Nach den Ereignissen in Bad Kleinen gab es in der Öffentlichkeit
viele kritische Fragen dazu, warum bei einem derart langfristig und
generalstabsmäßig geplanten Einsatz und der Präsenz von über
fünfzig Spezialisten von GSG 9 und BKA am Einsatzort ein Fluchtweg für
Wolfgang Grams offen geblieben war. Nach der offiziellen Version waren alle Zu-
und Abgänge zur Bahnhofsunterführung versperrt, nur ausgerechnet der
zu Bahnsteig 3/4 nicht, neben dem Wolfgang Grams in dem Moment stand, als der
Zugriffs-SET mit Gebrüll und gezogenen Waffen auf ihn losstürmte.
Lediglich ein Beamter, GSG 9 Nr. 4, soll auf Bahnsteig 3/4 postiert gewesen sein
- und der habe ihn angeblich direkt vor Auslösung des Zugriffs verlassen.
Einige Aussagen belegen, daß dem Bahnsteig 3/4 schon in der Vorlaufzeit
des Zugriffs besondere Bedeutung zukam, trotz aller offiziellen Äußerungen,
daß die Festnahme nach vorangegangener wohlüberlegter Risikoanalyse
weder auf diesem Bahnsteig, noch in der Gaststätte oder im Zug, sondern im
Tunnel stattfinden sollte: "Die einzige Möglichkeit, einen Zugriff
ohne Publikum durchzuführen, war tatsächlich dort (im Tunnel, Anm. d.
V.) einmalig gegeben. Wir haben uns deshalb entschieden - in den Medien wird das
anders dargestellt -, den Zugriff in der hermetisch abgeriegelten Bahnunterführung
zu machen. Es handelt sich um eine übliche Bahnunterführung mit Beton
und Stahl, - so stark, daß die Bahn herüberfahren kann. Und links und
rechts sind jeweils die Treppen zu den Gleisen. Das ist meines Erachtens für
die Zugriffsvoraussetzungen eine optimale Situation. Optimum heißt hier:
Ich kann zum Zeitpunkt des Zugriffs feststellen, wen ich festnehmen will."1
Ein Unterabschnittsleiter des BKA, BKA Nr. 19, der an der Böschung an
Gleis 5 im Gebüsch saß, richtete nach seinen Angaben ab der
Funkmeldung "Ausgang" seine Aufmerksamkeit auf die Treppenaufgänge
und Bahnsteige. Er wartete darauf, wie er sagt, daß die Zielpersonen
irgendwo wieder auftauchen. Auf die Frage, ob sein Auftrag mit sich brachte, den
Bahnsteig zu beobachten, antwortet er: Mein Auftrag brachte es mit sich, daß
ich den Bahnsteig beobachten mußte. Von seiner Position aus hatte er
nur auf Bahnsteig 3/4 freie Sicht. Trotz gegenteiligen Eindrucks war BKA Nr. 19
über die Planung der Festnahme im Tunnel informiert.
Der im Stellwerk
mit Überblick über den Bahnhof Bad Kleinen postierte BKA-Beamte
veranlaßte rund zehn Minuten vor dem Zugriff eigenverantwortlich das
Freihalten von Geis 3 und 4. Dazu ließ er einen Leerzug aus dem Bahnhof
rangieren und einen fahrplanmäßig ankommenden Zug vor dem Bahnhofsgelände
stoppen. Nach den Gründen dieser Weisung befragt, gab er an, er wollte
einen möglichst übersichtlichen Einsatzraum schaffen. Auffällig
daran ist, daß ihn die Züge auf Gleis 1, 2 und 5 überhaupt nicht
interessierten und damit auch nicht die "Gefährdung von Fahrgästen"
- dies war nämlich die offizielle Begründung des BKA für das
Freihalten der Gleise 3 und 4. Eine Begründung, die einige Fragen aufwirft:
Nach den Ereignissen von Bad Kleinen wurde oft die Frage gestellt, warum
nicht mehr Polizeikräfte auf Bahnsteig 3/4 postiert waren, um Wolfgang
Grams' Flucht aus der Unterführung zu verhindern. Das BKA erklärte
dazu: "Weitere Kräfte (außer Nr. 4, d. V.) konnten an dieser
Beobachtungsstelle nicht postiert werden, da der Bahnsteig aus der Gaststätte
heraus einsehbar war."2 Rainer Hofmeyer,
Abteilungsleiter Terrorismus des BKA und Einsatzleiter in Bad Kleinen, versuchte
sich drei Tage nach dem Einsatz vor dem Innenausschuß des Bundestags mit
einer wortreichen Begründung, die aber nur beweist, daß er die Örtlichkeiten
des Bahnhof Bad Kleinen nicht kennt oder nicht kennen will. "Jeder, der da
drüben steht (Bahnsteig 3/4, d. V.), fällt auf. Man muß an die
hochgradige Sensibilität der beiden denken und auch an ihre
Reaktionsschnelligkeit. Jeder, der dort auffällt, wird gecheckt. Das ist
Prinzip. Die mit Haftbefehl Gesuchten laufen grundsätzlich nicht ahnungslos
durch die Gegend. Hier konnte der Beobachter der GSG 9 stehen, um das Geschehen
zu beobachten. Das heißt, er hat in die Gaststätte geblickt."3
Die Fenster des Billardrestaurants, in dem sich Birgit Hogefeld, Wolfgang
Grams und der V-Mann Steinmetz aufhielten, lassen aber keine Sicht auf Bahnsteig
3/4 zu. Sie zeigen ausnahmslos auf Bahnsteig 1/2. Nach den Aussagen der
eingesetzten Kräfte hat es jedoch gerade auf diesem Bahnsteig 1/2, den
Birgit Hogefeld und Wolfgang Grams gut einsehen konnten, von einzelnen Männern
in Zivil gewimmelt. Dort war der neunköpfige alternative Zugriffs-SET der
GSG 9 und mindestens eine Kraft des MEK postiert.
Der Grund für das
angebliche Freihalten von Bahnsteig 3/4 muß folglich ein anderer als die
Einsehbarkeit vom Restaurant aus gewesen sein. GSG 9 Nr. 8, der dort bis kurz
vor Auslösung des Zugriffs stand, äußert dazu in einer
Vernehmung gegenüber der Staatsanwaltschaft, dies seien taktische Maßnahmen
gewesen, zu denen er keine Aussagen machen dürfe. Die Staatsanwaltschaft
akzeptiert das.
Es gibt einige Hinweise darauf, daß noch mehr als die offiziell bestätigten Beamten auf oder in der Nähe von Bahnsteig 3/4 postiert waren. Der Augenzeuge des Spiegel berichtete, daß während der Schießerei drei Beamte, darunter ein BKA-Beamter "von Bahngleisen gegenüber" Wolfgang Grams entgegentraten. Das BKA hat zum Standort von 14 BKA-Beamten keine genauen Angaben gemacht, mit der Begründung, sie seien zwar zwischen 15 Uhr und 16 Uhr vor Ort gewesen, aber nicht zum Zeitpunkt des Zugriffs um 15 Uhr 15. Überprüft wurde das von der StA Schwerin nicht, diese Beamten sind nicht vernommen worden. Auch für den Zugriffszeitpunkt spricht das BKA erst von 21, später von 20 eingesetzen Beamten. Soll damit der eine Beamte wegretuschiert werden, den der Spiegel-Zeuge erwähnte?
In den Angaben der GSG 9 gibt es ebenfalls Lücken. Von 15 eingesetzten GSG
9-Beamte ist aus keinem Bericht ersichtlich, wo sie sich aufhielten und was ihre
Aufgabe war. Sie wurden auch durch die StA Schwerin nicht vernommen.
Die
GSG 9-Beamten des alternativen Zugriffs-SETs von Bahnsteig 1/2 sind alle nur
einmal vernommen worden, weil ja angeblich schon klar war, daß sie nicht
am Tatort auf Gleis 3/4 waren. Insgesamt sind die Aussagen dieses SETs unglaubwürdig.
Sie sind bei Auslösung des Zugriffs ebenfalls losgestürmt und hatten
einen nur wenige Meter längeren Weg zum Bahnsteig 3/4 zurückzulegen
als das Zugriffs-SET. Ihren Aussagen zufolge müßten manche auf dem
Podest der Treppe zu Bahnsteig 3/4 aus vollem Sprint scharf abgebremst und kehrt
gemacht haben, weil in diesem Moment die Schießerei aufhörte. Tolles
Reaktionsvermögen - außerdem hat diese Treppe kein Podest. Die GSG
9-Beamten vom Bahnsteig 1/2 können also zumindest als Zeugen des Mordes,
aber auch als Mörder nicht ausgeschlossen werden.
Zwei Reisende von
Bahnsteig 3/4 sahen in einem auf Gleis 5 abgestellten Zug kurz vor dem Zugriff
jeweils eine männliche Person unterschiedlichen Alters am Fenster stehen.
Dieser Zug war erst in Bad Kleinen eingesetzt und noch nicht für die Fahrgäste
freigegeben worden. Mit einer Bandabsperrung am Übergang zu Bahnsteig 5
wurden die Reisenden daran gehindert, zu diesem Zug zu gelangen. Von diesem Zug
aus konnte man direkt auf das benachbarte Gleis 4 und den Bahnsteig 3/4 blicken.
Wer diese Männer waren und warum sie in dem für Fahrgäste
gesperrten Zug saßen, wurde nie ermittelt. Einem Zeitungsbericht zufolge
befand sich in diesem Zug eine Observationsgruppe des BKA.4
Ein
Zeuge hat beobachtet, wie zwei Beamte direkt nach dem Schußwechsel aus dem
Gebüsch hinter Gleis 5 heraustraten. Einer dieser Beamten habe den Wolfgang
Grams Sichernden abgelöst. Zwei Zeugen haben kurz nach Ende der Schießerei
gesehen, wie mehrere Uniformierte mit Gesichtsmasken und Maschinenpistolen
hinter dem auf Gleis 5 stehenden Zug hervortraten.
Eine denkbare Erklärung
wäre, daß einige der fehlenden GSG 9-Beamten mit Maschinenpistolen
hinter dem Zug auf Gleis 5 in Deckung lagen - wo sie, durch Gebäude und den
wartenden Zug gedeckt, nicht gesehen werden konnten - um den flüchtenden
Wolfgang Grams "abzufangen".
Auch daß Wolfgang Grams möglicherweise
einmal von hinten getroffen worden ist, widerspricht der offiziellen Version von
der Postierung der "Zugriffskräfte".
5
Eine wichtige Frage ist, ob GSG 9 Nr. 4 seinen Posten auf Bahnsteig 3/4 tatsächlich
wie behauptet verlassen hat. Weder seine Begründung noch die Beschreibung
seiner weiteren Tätigkeit sind schlüssig.
Merkwürdigerweise
besetzt GSG 9 Nr. 4 den Bahnsteig erst zehn bis fünfzehn Minuten vor dem
Zugriff. Dem bis dahin dort stationierten GSG 9 Nr. 8 soll kurz vor Beginn
seines Einsatzes das Funkgerät ausgefallen sein.
Nach Aussage von
BKA-Chef Zachert wußte man, daß Birgit Hogefeld, Wolfgang Grams und
der V-Mann "einen ganz bestimmten Zug nehmen. Insofern mußte einfach
der Weg zum Bahnsteig 3/4 genommen werden. Denn das war ja die Aufbruchsphase;
man wollte diesen einfahrenden Zug um 15.19 Uhr benutzen. Damit war nur dieser
Weg möglich."6
GSG Nr. 4 ging also
kurz vor dem angenommenen Aufbruch der Zielpersonen in Richtung Bahnsteig 3/4,
genau an diesen zentralen Ort - um ihn kurz darauf wieder zu verlassen !?
Laut Zwischenbericht der Bundesregierung hat GSG 9 Nr. 4 von seinem Standort
auf Bahnsteig 3/4 über Funk durchgegeben, daß Birgit Hogefeld,
Wolfgang Grams und der V-Mann Steinmetz das Restaurant verlassen hätten und
im Begriff seien, in die Unterführung hinunter zu gehen. Daß er dann
seinen Standort verläßt, wird im Zwischenbericht folgendermaßen
erklärt:
"Der Beamte Nr. 4 auf dem Bahnsteig 3/4 verließ
seinen bisherigen Standort, als er über Funk die Durchsage Zugriff erfolgt
gehört hatte. Aus dem Funkmitschnitt des Sprechfunkverkehrs der Zugriffskräfte
ergibt sich hierzu folgendes: Der Unterabschnittsleiter Zugriff hatte
durchgegeben: Wenn Zugriff erfolgt, kontrolliert den Kadett. 7
Diese Durchsage wurde über Funk nur bruchstückhaft übertragen, so
daß nur die Worte Zugriff erfolgt fälschlicherweise durch einen
Beamten wiederholt wurden. (...) Der Beamte Nr. 4 hörte nur diese
Wiederholung. (...) Der Beamte Nr. 4 begab sich zur Treppe in die Unterführung.
Als er die Treppe hinabging, erkannte er an deren unterem Ende die Zielperson 2
als den vermutlichen GRAMS, (...) Er schloß daraus, daß der Zugriff
doch noch nicht erfolgt war und ging deshalb an GRAMS vorbei nach links in den
Tunnel.(...) Als er etwa auf Höhe der Hogefeld war, hörte er die
Anweisung des Beamten Nr. 6 Jetzt (...) Der Zugriff war ausgelöst
worden.(...) Der Beamte Nr. 4 überwältigte HOGEFELD sofort."
8
Diese Erklärung entspricht nicht den
Tatsachen:
Drei Sekunden vor dem Vollzug der Zugriffsaktion hört GSG 9 Nr. 4 angeblich das wiederholte Funk-Bruchstück Zugriff erfolgt und nimmt fälschlicherweise an, seinen Posten verlassen zu können, um die Festnahme zu unterstützen.
In diesen drei Sekunden müßte GSG Nr. 4 zuerst fünfzehn Meter auf dem Bahnsteig bis zur Treppe, dann 20 Stufen abwärts und nun nochmal fünf Meter bis zu Birgit Hogefeld gelaufen sein, um diese zu überwältigen. Das alles ohne, daß er Wolfgang Grams aufgefallen wäre, denn dieser stand ja am Ende der Treppe. An ihm soll Nr. 4, ganz unbeteiligt erscheinend, vorbeigegangen sein. Auf 100 Meter umgerechnet wäre er auf dem Bahnhof Bad Kleinen einen neuen Weltrekord gelaufen.
Nach Verlassen von Bahnsteig 3/4 will GSG 9 Nr. 4 Birgit Hogefeld festgenommen
haben. Aber auch davon gibt es sehr unterschiedliche Darstellungen.
"Als
HOGEFELD, GRAMS und der V-Mann die Gaststätte in Richtung Unterführung,
in der die Festnahme erfolgen sollte, verließen, wurde dies von dem auf
dem Bahnsteig 3/4 eingesetzten Beamten über Funk den übrigen
Zugriffskräften gemeldet. (...) In diesem Moment begab sich der auf
Bahnsteig 3/4 postierte Beamte - möglicherweise infolge eines mißverstandenen
Funkspruchs - die Treppe hinunter in die Unterführung. Am Fuß der
Treppe begegnete er für ihn unerwartet GRAMS, der auf dem Podest stand. Er
ging an Grams und dem V-Mann vorbei links in die Unterführung. Als er auf
der Höhe der HOGEFELD angekommen war, löste ein anderer Beamter, der
an der zum Bahnhofsvorplatz führenden Treppe im Tunnel als Beobachter
postiert war, den Zugriff aus. Der ersterwähnte Beamte zog seine
Dienstwaffe und nahm die direkt neben ihm stehende HOGEFELD fest."11 Soweit die offizielle Version.
Am konkretesten,
sollte man meinen, könnte GSG 9 Nr. 6 sagen, wie denn nun die eigentliche
Auslösung für den Zugriff zustande gekommen ist. Nr. 6 ist derjenige
der oben Genannten, der als einziger im Tunnel gestanden sein soll und auf
dessen Handzeichen hin die Einsatzkräfte losgestürmt seien. Später
gilt er als einer der beiden Beschuldigten, Wolfgang Grams exekutiert zu haben.
Nr. 6 liefert jedoch verschiedene Versionen, von wo aus kommend Nr. 4 auf Birgit
Hogefeld zugelaufen ist. Aus seinen ersten Aufzeichnungen und Äußerungen
geht hervor, daß Nr. 4 nicht etwa die Treppen von Bahnsteig 3/4 herunter
kam, wo er nach allen Aussagen und öffentlichen Erklärungen als
Beobachter gestanden haben soll, sondern von rückwärts, entweder vom
Restaurant oder von Bahnsteig 1/2, um Birgit Hogefeld zu überwältigen.
Dies zumindest vermerkt Nr. 6 in seinem ersten Gedächtnisprotokoll. Dies
schildert Nr. 6 am Tattag auch seinem SET-Führer, der diese Angabe in
seinen Notizen registriert, ohne sich der Widersprüchlichkeit bewußt
zu werden, daß der Beobachter von Bahnsteig 3/4 sich nur von vorn auf
Birgit Hogefeld zubewegt haben kann. Sowohl GSG Nr. 6 als auch der SET-Führer
erachten es als möglich, daß der Birgit Hogefeld überwältigende
GSG 9-Beamte von hinten kam. Das heißt aber, daß es sich hier nicht
um die spätere Nr. 4 gehandelt haben kann, denn deren Funktion und Standort
kannten alle Einsatzkräfte. Der Widerspruch hätte Nr. 6 und dem SET-Führer
sofort auffallen müssen. In späteren Aussagen erklären sie dann,
Nr.4 sei von Bahnsteig 3/4 gekommen.
Man kann davon ausgehen, daß in
den ersten handschriftlichen Aufzeichnungen der GSG 9-Beamten noch vom Tattag
selbst eine Abstimmung auf eine gemeinsame Version noch nicht stattgefunden
haben kann. Darüberhinaus standen u.a. die später willkürlich
festgelegten Nummern der am Einsatz beteiligten GSG 9-Männer noch nicht
fest. Da die GSG 9-Beamten in dieser Situation noch ihre Namen oder
Anfangsbuchstaben notiert haben und diese erst im Nachhinein geschwärzt und
nur teilweise durch Nummen ersetzt wurden, könnte durchaus in der ursprünglichen
Fassung gar nicht die Nr. 4 auf Birgit Hogefeld losgegangen sein, sondern ein
ganz anderer, z.B. auf Bahnsteig 1/2 postierter Beamter, dessen Name hinterher
geschwärzt wurde. Nachdem dann die gültige Version festgelegt,
abgesprochen und miteinander abgestimmt war, setzte man für diese Schwärzung
"Nr. 4" ein und zog somit den auf Bahnsteig 3/4 verbleibenden GSG Nr.
4 aus dem Schußfeld, übertrug ihm nicht nur die Beobachterfunktion
auf dem Bahnsteig, sondern auch gleichzeitig die Überwältigung von
Birgit Hogefeld und hatte so einen Zeugen oder Täter weniger.
GSG 9
Nr. 4 gibt an, Birgit Hogefeld im Alleingang überwältigt und noch längere
Zeit im Tunnel allein gesichert zu haben. Vorschrift war jedoch nach Aussage des
Unterabschnittsleiters für den Zugriff, die Zielpersonen mittels Körperkraft
zu überwältigen; mit Unterstützung mindestens eines weiteren
Beamten, der mit gezogener Waffe die Festnahme sichern sollte. Bei der großen
Zahl an eingesetzten Kräften und der öffentlich beschworenen Gefährlichkeit
der Zielpersonen scheint es unglaubwürdig, daß GSG 9 Nr. 4 nicht von
einem der über fünfzig Kollegen unterstützt wurde.
Ein
Festnahmebericht - sonst üblicher Polizeistandard - wurde trotz
Aufforderung durch den Einsatzleiter entweder von GSG 9 Nr. 4 nicht geschrieben
oder vom BKA nicht an die Ermittlungsbehörden weitergegeben.
Wer letztendlich Birgit Hogefeld festgenommen hat, läßt sich nach
diesen Absprachen und Manipulationen wahrscheinlich nicht mehr klären, nur
eins scheint festzustehen: GSG 9 Nr. 4, der Beobachter von Bahnsteig 3/4, war es
nicht.
Das bestätigt auf eindrucksvolle Weise eine Zeugin, die sich
zur Zeit des Zugriffs selbst auf Bahnsteig 3/4 aufhielt und dort auf einen Zug
wartete. Diese Frau macht konkrete Angaben über einen jungen Mann, der
rechts von ihr mit einem Funkgerät in der Hand an einem Schuppen stand. Den
von ihm abgesetzten Funkspruch kann sie genau wiedergeben: Jetzt kommen sie zum
Treppenaufgang. Sie sieht jenen jungen Mann einige Sekunden später in gebückter
Haltung mit gezogener Pistole an sich vorbeilaufen in Richtung Treppe und dann
begann auch schon die Schießerei, also zu einem Zeitpunkt, als Nr. 4 schon
längst Birgit Hogefeld im Tunnel überwältigt haben soll.
Die
Angabe, daß der Beobachter auf dem Bahnsteig mit gezogener Waffe direkt an
ihr vorbei Richtung Treppenabgang gerannt ist, wird von einer weiteren Reisenden
bekräftigt. Die Schilderungen dieser Zeuginnen widersprechen also drastisch
den Aussagen von Nr. 4. Dieser gibt an, seine Pistole erst direkt vor Birgit
Hogefeld gezogen zu haben. Das muß er ja auch, denn es ist undenkbar, daß
er mit gezogener Pistole "unauffällig" und sein Erstaunen
geschickt verbergend an Wolfgang Grams hätte vorbeigehen können.
Ein
weiterer Zeuge, auf den die Staatsanwaltschaft Schwerin in ihrer
Einstellungsverfügung großen Wert legt, hat sich aufgrund der Monitor-Sendung
bei der Polizei gemeldet, weil er die Darstellung des aufgesetzten Kopfschusses
für falsch hält. Er sieht den auf Bahnsteig 3/4 beobachteten Funker später
noch einmal in der Gruppe der GSG 9-Beamten stehen, die sich um Newrzella
gruppiert hatten. Dagegen ist GSG 9 Nr. 4 nach seinen eigenen Angaben nach der
Festnahme von Birgit Hogefeld gar nicht mehr auf Bahnsteig 3/4 gewesen. Er sei
lediglich Richtung Bahnsteig gegangen, auf der Treppe aber stehengeblieben und
das zu einem Zeitpunkt, als Newrzella schon abtransportiert worden war.
Zudem
untermauern zwei weitere Zeugenaussagen aus den Reihen der GSG 9 selbst das
Verbleiben von Nr. 4 auf dem Bahnsteig. GSG 9 Nr. 6 nennt auf die Frage, wer
denn, als er auf dem Gleis Wolfgang Grams gesichert haben will, sich in seiner Nähe
aufgehalten habe, ohne Umschweife seine Kollegen GSG 9 Nr. 1 bis 5. Nach eigenem
Bekunden will aber Nr. 4 die ganze Zeit über im Tunnel gestanden und dort
allein Birgit Hogefeld bis zu deren Abtransport gesichert haben, kann sich also
folglich nicht in der Nähe der Gleise aufgehalten haben. Im übrigen
stellt sich die gleiche Frage auch für GSG Nr.1, der ebenfalls im Tunnel
den V-Mann Steinmetz "gesichert" haben soll.
Der
Gesamtverantwortliche für Observation, Technik, Ermittlungen, Fahndung und
auch für den Zugriff mit Befehlsstelle in Wismar läßt sich
unmittelbar nach seinem Eintreffen in Bad Kleinen von den anwesenden Polizeikräften
den Verlauf des Einsatzes schildern. Dieser Herr führt in einer Vernehmung
aus, wie ihm einer seiner Untergebenen die Schießerei auf Wolfgang Grams
anschaulich demonstriert habe: Er hätte auf den Treppenstufen aus der
Deckung heraus, ohne Sichtkontakt, mit der Waffe über dem Kopf geschossen.
Der Zeuge meint dazu, selbige Vorführung habe ihm Nr. 4, Nr. 19 oder der
mit der leichten Handverletzung gegeben. Es müsse auf jeden Fall einer
gewesen sein, der am Schußwechsel beteiligt war. Wegen seiner Unsicherheit
in Bezug auf die konkrete Person hält er telefonische Rücksprache mit
der GSG 9 und erfährt dort, daß es Nr. 19 nicht gewesen sein könne,
denn der habe nicht geschossen. Wie der verantwortliche Leiter selbst aussagt,
hat er sich dann nachts noch einmal über den Inhalt seiner Aussagen
Gedanken gemacht. Auf seinen eigenen Wunsch findet darauf am nächsten Tag
eine weitere richterliche Vernehmung statt. Hier bestätigt er dann erneut,
daß die Darstellung der Schußabgabe aus der Deckung von Nr. 4
stammt. Aber da er die Position des Zeugen Nr. 4 kenne, sei er sich sicher, daß
dieser nicht geschossen haben könne. Weiterhin gibt er an, daß GSG 9
Nr. 4 nicht selbst so geschossen, sondern ihm nur gezeigt habe, in welcher
Haltung auf Wolfgang Grams geschossen wurde. Er sei sich jetzt auch nicht mehr
sicher, ob tatsächlich mit der Hand über dem Kopf geschossen wurde
oder ob diese Demonstration so gemeint war, daß man allgemein aus der
Deckung so schießen würde.
Anfang Juli, nur ein paar Tage nach der tödlichen Staatsoperation in Bad
Kleinen, wird dem GSG 9-Psychologen Salewski von der Focus-Redaktion
mitgeteilt, sie habe einen Informanten - einen ehemaligen Angehörigen der
GSG 9. Dieser habe von einem jetzigen GSG den Namen des Todesschützen von
Bad Kleinen erfahren. Es handle sich um GSG 9 Nr. 4, der bereits damals in
Beirut aufgefallen sei. Diese Mitteilung kommt der Staatsanwaltschaft Schwerin
Mitte Juli zu.
Man sollte nun annehmen, daß die Staatsanwaltschaft spätestens
nach diesem Hinweis - die Aussage der genannten Reisenden, wonach der Beobachter
auf Bahnsteig 3/4 gebückt, mit gezogener Pistole nur bis zur Treppe
gelangte, lag schon vor - schnellstens veranlaßt, daß Waffe und
Munition von Nr. 4 eingezogen werden. Denn das hatte das BKA bei der
Tatortarbeit unterlassen. Zwei Waffen mitsamt Munition der direkt am Zugriff
beteiligten GSG - Nr. 4 und Nr. 1 - sind nicht eingesammelt und untersucht
worden mit der Begründung, es sollten nur die Waffen sichergestellt werden,
mit denen auch geschossen wurde. Eine Überprüfung, aus welcher Waffe
geschossen wurde und aus welcher nicht, hat nie stattgefunden.
Zusätzlich
hat sich GSG 9 Nr. 8, einer der beiden des Mordes an Wolfgang Grams
Beschuldigten, nach eigenen Bekundungen vorübergehend für die
Durchsuchung eines Zuges ein Magazin von GSG 9 Nr. 4 ausgeliehen, anschließend
aber angeblich wieder zurückgegeben. Auch dieses Magazin von Nr. 4 mußte
nicht ausgehändigt werden. Die Entscheidung darüber, ob Beweisstücke
vorschriftsmäßig abgegeben werden oder nicht, bleibt somit mit
Unterstützung der Staatsanwaltschaft Schwerin weiterhin die Sache der möglichen
Täter selbst.
Bei der erst neun Tage nach dem Einsatz erfolgten
Asservierung der Kleidung der direkt beteiligten GSG 9-Beamten wurden diese
angewiesen, Bekleidung und Waffenholster abzugeben. Auch GSG Nr. 4 war davon
betroffen. Er allerdings gab sein Waffenholster nicht ab, weil er es während
des Einsatzes nicht benutzt, sondern angeblich mit der Waffe in einer
dunkelblauen Umhängetasche getragen habe. Diese Umhängetasche wiederum
zählte aus der Sicht von GSG 9 Nr. 4 nicht zur Bekleidung, weshalb er sie
auch nicht abgab. Diese Überlegungen erzählt Nr. 4 in einer seiner
Vernehmungen bei der Staatsanwaltschaft. Auch daraufhin mußte er weder das
Holster noch die Umhängetasche nachliefern.
Das einzige, was Nr. 4
letztlich für kriminaltechnische Untersuchungen zur Verfügung gestellt
hat, sind Schuhe, Jeans und ein Seidenblouson. In einer Vernehmung auf seine
Kleidung während des Einsatzes in Bad Kleinen angesprochen - gemeint war
sein äußeres Erscheinungsbild -, merkt Nr. 4 ungefragt an, daß
seine Kleidung keine Blutspuren aufweisen dürfte. In einer späteren
Untersuchung finden sich jedoch auf einem der Jackenärmel zwei Blutspuren,
die laut dem Münsteraner Rechtsmediziner Prof. Brinkmann nicht von Wolfgang
Grams stammen.
Nach seinen eigenen Angaben ist Nr. 4 nicht irgendein
Mitglied der GSG 9, sondern nimmt in seiner Einheit die Rolle des Einheitstruppführers
ein. Er unterstützt in Einsatzlagen den Führungstrupp, ist aber
befugt, selbständig Entscheidungen zu treffen. In Einzelfällen ist er
direkt dem Führungsstab unterstellt und wird von dort geführt. Bad
Kleinen war ein solcher Einzelfall. Als einziger der am Zugriff beteiligten GSG
9-Beamten erhielt er seinen Auftrag nicht vom SET-Führer, sondern direkt
vom Polizeiführer. War dessen Vorgabe an ihn, eine Spezialaufgabe auf
Bahnsteig 3/ 4 zu übernehmen?
Ein weiterer Hinweis darauf, daß
die offizielle Version außer dem Mord noch weitere wesentliche
Sachverhalte unterschlägt, ergibt sich aus den Todesumständen des GSG
9-Beamten Michael Newrzella.