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Wed Dec  4 17:37:57 1996
 

Flucht in die Falle?







Nach den Ereignissen in Bad Kleinen gab es in der Öffentlichkeit viele kritische Fragen dazu, warum bei einem derart langfristig und generalstabsmäßig geplanten Einsatz und der Präsenz von über fünfzig Spezialisten von GSG 9 und BKA am Einsatzort ein Fluchtweg für Wolfgang Grams offen geblieben war. Nach der offiziellen Version waren alle Zu- und Abgänge zur Bahnhofsunterführung versperrt, nur ausgerechnet der zu Bahnsteig 3/4 nicht, neben dem Wolfgang Grams in dem Moment stand, als der Zugriffs-SET mit Gebrüll und gezogenen Waffen auf ihn losstürmte. Lediglich ein Beamter, GSG 9 Nr. 4, soll auf Bahnsteig 3/4 postiert gewesen sein - und der habe ihn angeblich direkt vor Auslösung des Zugriffs verlassen.

Nicht irgendein Bahnsteig

Einige Aussagen belegen, daß dem Bahnsteig 3/4 schon in der Vorlaufzeit des Zugriffs besondere Bedeutung zukam, trotz aller offiziellen Äußerungen, daß die Festnahme nach vorangegangener wohlüberlegter Risikoanalyse weder auf diesem Bahnsteig, noch in der Gaststätte oder im Zug, sondern im Tunnel stattfinden sollte: "Die einzige Möglichkeit, einen Zugriff ohne Publikum durchzuführen, war tatsächlich dort (im Tunnel, Anm. d. V.) einmalig gegeben. Wir haben uns deshalb entschieden - in den Medien wird das anders dargestellt -, den Zugriff in der hermetisch abgeriegelten Bahnunterführung zu machen. Es handelt sich um eine übliche Bahnunterführung mit Beton und Stahl, - so stark, daß die Bahn herüberfahren kann. Und links und rechts sind jeweils die Treppen zu den Gleisen. Das ist meines Erachtens für die Zugriffsvoraussetzungen eine optimale Situation. Optimum heißt hier: Ich kann zum Zeitpunkt des Zugriffs feststellen, wen ich festnehmen will."1
Ein Unterabschnittsleiter des BKA, BKA Nr. 19, der an der Böschung an Gleis 5 im Gebüsch saß, richtete nach seinen Angaben ab der Funkmeldung "Ausgang" seine Aufmerksamkeit auf die Treppenaufgänge und Bahnsteige. Er wartete darauf, wie er sagt, daß die Zielpersonen irgendwo wieder auftauchen. Auf die Frage, ob sein Auftrag mit sich brachte, den Bahnsteig zu beobachten, antwortet er: Mein Auftrag brachte es mit sich, daß ich den Bahnsteig beobachten mußte. Von seiner Position aus hatte er nur auf Bahnsteig 3/4 freie Sicht. Trotz gegenteiligen Eindrucks war BKA Nr. 19 über die Planung der Festnahme im Tunnel informiert.
Der im Stellwerk mit Überblick über den Bahnhof Bad Kleinen postierte BKA-Beamte veranlaßte rund zehn Minuten vor dem Zugriff eigenverantwortlich das Freihalten von Geis 3 und 4. Dazu ließ er einen Leerzug aus dem Bahnhof rangieren und einen fahrplanmäßig ankommenden Zug vor dem Bahnhofsgelände stoppen. Nach den Gründen dieser Weisung befragt, gab er an, er wollte einen möglichst übersichtlichen Einsatzraum schaffen. Auffällig daran ist, daß ihn die Züge auf Gleis 1, 2 und 5 überhaupt nicht interessierten und damit auch nicht die "Gefährdung von Fahrgästen" - dies war nämlich die offizielle Begründung des BKA für das Freihalten der Gleise 3 und 4. Eine Begründung, die einige Fragen aufwirft:

  1. Welche Fahrgäste des genannten Leerzuges waren gefährdet?
  2. Alle Reisenden der Züge auf Gleis 1, 2 und 5 mußten durch den Tunnel gehen, in dem, nach der Risikoanalyse des BKA, der Gefährdungsgrad am höchsten war. Wieso waren diese Reisenden nicht gefährdet?
  3. Warum waren nur die Fahrgäste auf Bahnsteig 3/4 gefährdet?

Warum angeblich nicht mehr Beamte auf Bahnsteig 3/4 waren ...

Nach den Ereignissen von Bad Kleinen wurde oft die Frage gestellt, warum nicht mehr Polizeikräfte auf Bahnsteig 3/4 postiert waren, um Wolfgang Grams' Flucht aus der Unterführung zu verhindern. Das BKA erklärte dazu: "Weitere Kräfte (außer Nr. 4, d. V.) konnten an dieser Beobachtungsstelle nicht postiert werden, da der Bahnsteig aus der Gaststätte heraus einsehbar war."2 Rainer Hofmeyer, Abteilungsleiter Terrorismus des BKA und Einsatzleiter in Bad Kleinen, versuchte sich drei Tage nach dem Einsatz vor dem Innenausschuß des Bundestags mit einer wortreichen Begründung, die aber nur beweist, daß er die Örtlichkeiten des Bahnhof Bad Kleinen nicht kennt oder nicht kennen will. "Jeder, der da drüben steht (Bahnsteig 3/4, d. V.), fällt auf. Man muß an die hochgradige Sensibilität der beiden denken und auch an ihre Reaktionsschnelligkeit. Jeder, der dort auffällt, wird gecheckt. Das ist Prinzip. Die mit Haftbefehl Gesuchten laufen grundsätzlich nicht ahnungslos durch die Gegend. Hier konnte der Beobachter der GSG 9 stehen, um das Geschehen zu beobachten. Das heißt, er hat in die Gaststätte geblickt."3
Die Fenster des Billardrestaurants, in dem sich Birgit Hogefeld, Wolfgang Grams und der V-Mann Steinmetz aufhielten, lassen aber keine Sicht auf Bahnsteig 3/4 zu. Sie zeigen ausnahmslos auf Bahnsteig 1/2. Nach den Aussagen der eingesetzten Kräfte hat es jedoch gerade auf diesem Bahnsteig 1/2, den Birgit Hogefeld und Wolfgang Grams gut einsehen konnten, von einzelnen Männern in Zivil gewimmelt. Dort war der neunköpfige alternative Zugriffs-SET der GSG 9 und mindestens eine Kraft des MEK postiert.
Der Grund für das angebliche Freihalten von Bahnsteig 3/4 muß folglich ein anderer als die Einsehbarkeit vom Restaurant aus gewesen sein. GSG 9 Nr. 8, der dort bis kurz vor Auslösung des Zugriffs stand, äußert dazu in einer Vernehmung gegenüber der Staatsanwaltschaft, dies seien taktische Maßnahmen gewesen, zu denen er keine Aussagen machen dürfe. Die Staatsanwaltschaft akzeptiert das.

... und warum das nicht stimmen kann.

Es gibt einige Hinweise darauf, daß noch mehr als die offiziell bestätigten Beamten auf oder in der Nähe von Bahnsteig 3/4 postiert waren. Der Augenzeuge des Spiegel berichtete, daß während der Schießerei drei Beamte, darunter ein BKA-Beamter "von Bahngleisen gegenüber" Wolfgang Grams entgegentraten. Das BKA hat zum Standort von 14 BKA-Beamten keine genauen Angaben gemacht, mit der Begründung, sie seien zwar zwischen 15 Uhr und 16 Uhr vor Ort gewesen, aber nicht zum Zeitpunkt des Zugriffs um 15 Uhr 15. Überprüft wurde das von der StA Schwerin nicht, diese Beamten sind nicht vernommen worden. Auch für den Zugriffszeitpunkt spricht das BKA erst von 21, später von 20 eingesetzen Beamten. Soll damit der eine Beamte wegretuschiert werden, den der Spiegel-Zeuge erwähnte?

In den Angaben der GSG 9 gibt es ebenfalls Lücken. Von 15 eingesetzten GSG 9-Beamte ist aus keinem Bericht ersichtlich, wo sie sich aufhielten und was ihre Aufgabe war. Sie wurden auch durch die StA Schwerin nicht vernommen.
Die GSG 9-Beamten des alternativen Zugriffs-SETs von Bahnsteig 1/2 sind alle nur einmal vernommen worden, weil ja angeblich schon klar war, daß sie nicht am Tatort auf Gleis 3/4 waren. Insgesamt sind die Aussagen dieses SETs unglaubwürdig. Sie sind bei Auslösung des Zugriffs ebenfalls losgestürmt und hatten einen nur wenige Meter längeren Weg zum Bahnsteig 3/4 zurückzulegen als das Zugriffs-SET. Ihren Aussagen zufolge müßten manche auf dem Podest der Treppe zu Bahnsteig 3/4 aus vollem Sprint scharf abgebremst und kehrt gemacht haben, weil in diesem Moment die Schießerei aufhörte. Tolles Reaktionsvermögen - außerdem hat diese Treppe kein Podest. Die GSG 9-Beamten vom Bahnsteig 1/2 können also zumindest als Zeugen des Mordes, aber auch als Mörder nicht ausgeschlossen werden.
Zwei Reisende von Bahnsteig 3/4 sahen in einem auf Gleis 5 abgestellten Zug kurz vor dem Zugriff jeweils eine männliche Person unterschiedlichen Alters am Fenster stehen. Dieser Zug war erst in Bad Kleinen eingesetzt und noch nicht für die Fahrgäste freigegeben worden. Mit einer Bandabsperrung am Übergang zu Bahnsteig 5 wurden die Reisenden daran gehindert, zu diesem Zug zu gelangen. Von diesem Zug aus konnte man direkt auf das benachbarte Gleis 4 und den Bahnsteig 3/4 blicken. Wer diese Männer waren und warum sie in dem für Fahrgäste gesperrten Zug saßen, wurde nie ermittelt. Einem Zeitungsbericht zufolge befand sich in diesem Zug eine Observationsgruppe des BKA.4
Ein Zeuge hat beobachtet, wie zwei Beamte direkt nach dem Schußwechsel aus dem Gebüsch hinter Gleis 5 heraustraten. Einer dieser Beamten habe den Wolfgang Grams Sichernden abgelöst. Zwei Zeugen haben kurz nach Ende der Schießerei gesehen, wie mehrere Uniformierte mit Gesichtsmasken und Maschinenpistolen hinter dem auf Gleis 5 stehenden Zug hervortraten.
Eine denkbare Erklärung wäre, daß einige der fehlenden GSG 9-Beamten mit Maschinenpistolen hinter dem Zug auf Gleis 5 in Deckung lagen - wo sie, durch Gebäude und den wartenden Zug gedeckt, nicht gesehen werden konnten - um den flüchtenden Wolfgang Grams "abzufangen".
Auch daß Wolfgang Grams möglicherweise einmal von hinten getroffen worden ist, widerspricht der offiziellen Version von der Postierung der "Zugriffskräfte". 5

Wo war Nr. 4 ?

Eine wichtige Frage ist, ob GSG 9 Nr. 4 seinen Posten auf Bahnsteig 3/4 tatsächlich wie behauptet verlassen hat. Weder seine Begründung noch die Beschreibung seiner weiteren Tätigkeit sind schlüssig.
Merkwürdigerweise besetzt GSG 9 Nr. 4 den Bahnsteig erst zehn bis fünfzehn Minuten vor dem Zugriff. Dem bis dahin dort stationierten GSG 9 Nr. 8 soll kurz vor Beginn seines Einsatzes das Funkgerät ausgefallen sein.
Nach Aussage von BKA-Chef Zachert wußte man, daß Birgit Hogefeld, Wolfgang Grams und der V-Mann "einen ganz bestimmten Zug nehmen. Insofern mußte einfach der Weg zum Bahnsteig 3/4 genommen werden. Denn das war ja die Aufbruchsphase; man wollte diesen einfahrenden Zug um 15.19 Uhr benutzen. Damit war nur dieser Weg möglich."6
GSG Nr. 4 ging also kurz vor dem angenommenen Aufbruch der Zielpersonen in Richtung Bahnsteig 3/4, genau an diesen zentralen Ort - um ihn kurz darauf wieder zu verlassen !?

»Die Abwicklung des Funkverkehrs im Tunnel hat zu keinerlei Beanstandung geführt; denn da wurde gar kein Funkverkehr geführt.«

Laut Zwischenbericht der Bundesregierung hat GSG 9 Nr. 4 von seinem Standort auf Bahnsteig 3/4 über Funk durchgegeben, daß Birgit Hogefeld, Wolfgang Grams und der V-Mann Steinmetz das Restaurant verlassen hätten und im Begriff seien, in die Unterführung hinunter zu gehen. Daß er dann seinen Standort verläßt, wird im Zwischenbericht folgendermaßen erklärt:
"Der Beamte Nr. 4 auf dem Bahnsteig 3/4 verließ seinen bisherigen Standort, als er über Funk die Durchsage Zugriff erfolgt gehört hatte. Aus dem Funkmitschnitt des Sprechfunkverkehrs der Zugriffskräfte ergibt sich hierzu folgendes: Der Unterabschnittsleiter Zugriff hatte durchgegeben: Wenn Zugriff erfolgt, kontrolliert den Kadett. 7 Diese Durchsage wurde über Funk nur bruchstückhaft übertragen, so daß nur die Worte Zugriff erfolgt fälschlicherweise durch einen Beamten wiederholt wurden. (...) Der Beamte Nr. 4 hörte nur diese Wiederholung. (...) Der Beamte Nr. 4 begab sich zur Treppe in die Unterführung. Als er die Treppe hinabging, erkannte er an deren unterem Ende die Zielperson 2 als den vermutlichen GRAMS, (...) Er schloß daraus, daß der Zugriff doch noch nicht erfolgt war und ging deshalb an GRAMS vorbei nach links in den Tunnel.(...) Als er etwa auf Höhe der Hogefeld war, hörte er die Anweisung des Beamten Nr. 6 Jetzt (...) Der Zugriff war ausgelöst worden.(...) Der Beamte Nr. 4 überwältigte HOGEFELD sofort." 8
Diese Erklärung entspricht nicht den Tatsachen:

  1. In einer solch hochbrisanten Einsatzphase - Sekunden vor dem Zugriff - verbietet es sich den Einsatzanweisungen entsprechend, Dinge über Funk abzuklären, die nichts mit dem direkten Zugriff zu tun haben und möglicherweise tödliche Folgen haben können.
  2. Gründe für die nur bruchstückhafte Übertragung des Funkspruchs werden nicht benannt, die "Panne" wird lediglich festgestellt. Ein Funkschatten als Ursache hierfür, wie in der Öffentlichkeit diskutiert, wird von offizieller Seite ein dreiviertel Jahr lang vehement ausgeschlossen, bis er im Abschlußbericht der Bundesregierung nebst einem möglichen Bedienungsfehler doch wieder als eventuelle Ursache für die Verstümmelung in Betracht gezogen wird.
    Dazu Hitz, Inspekteur des BGS: "Es wurde gefragt, ob nicht bekannt sei, daß sich in einem Tunnel Funkschatten bilden können. Natürlich ist daran gedacht worden. Im Vorfeld sind viele denkbare Einsatzmöglichkeiten aufgeklärt worden. Insbesondere wurden auf unterschiedlichen Bahnhöfen die Umstände geprüft, z.B. die Bahnhöfe in Blankenberg, Schwerin, Hagenow, Ludwigslust, Wismar und Bad Kleinen. Natürlich ist daran gedacht worden. Deswegen ist ja gerade auch ein Hubschrauber eingesetzt worden, über dessen Relais der gesamte Funkverkehr abgewickelt wurde. Die Abwicklung des Funkverkehrs im Tunnel hat zu keinerlei Beanstandung geführt; denn da wurde gar kein Funkverkehr geführt. Der Funkspruch, der von dem Einheitsführer der GSG 9 im Bereich des Vorplatzes des Bahnhofes Bad Kleinen als Weisung abgegeben wurde - nämlich: 'Wenn Zugriff erfolgt, weißen Kadett kontrollieren' -, ist von einem anderen Beamten bruchstückhaft wiederholt worden.(...) Das vielleicht zur Frage des Funkschattens." 9
  3. Die Darstellung der Verstümmelung wirkt konstruiert. Wieso sollte der Anfang eines Funkspruches und auch das Ende verloren gehen, so daß ausgerechnet zwei Worte in der Satzmitte "Zugriff erfolgt" übrigbleiben? Und das alles trotz eines eigens eingesetzten Relais-Hubschraubers?
  4. In den ersten offiziellen Verlautbarungen des Bundeskriminalamtes 10 ist keine Rede von einem wie auch immer gearteten Funkspruch. Erst Anfang August, also mehr als einen Monat nach dem Einsatz, wird im Spiegel diese Funkpanne als "Auslöser für die Pannen in Bad Kleinen" unter Bezugnahme auf den ersten inoffiziellen Zwischenbericht des Bundesinnenministeriums eingeführt.
  5. Bemerkenswert ist die zeitliche und inhaltliche Übereinstimmung zwischen den offiziellen Erklärungen und den Aussagen von GSG 9 Nr. 4. In den ersten drei von sechs Vernehmungen/Aufzeichnungen des GSG 9 Nr. 4 taucht weder dieser noch sonst ein Funkspruch auf. Er verläßt nach seinen eigenen Angaben den Bahnsteig, nachdem er die Zielpersonen nicht mehr sehen konnte, weil sie die Treppe zur Unterführung erreicht hatten. Erst in seiner vierten Vernehmung - in der letzten Juli-Woche - erwähnt er zum ersten Mal den besagten Funkspruch. Nr. 4 gibt an, nach ca. 30 Sekunden die Worte Zugriff, Zugriff gehört zu haben. Wenn man die Verstümmelung des Funkspruches Wenn Zugriff erfolgt, kontrolliert den Kadett voraussetzt, ergibt die Wortwiederholung, die Nr. 4 gehört haben will, jedoch keinen Sinn. In seiner fünften Vernehmung will Nr. 4 dann nur das Wort Zugriff gehört haben. Die Frage, die sich nun aufdrängt, ob das ein Befehl zum Zugriff war oder dieser bereits stattgefunden hatte, - im ersten Fall hätte Nr. 4 keine Veranlassung gehabt, den Bahnsteig zu verlassen - wird erst in seiner sechsten Vernehmung geklärt: GSG 9 Nr. 4 behauptet nun, das Funk-Bruchstück Zugriff erfolgt gehört zu haben.
  6. Entgegen den oben genannten Erklärungen wurde laut Funkmitschnitt dieser Sekunden in Bad Kleinen folgender Funkspruch abgegeben: Funk funktioniert - - - Zugriff erfolgt, kontrolliert den Kadett! - - - Zugriff erfolgt - - - Kadett kontrollieren! Kadett kontrollieren! Ob der Funkspruch nun verstümmelt angekommen ist oder nicht, spielt also tatsächlich keine Rolle. Wichtig sind die beiden letztgenannten Funksprüche: Zugriff erfolgt und Kadett kontrollieren! Kadett kontrollieren! Zwischen beiden liegt eine Zeitspanne von nur drei Sekunden. Wenn man davon ausgeht, daß die Aufforderung Kadett kontrollieren! Kadett kontrollieren! auch so gemeint ist, wie sie ausgesprochen wurde, dann heißt das, der Zugriff muß mit Abgabe dieser Funkmeldung tatsächlich erfolgt gewesen sein, denn nur dann sollte das Auto überprüft werden.

Nr. 4 läuft Weltrekord

Drei Sekunden vor dem Vollzug der Zugriffsaktion hört GSG 9 Nr. 4 angeblich das wiederholte Funk-Bruchstück Zugriff erfolgt und nimmt fälschlicherweise an, seinen Posten verlassen zu können, um die Festnahme zu unterstützen.

In diesen drei Sekunden müßte GSG Nr. 4 zuerst fünfzehn Meter auf dem Bahnsteig bis zur Treppe, dann 20 Stufen abwärts und nun nochmal fünf Meter bis zu Birgit Hogefeld gelaufen sein, um diese zu überwältigen. Das alles ohne, daß er Wolfgang Grams aufgefallen wäre, denn dieser stand ja am Ende der Treppe. An ihm soll Nr. 4, ganz unbeteiligt erscheinend, vorbeigegangen sein. Auf 100 Meter umgerechnet wäre er auf dem Bahnhof Bad Kleinen einen neuen Weltrekord gelaufen.

Die Festnahme von Birgit Hogefeld

Nach Verlassen von Bahnsteig 3/4 will GSG 9 Nr. 4 Birgit Hogefeld festgenommen haben. Aber auch davon gibt es sehr unterschiedliche Darstellungen.
"Als HOGEFELD, GRAMS und der V-Mann die Gaststätte in Richtung Unterführung, in der die Festnahme erfolgen sollte, verließen, wurde dies von dem auf dem Bahnsteig 3/4 eingesetzten Beamten über Funk den übrigen Zugriffskräften gemeldet. (...) In diesem Moment begab sich der auf Bahnsteig 3/4 postierte Beamte - möglicherweise infolge eines mißverstandenen Funkspruchs - die Treppe hinunter in die Unterführung. Am Fuß der Treppe begegnete er für ihn unerwartet GRAMS, der auf dem Podest stand. Er ging an Grams und dem V-Mann vorbei links in die Unterführung. Als er auf der Höhe der HOGEFELD angekommen war, löste ein anderer Beamter, der an der zum Bahnhofsvorplatz führenden Treppe im Tunnel als Beobachter postiert war, den Zugriff aus. Der ersterwähnte Beamte zog seine Dienstwaffe und nahm die direkt neben ihm stehende HOGEFELD fest."11 Soweit die offizielle Version.
Am konkretesten, sollte man meinen, könnte GSG 9 Nr. 6 sagen, wie denn nun die eigentliche Auslösung für den Zugriff zustande gekommen ist. Nr. 6 ist derjenige der oben Genannten, der als einziger im Tunnel gestanden sein soll und auf dessen Handzeichen hin die Einsatzkräfte losgestürmt seien. Später gilt er als einer der beiden Beschuldigten, Wolfgang Grams exekutiert zu haben. Nr. 6 liefert jedoch verschiedene Versionen, von wo aus kommend Nr. 4 auf Birgit Hogefeld zugelaufen ist. Aus seinen ersten Aufzeichnungen und Äußerungen geht hervor, daß Nr. 4 nicht etwa die Treppen von Bahnsteig 3/4 herunter kam, wo er nach allen Aussagen und öffentlichen Erklärungen als Beobachter gestanden haben soll, sondern von rückwärts, entweder vom Restaurant oder von Bahnsteig 1/2, um Birgit Hogefeld zu überwältigen. Dies zumindest vermerkt Nr. 6 in seinem ersten Gedächtnisprotokoll. Dies schildert Nr. 6 am Tattag auch seinem SET-Führer, der diese Angabe in seinen Notizen registriert, ohne sich der Widersprüchlichkeit bewußt zu werden, daß der Beobachter von Bahnsteig 3/4 sich nur von vorn auf Birgit Hogefeld zubewegt haben kann. Sowohl GSG Nr. 6 als auch der SET-Führer erachten es als möglich, daß der Birgit Hogefeld überwältigende GSG 9-Beamte von hinten kam. Das heißt aber, daß es sich hier nicht um die spätere Nr. 4 gehandelt haben kann, denn deren Funktion und Standort kannten alle Einsatzkräfte. Der Widerspruch hätte Nr. 6 und dem SET-Führer sofort auffallen müssen. In späteren Aussagen erklären sie dann, Nr.4 sei von Bahnsteig 3/4 gekommen.
Man kann davon ausgehen, daß in den ersten handschriftlichen Aufzeichnungen der GSG 9-Beamten noch vom Tattag selbst eine Abstimmung auf eine gemeinsame Version noch nicht stattgefunden haben kann. Darüberhinaus standen u.a. die später willkürlich festgelegten Nummern der am Einsatz beteiligten GSG 9-Männer noch nicht fest. Da die GSG 9-Beamten in dieser Situation noch ihre Namen oder Anfangsbuchstaben notiert haben und diese erst im Nachhinein geschwärzt und nur teilweise durch Nummen ersetzt wurden, könnte durchaus in der ursprünglichen Fassung gar nicht die Nr. 4 auf Birgit Hogefeld losgegangen sein, sondern ein ganz anderer, z.B. auf Bahnsteig 1/2 postierter Beamter, dessen Name hinterher geschwärzt wurde. Nachdem dann die gültige Version festgelegt, abgesprochen und miteinander abgestimmt war, setzte man für diese Schwärzung "Nr. 4" ein und zog somit den auf Bahnsteig 3/4 verbleibenden GSG Nr. 4 aus dem Schußfeld, übertrug ihm nicht nur die Beobachterfunktion auf dem Bahnsteig, sondern auch gleichzeitig die Überwältigung von Birgit Hogefeld und hatte so einen Zeugen oder Täter weniger.
GSG 9 Nr. 4 gibt an, Birgit Hogefeld im Alleingang überwältigt und noch längere Zeit im Tunnel allein gesichert zu haben. Vorschrift war jedoch nach Aussage des Unterabschnittsleiters für den Zugriff, die Zielpersonen mittels Körperkraft zu überwältigen; mit Unterstützung mindestens eines weiteren Beamten, der mit gezogener Waffe die Festnahme sichern sollte. Bei der großen Zahl an eingesetzten Kräften und der öffentlich beschworenen Gefährlichkeit der Zielpersonen scheint es unglaubwürdig, daß GSG 9 Nr. 4 nicht von einem der über fünfzig Kollegen unterstützt wurde.
Ein Festnahmebericht - sonst üblicher Polizeistandard - wurde trotz Aufforderung durch den Einsatzleiter entweder von GSG 9 Nr. 4 nicht geschrieben oder vom BKA nicht an die Ermittlungsbehörden weitergegeben.

Nr. 4 blieb oben

Wer letztendlich Birgit Hogefeld festgenommen hat, läßt sich nach diesen Absprachen und Manipulationen wahrscheinlich nicht mehr klären, nur eins scheint festzustehen: GSG 9 Nr. 4, der Beobachter von Bahnsteig 3/4, war es nicht.
Das bestätigt auf eindrucksvolle Weise eine Zeugin, die sich zur Zeit des Zugriffs selbst auf Bahnsteig 3/4 aufhielt und dort auf einen Zug wartete. Diese Frau macht konkrete Angaben über einen jungen Mann, der rechts von ihr mit einem Funkgerät in der Hand an einem Schuppen stand. Den von ihm abgesetzten Funkspruch kann sie genau wiedergeben: Jetzt kommen sie zum Treppenaufgang. Sie sieht jenen jungen Mann einige Sekunden später in gebückter Haltung mit gezogener Pistole an sich vorbeilaufen in Richtung Treppe und dann begann auch schon die Schießerei, also zu einem Zeitpunkt, als Nr. 4 schon längst Birgit Hogefeld im Tunnel überwältigt haben soll.
Die Angabe, daß der Beobachter auf dem Bahnsteig mit gezogener Waffe direkt an ihr vorbei Richtung Treppenabgang gerannt ist, wird von einer weiteren Reisenden bekräftigt. Die Schilderungen dieser Zeuginnen widersprechen also drastisch den Aussagen von Nr. 4. Dieser gibt an, seine Pistole erst direkt vor Birgit Hogefeld gezogen zu haben. Das muß er ja auch, denn es ist undenkbar, daß er mit gezogener Pistole "unauffällig" und sein Erstaunen geschickt verbergend an Wolfgang Grams hätte vorbeigehen können.
Ein weiterer Zeuge, auf den die Staatsanwaltschaft Schwerin in ihrer Einstellungsverfügung großen Wert legt, hat sich aufgrund der Monitor-Sendung bei der Polizei gemeldet, weil er die Darstellung des aufgesetzten Kopfschusses für falsch hält. Er sieht den auf Bahnsteig 3/4 beobachteten Funker später noch einmal in der Gruppe der GSG 9-Beamten stehen, die sich um Newrzella gruppiert hatten. Dagegen ist GSG 9 Nr. 4 nach seinen eigenen Angaben nach der Festnahme von Birgit Hogefeld gar nicht mehr auf Bahnsteig 3/4 gewesen. Er sei lediglich Richtung Bahnsteig gegangen, auf der Treppe aber stehengeblieben und das zu einem Zeitpunkt, als Newrzella schon abtransportiert worden war.

Zudem untermauern zwei weitere Zeugenaussagen aus den Reihen der GSG 9 selbst das Verbleiben von Nr. 4 auf dem Bahnsteig. GSG 9 Nr. 6 nennt auf die Frage, wer denn, als er auf dem Gleis Wolfgang Grams gesichert haben will, sich in seiner Nähe aufgehalten habe, ohne Umschweife seine Kollegen GSG 9 Nr. 1 bis 5. Nach eigenem Bekunden will aber Nr. 4 die ganze Zeit über im Tunnel gestanden und dort allein Birgit Hogefeld bis zu deren Abtransport gesichert haben, kann sich also folglich nicht in der Nähe der Gleise aufgehalten haben. Im übrigen stellt sich die gleiche Frage auch für GSG Nr.1, der ebenfalls im Tunnel den V-Mann Steinmetz "gesichert" haben soll.

Der Gesamtverantwortliche für Observation, Technik, Ermittlungen, Fahndung und auch für den Zugriff mit Befehlsstelle in Wismar läßt sich unmittelbar nach seinem Eintreffen in Bad Kleinen von den anwesenden Polizeikräften den Verlauf des Einsatzes schildern. Dieser Herr führt in einer Vernehmung aus, wie ihm einer seiner Untergebenen die Schießerei auf Wolfgang Grams anschaulich demonstriert habe: Er hätte auf den Treppenstufen aus der Deckung heraus, ohne Sichtkontakt, mit der Waffe über dem Kopf geschossen. Der Zeuge meint dazu, selbige Vorführung habe ihm Nr. 4, Nr. 19 oder der mit der leichten Handverletzung gegeben. Es müsse auf jeden Fall einer gewesen sein, der am Schußwechsel beteiligt war. Wegen seiner Unsicherheit in Bezug auf die konkrete Person hält er telefonische Rücksprache mit der GSG 9 und erfährt dort, daß es Nr. 19 nicht gewesen sein könne, denn der habe nicht geschossen. Wie der verantwortliche Leiter selbst aussagt, hat er sich dann nachts noch einmal über den Inhalt seiner Aussagen Gedanken gemacht. Auf seinen eigenen Wunsch findet darauf am nächsten Tag eine weitere richterliche Vernehmung statt. Hier bestätigt er dann erneut, daß die Darstellung der Schußabgabe aus der Deckung von Nr. 4 stammt. Aber da er die Position des Zeugen Nr. 4 kenne, sei er sich sicher, daß dieser nicht geschossen haben könne. Weiterhin gibt er an, daß GSG 9 Nr. 4 nicht selbst so geschossen, sondern ihm nur gezeigt habe, in welcher Haltung auf Wolfgang Grams geschossen wurde. Er sei sich jetzt auch nicht mehr sicher, ob tatsächlich mit der Hand über dem Kopf geschossen wurde oder ob diese Demonstration so gemeint war, daß man allgemein aus der Deckung so schießen würde.

»Der ist schon in Beirut aufgefallen«

Anfang Juli, nur ein paar Tage nach der tödlichen Staatsoperation in Bad Kleinen, wird dem GSG 9-Psychologen Salewski von der Focus-Redaktion mitgeteilt, sie habe einen Informanten - einen ehemaligen Angehörigen der GSG 9. Dieser habe von einem jetzigen GSG den Namen des Todesschützen von Bad Kleinen erfahren. Es handle sich um GSG 9 Nr. 4, der bereits damals in Beirut aufgefallen sei. Diese Mitteilung kommt der Staatsanwaltschaft Schwerin Mitte Juli zu.
Man sollte nun annehmen, daß die Staatsanwaltschaft spätestens nach diesem Hinweis - die Aussage der genannten Reisenden, wonach der Beobachter auf Bahnsteig 3/4 gebückt, mit gezogener Pistole nur bis zur Treppe gelangte, lag schon vor - schnellstens veranlaßt, daß Waffe und Munition von Nr. 4 eingezogen werden. Denn das hatte das BKA bei der Tatortarbeit unterlassen. Zwei Waffen mitsamt Munition der direkt am Zugriff beteiligten GSG - Nr. 4 und Nr. 1 - sind nicht eingesammelt und untersucht worden mit der Begründung, es sollten nur die Waffen sichergestellt werden, mit denen auch geschossen wurde. Eine Überprüfung, aus welcher Waffe geschossen wurde und aus welcher nicht, hat nie stattgefunden.

Zusätzlich hat sich GSG 9 Nr. 8, einer der beiden des Mordes an Wolfgang Grams Beschuldigten, nach eigenen Bekundungen vorübergehend für die Durchsuchung eines Zuges ein Magazin von GSG 9 Nr. 4 ausgeliehen, anschließend aber angeblich wieder zurückgegeben. Auch dieses Magazin von Nr. 4 mußte nicht ausgehändigt werden. Die Entscheidung darüber, ob Beweisstücke vorschriftsmäßig abgegeben werden oder nicht, bleibt somit mit Unterstützung der Staatsanwaltschaft Schwerin weiterhin die Sache der möglichen Täter selbst.
Bei der erst neun Tage nach dem Einsatz erfolgten Asservierung der Kleidung der direkt beteiligten GSG 9-Beamten wurden diese angewiesen, Bekleidung und Waffenholster abzugeben. Auch GSG Nr. 4 war davon betroffen. Er allerdings gab sein Waffenholster nicht ab, weil er es während des Einsatzes nicht benutzt, sondern angeblich mit der Waffe in einer dunkelblauen Umhängetasche getragen habe. Diese Umhängetasche wiederum zählte aus der Sicht von GSG 9 Nr. 4 nicht zur Bekleidung, weshalb er sie auch nicht abgab. Diese Überlegungen erzählt Nr. 4 in einer seiner Vernehmungen bei der Staatsanwaltschaft. Auch daraufhin mußte er weder das Holster noch die Umhängetasche nachliefern.
Das einzige, was Nr. 4 letztlich für kriminaltechnische Untersuchungen zur Verfügung gestellt hat, sind Schuhe, Jeans und ein Seidenblouson. In einer Vernehmung auf seine Kleidung während des Einsatzes in Bad Kleinen angesprochen - gemeint war sein äußeres Erscheinungsbild -, merkt Nr. 4 ungefragt an, daß seine Kleidung keine Blutspuren aufweisen dürfte. In einer späteren Untersuchung finden sich jedoch auf einem der Jackenärmel zwei Blutspuren, die laut dem Münsteraner Rechtsmediziner Prof. Brinkmann nicht von Wolfgang Grams stammen.
Nach seinen eigenen Angaben ist Nr. 4 nicht irgendein Mitglied der GSG 9, sondern nimmt in seiner Einheit die Rolle des Einheitstruppführers ein. Er unterstützt in Einsatzlagen den Führungstrupp, ist aber befugt, selbständig Entscheidungen zu treffen. In Einzelfällen ist er direkt dem Führungsstab unterstellt und wird von dort geführt. Bad Kleinen war ein solcher Einzelfall. Als einziger der am Zugriff beteiligten GSG 9-Beamten erhielt er seinen Auftrag nicht vom SET-Führer, sondern direkt vom Polizeiführer. War dessen Vorgabe an ihn, eine Spezialaufgabe auf Bahnsteig 3/ 4 zu übernehmen?

Ein weiterer Hinweis darauf, daß die offizielle Version außer dem Mord noch weitere wesentliche Sachverhalte unterschlägt, ergibt sich aus den Todesumständen des GSG 9-Beamten Michael Newrzella.




  1. Rainer Hofmeyer, Leiter der Terrorismusabteilung des BKA und Einsatzleiter von Bad Kleinen, in der 69. Sitzung des Innenausschusses des Deutschen Bundestages vom 30.6.1993
  2. Erklärung des Bundeskriminalamtes zum Polizeieinsatz in Bad Kleinen in: FR, 7.7.93
  3. Rainer Hofmeyer in der 69. Sitzung des Innenausschusses des deutschen Bundestages am 30.6.1993
  4. Focus, 26.7.93
  5. siehe dazu das Kapitel "Gutachten"
  6. Zachert, Präsident des Bundeskriminalamts, in der 72. Sitzung des Innenausschusses des Deutschen Bundestages am 12.7.1994
  7. Die Insassen des auf dem Bahnhofsvorplatz parkenden Opel Kadett waren der Polizei im Vorfeld des Zugriffs verdächtig erschienen. Man hielt es für möglich, daß sie auch RAF-Mitglieder seien. Sie wurden nach dem Zugriff kontrolliert.
  8. Veröffentlichter Zwischenbericht, S. 48
  9. in der 73. Sitzung des Innenausschusses des Deutschen Bundestages am 18.8.93
  10. siehe Erklärung des Bundeskriminalamtes zum Polizeieinsatz in Bad Kleinen, in: FR, 7.7.93
  11. Abschlußbericht der Bundesregierung, S. 5