Der Tod des in Bad Kleinen erschossenen GSG 9-Angehörigen
Polizeikommissar Michael Newrzella wurde von offizieller Seite sehr schnell und
umstandslos Wolfgang Grams angelastet. Trotzdem wurden schon wenige Tage nach
Bad Kleinen Vermutungen laut, er sei durch Querschläger aus Polizeiwaffen
getötet worden. Das gründete darauf, daß Newrzella sehr schwere
innere Zerreißungen erlitten hatte, wie sie auch Querschläger oder
die von der GSG 9 verwendete Action-Munition verursachen. Dazu kam, daß
Michael Newrzella auffallend schnell beerdigt wurde, womit auch eine
Nachobduktion praktisch ausgeschlossen wurde. 1 Der
Verdacht, daß auch hier etwas vertuscht werden soll, drängte sich
auf. Überdies war das Bemühen der staatlichen Stellen unübersehbar,
nicht auch noch für einen toten Polizisten geradestehen zu müssen.
Stattdessen wurde versucht, mit dem Hinweis auf seinen Tod die kritischen
Stimmen zu den Todesumständen von Wolfgang Grams zum Verstummen zu bringen.
Aller Verdacht wurde später mit dem Züricher Gutachten beiseite
gewischt, das die aus dem Körper Newrzellas herausoperierten Kugeln alle
der Waffe von Wolfgang Grams zuordnete. Widerspruchsfrei belegt ist das aber
nicht - wie auch einiges Anderes stutzig macht.
Newrzella wurde dreimal
getroffen. Eine Kugel streifte ihn horizontal und schräg von der Seite
kommend an der linken Gesäßpartie. Ob sie von vorne oder von hinten
kam, wurde nicht untersucht. Eine Kugel wurde in seinem linken Unterschenkel
gefunden, der Schußkanal beginnt auf der rechten Seite. Diese Verletzung
korrespondiert mit einem horizontalen Durchschuß im rechten Oberschenkel
in einer Höhe von 65 cm. Wahrscheinlich wurde Newrzella im Laufen
getroffen, die Kugel durchschoß erst den rechten Oberschenkel und blieb
dann im vom Laufen angehobenen linken Unterschenkel stecken. Die dritte und tödliche
Kugel traf ihn von vorne oben in die Brust. Die beiden Kugeln, die später
aus seinem Körper entnommen wurden, trafen ihn aus unterschiedlichen
Richtungen: von der Seite und von vorne - und in unterschiedlichen Höhen:
horizontal in 65 cm Höhe und von oben in 135 cm Höhe.
Der von
oben kommende Brustschuß wird in der offiziellen Version der Ereignisse
damit erklärt, daß Wolfgang Grams sich am Ende der Treppe umgedreht
und die Treppe hinunter auf den ihn verfolgenden Newrzella geschossen habe.
Newrzella sei sofort auf der Treppe zusammengebrochen. Diese Version war nicht
haltbar, da die Treppe keinerlei Blutspuren aufwies, auf dem Bahnsteig vor der
Treppe jedoch, wo Newrzella gelegen hatte, eine große Blutlache gefunden
wurde. Dieser Widerspruch brachte das BKA zeitweilig in Verlegenheit.2 Die offizielle Version wurde dann dahingehend
modifiziert, daß Newrzella, da er in vollem Lauf war, leicht vornübergebeugt
von der Kugel getroffen worden sei, als er Wolfgang Grams schon fast erreicht
gehabt habe. Dann hätten bei ihm allerdings die für einen Nahschuß
typischen Schmauchspuren zu finden sein müssen - aber es wurde nicht nach
ihnen gesucht.
Die beiden anderen Schußverletzungen an Beinen und Gesäß
kann diese Version ebenfalls nicht erklären. Wolfgang Grams hätte
absurde Verrenkungen ausführen müssen, um Newrzella einmal von vorne
oben, gleich darauf seitlich in Gesäßhöhe und dann von der Seite
etwas über Kniehöhe zu treffen. Es ist auch nicht vorstellbar, daß
Wolfgang Grams noch weiter auf den schon tödlich verletzt vor ihm Liegenden
geschossen hat. Er hätte nicht einmal die Zeit dazu gehabt. Es hat auch
weder ein GSG 9-Beamter noch ein ziviler Zeuge etwas derartiges ausgesagt. Es
gibt also keine vernünftige Erklärung dafür, daß alle Schußverletzungen
aus einer Waffe stammen sollen. Bezeichnenderweise wird zu dem Schuß in
die Beine, der mit beiden Versionen nicht in Einklang zu bringen ist, von
offizieller Seite nichts gesagt.
Darüberhinaus ist es aber in keinem
Fall richtig, daß Wolfgang Grams vom Ende der Treppe aus auf seine
Verfolger geschossen habe. Das ergibt sich sowohl aus der Lage seiner Patronenhülsen
als auch aus den Zeugenaussagen. Er hat erst vom Bahnsteig seitlich der Treppe
aus geschossen. Damit ist aber auch die zweite Version des BKA widerlegt, da sie
von einem Nahschuß ausgeht, Newrzella aber direkt vor der Treppe
zusammengebrochen ist.
Die Züricher Gutachter haben dann beide
aus dem Körper Newrzellas entnommenen Kugeln anhand individueller Spuren
der Waffe von Wolfgang Grams zugeordnet. Das schien trotz aller Widersprüche
im behaupteten Ablauf ein eindeutiger Beweis dafür zu sein, daß er
Newrzella erschossen hat. Allerdings ist nicht sicher, daß es sich bei den
in Zürich untersuchten Kugeln tatsächlich um die Kugeln handelt, die
im Körper Newrzellas gefunden wurden. Das Rostocker Obduktionsgutachten
beschreibt diese Kugeln nur grob. Ihm sind keine Fotos beigefügt. Ebenfalls
findet sich in den sonst sehr penibel geführten Unterlagen kein Hinweis auf
die Übergabe der Kugeln an das LKA Nordrhein-Westfalen, das sie dann an die
Züricher Gutachter weiterleitete. Im Zusammenhang mit den Widersprüchen
im offiziell "rekonstruierten" Tatablauf weckt das den Verdacht, daß
die Kugeln aus Newrzellas Körper gegen andere ausgetauscht worden sein könnten.
Damit gäbe es auch eine einfache und überzeugende Erklärung
dafür, warum auf der Treppe zu Bahnsteig 3/4 so ungewöhnlich viel
Geschoßsplitter aus Wolfgang Grams' Waffe gefunden wurden. Rechnet man die
zwei Kugeln dazu, die angeblich Newrzellas Körper entnommen wurden, dann
liegt die Zahl der Geschoßsplitter im Bereich des Möglichen. Die
Rekonstruktion der Geschoßteile zu drei Kugeln wurde vom WD Zürich
vorgenommen. Sie wurde nicht fotografisch dokumentiert und von keinem anderen
Gutachter überprüft. Ihr ist mit Mißtrauen zu begegnen.
Blick vom
Treppenaufgang zu Bahnsteig 3/4 auf das Bahnhofsgebäude. Im Obergeschoß
befindet sich eine Privatwohnung.
In der Folge stellt sich die
Frage, woher der Schuß kam, der Newrzella getötet hat. Da Newrzella
an erster Stelle lief, kann es sich nicht um einen Querschläger aus den
Waffen seines Zugriffs-SETs gehandelt haben. Das neben Bahnsteig 3/4 liegende
Bahnhofsgebäude bietet im 1. Obergeschoß Verstecke für Heckenschützen.
Die dort Wohnenden mußten von den Schweriner Ermittlern erst darüber
belehrt werden, daß es ihre Pflicht ist, als Zeugen auszusagen. In ihrer
Vernehmung gaben sie dann, ohne daß sie danach gefragt worden wären,
an, daß sie ihre Wohnung nicht zur Verfügung gestellt haben. 3
Denkbar wäre also, daß Newrzella in die
Falle ging, die Wolfgang Grams galt - daß er ihm "im Eifer des
Gefechts" zu nah auf den Fersen war und seinen Kollegen in die Schußbahn
lief. Das wäre auch eine Erklärung für den Aufwand, mit dem alle
Polizeibeamte - und also auch GSG 9 Nr. 4 - vom Bahnsteig 3/4 wegerklärt
wurde. Wenn man bedenkt, welche politische Katastrophe es für die Polizei
und ihre Dienstherren bedeuten würde, wenn sich herausgestellt hätte,
daß die einzige wirkliche "Panne" in Bad Kleinen, der Tod eines
Elite-Polizisten, auch auf ihre Kosten geht, versteht man, warum bei einer "sehr
professionell vorbereiteten Aktion" (BKA-Präsident Zachert) der
Vertuschungsapparat im Nachhinein derart ins Schleudern kam und sich bis auf die
Knochen blamierte und bloßstellte.