In einem bei Willy Stoll gefundenen Notizbuch wurden Hinweise auf
den Kontakt zwischen Wolfgang und der RAF gefunden und Wolfgang wurde verhaftet
und kam nach Frankfurt-Preungesheim in Totalisolation. Ich habe einen seiner
ersten Briefe aus dieser Zeit, darin schreibt er:
»(...) alles voller
grauer Beton und Gitter, mir fiel sofort das eine Plakat ein »Kulturdenkmäler
des Faschismus« oder Imperialismus. So was perverses von »Schutzvorkehrungen«
habe ich mir früher nie so richtig vorstellen können: die
Vernichtungsmaschine, der Menschenkäfig.«
Und weiter schreibt er,
daß es für ihn (und auch für andere) darum geht »zu
verstehen, daß das, was wir über dieses System kapiert, gelernt haben
uns nie so total direkt getroffen hat (...), daß es kein Sandkastenspiel
ist, (...)«
Diese Erfahrungen - die Erschießung von Willy, seine Verhaftung, die
Totalisolation und später ein Hungerstreik, um eine Verbesserung der
Haftbedingungen zu erkämpfen, haben Wolfgang in seiner Einstellung gegenüber
diesem Staat und dem imperialistischen System bestärkt, sie vertieft und
sie haben seinen weiteren Lebensweg mit geprägt.
Meine Genossinnen und
Genossen aus der RAF haben in einem Brief kurz nach Wolfgangs Tod geschrieben:
»Seine Skepsis gegenüber vorschnellen Entscheidungen, seine
Geduld, etwas auch mehr als einmal zu hinterfragen, was von allen anderen
Genauigkeit in der Auseinandersetzung gefordert hat und was nicht immer bequem
war - damit hat er z. B. dafür gesorgt, alle Aspekte der Situation oder der
eigenen Vorstellung anzusehen und nicht nur die Aspekte wahrzunehmen, die einen
selbst bestätigen. Auch das wird uns fehlen.«
Als ich diese Zeilen zum ersten Mal gelesen habe, mußte ich innerlich
lachen, denn mir sind sofort unzählige Situationen eingefallen, in denen
dieses Verhalten auch zu Reibungen geführt hat. Es stimmt, er hat durch
seine Fragen viele gute und produktive Diskussionen ausgelöst, aber er tat
sich auch schwer, zu politischen Entscheidungen zu finden.
Wolfgang war
ein sehr ruhiger, eher in sich gekehrter Mensch. Schon an seiner Art sich zu
bewegen, war ihm anzumerken, daß Hektik und jede Form von Streß
seinem Naturell zuwider lief. Ich schreibe das hier auch deshalb, weil Menschen,
die ihn nicht kannten und denen nur die letzten Minuten seines Lebens bekannt
sind, vermutlich ein völlig anders Bild von ihm haben. Ich kannte Wolfgang
18 oder 19 Jahre lang. Er war ein Mensch, dem man grenzenlos vertrauen konnte,
von dem seine GenossInnen wußten, daß er jederzeit bereit war, sein
eigenes Leben zu geben, um andere zu schützen. Und er war ein Mensch, der
sich immer um Übereinstimmung zwischen dem, was er sagte, und seinem
Handeln bemüht hat.
Kürzlich las ich in einem Buch folgende Charakteristik: »Ein Wesen, in dem die Liebe verkörpert war, nicht nur zur Menschheit, sondern zum einzelnen Menschen« - ich mußte dabei sofort an Wolfgang denken, denn es beschreibt den Wesenszug, den ich an ihm am meisten mochte. Wenn ein Mensch, der einem sehr nahe steht stirbt, ergibt sich wie von selbst, daß man darüber nachdenkt, welche Eigenschaften dieses Menschen in einem selber weiterleben sollen; bei mir ist es vor allem eben diese Eigenschaft, daß Wolfgang nie den anderen Menschen aus dem Auge verloren hat - selbst im Streit nicht. Das war auch in unseren politischen Zusammenhängen nicht immer selbstverständlich.
Auf seinem Grabstein werden die Zeilen des türkischen Dichters Nâzm Hikmet stehen:
Leben. Wie ein Baum, einzeln und frei
und brüderlich wie ein Wald,
diese Sehnsucht ist unser!