Noch am frühen Sonntag abend "informiert" die
Bundesanwaltschaft (BAW) die Presse mit einer Version der Ereignisse, die mit
dem tatsächlichen Ablauf nichts gemein hatte: die Festnahme sei auf dem
Bahnhofsvorplatz erfolgt, als Birgit Hogefeld und Wolfgang Grams die Gaststätte
Waldeck verlassen hätten. Birgit Hogefeld habe sofort das Feuer eröffnet.
Falscher
Ort - Bahnhofsvorplatz statt Unterführung; falsche Personen - Birgit
Hogefeld hatte überhaupt nicht geschossen; und wahrscheinlich auch grundsätzlich
falscher Ablauf - Zeugenaussagen sprechen dafür, daß die GSG 9 das
Feuer eröffnet hat. Daß Wolfgang Grams durch einen Kopfschuß
getötet wurde, findet sich nur in einer vorläufigen Fassung; in der
veröffentlichten Version: kein Wort dazu.
An
dieser Darstellung - im Stil von "Seit 5.45 Uhr wird zurückgeschossen"
- war nichts wahr. Der Generalbundesanwalt von Stahl versuchte sie später
mit "Aktualitätsgründen" zu rechtfertigten, was die Frage
aufkommen ließ, wie aktuell Falschmeldungen sein können. Zu seiner
Entlastung versuchte von Stahl den Eindruck zu erwecken, er sei vom BKA falsch
informiert worden. Das BKA schob seinerseits die Schuld auf den Polizeiführer
vor Ort, Rainer Hofmeyer, der die Falschinformationen nach Wiesbaden übermittelt
habe. Man kann davon ausgehen, daß kein Polizeiführer vor Ort
selbstständig eine so schwerwiegende Desinformation in Gang setzt. Folglich
müssen die Presseerklärungen in Wiesbaden entstanden sein, unter
Mitwirkung der dort vom 24. bis 28. Juni 1993 anwesenden Beamten der
Bundesanwaltschaft. 1
Am 28. Juni ging die
Desinformation weiter mit einer Pressekonferenz des Bundesministeriums des
Inneren, dessen Sprecher Bachmaier der versammelten Presse erklärte, Grams
und Hogefeld seien "besonders gefährlich und auf ihre Enttarnung
vorbereitet gewesen". Beide hätten sofort zur Waffe gegriffen.
Der
Repressionsapparat verschaffte sich mit dieser Lügenpropaganda Zeit, um
sich eine Version der Ereignisse zurechtzulegen und die dafür notwendigen
materiellen Voraussetzungen zu schaffen. Die spätere Blamage nahm er in
Kauf. Ergänzend verhängte die BAW am Tag nach der Schießerei
eine 48-stündige Nachrichtensperre, die es erlaubte, in dieser heiklen
Phase alle unangenehmen Fragen mit dem Hinweis auf laufende Fahndungsmaßnahmen
abzuweisen.
Ein weiterer Bestandteil der Verdunklungsstrategie der
ersten Tage war das Kompetenzen-Chaos, das die BAW arrangierte. Zuerst gingen
alle Beteiligten davon aus, daß sie die Ermittlungen zu Bad Kleinen führt.
Noch Montags hatte die BAW die Obduktion Wolfgang Grams' angeordnet und überwacht
- sprich: außer den Bundesbehörden hatte niemand Zutritt. Erst
Dienstag, den 29.6.93, stellte sich für die Schweriner Staatsanwaltschaft
heraus, daß ihr die Ermittlungen zum Tod von Wolfgang Grams übertragen
waren - und zwar schon seit 2 Tagen, während die BAW die Ermittlungen zum
Tod Newrzellas im Rahmen des Verfahrens gegen Birgit Hogefeld in ihren Händen
behielt. Die BAW behauptet, sie habe die Schweriner Staatsanwaltschaft schon am
Sonntag abend von ihrer Zuständigkeit im Fall Wolfgang Grams unterrichtet.
Sie muß sich bewußt unklar ausgedrückt haben, denn in Schwerin
ging man bis Dienstag früh davon aus, daß man nur im Bereich der
Amtshilfe tätig sei. 2
Auch die Eltern
Wolfgang Grams' erfuhren erst Dienstags, wo sich die Leiche ihres Sohnes
befindet. Bis dahin waren sie - die ihren Sohn noch einmal sehen wollten - von
der BAW erst hingehalten, dann abgewiesen worden.
In Schwerin war man über
die Teilung eines Vorgangs in zwei Verfahren "wenig glücklich. (...)
Zwei Verfahren künstlich zu trennen, die vom Tatablauf her ineinander übergingen,
sei mit Sicherheit nicht günstig, ist auf Seiten der Schweriner
Staatsanwaltschaft zu hören: Reibungsverluste liegen auf der Hand. Da
bleibt der Verdacht nicht aus, daß dies Kalkül sein könnte."3 Man muß es annehmen.