nadir start
 
initiativ periodika Archiv adressbuch kampagnen suche aktuell
Online seit:
Wed Dec  4 17:37:59 1996
 

Bundesanwaltschaft



Noch am frühen Sonntag abend "informiert" die Bundesanwaltschaft (BAW) die Presse mit einer Version der Ereignisse, die mit dem tatsächlichen Ablauf nichts gemein hatte: die Festnahme sei auf dem Bahnhofsvorplatz erfolgt, als Birgit Hogefeld und Wolfgang Grams die Gaststätte Waldeck verlassen hätten. Birgit Hogefeld habe sofort das Feuer eröffnet.
Falscher Ort - Bahnhofsvorplatz statt Unterführung; falsche Personen - Birgit Hogefeld hatte überhaupt nicht geschossen; und wahrscheinlich auch grundsätzlich falscher Ablauf - Zeugenaussagen sprechen dafür, daß die GSG 9 das Feuer eröffnet hat. Daß Wolfgang Grams durch einen Kopfschuß getötet wurde, findet sich nur in einer vorläufigen Fassung; in der veröffentlichten Version: kein Wort dazu.
Generalbundesanwalt von Stahl mit Hubschrauber und Limousine, lächelnd
An dieser Darstellung - im Stil von "Seit 5.45 Uhr wird zurückgeschossen" - war nichts wahr. Der Generalbundesanwalt von Stahl versuchte sie später mit "Aktualitätsgründen" zu rechtfertigten, was die Frage aufkommen ließ, wie aktuell Falschmeldungen sein können. Zu seiner Entlastung versuchte von Stahl den Eindruck zu erwecken, er sei vom BKA falsch informiert worden. Das BKA schob seinerseits die Schuld auf den Polizeiführer vor Ort, Rainer Hofmeyer, der die Falschinformationen nach Wiesbaden übermittelt habe. Man kann davon ausgehen, daß kein Polizeiführer vor Ort selbstständig eine so schwerwiegende Desinformation in Gang setzt. Folglich müssen die Presseerklärungen in Wiesbaden entstanden sein, unter Mitwirkung der dort vom 24. bis 28. Juni 1993 anwesenden Beamten der Bundesanwaltschaft. 1
Am 28. Juni ging die Desinformation weiter mit einer Pressekonferenz des Bundesministeriums des Inneren, dessen Sprecher Bachmaier der versammelten Presse erklärte, Grams und Hogefeld seien "besonders gefährlich und auf ihre Enttarnung vorbereitet gewesen". Beide hätten sofort zur Waffe gegriffen.

Der Repressionsapparat verschaffte sich mit dieser Lügenpropaganda Zeit, um sich eine Version der Ereignisse zurechtzulegen und die dafür notwendigen materiellen Voraussetzungen zu schaffen. Die spätere Blamage nahm er in Kauf. Ergänzend verhängte die BAW am Tag nach der Schießerei eine 48-stündige Nachrichtensperre, die es erlaubte, in dieser heiklen Phase alle unangenehmen Fragen mit dem Hinweis auf laufende Fahndungsmaßnahmen abzuweisen.

Ein weiterer Bestandteil der Verdunklungsstrategie der ersten Tage war das Kompetenzen-Chaos, das die BAW arrangierte. Zuerst gingen alle Beteiligten davon aus, daß sie die Ermittlungen zu Bad Kleinen führt. Noch Montags hatte die BAW die Obduktion Wolfgang Grams' angeordnet und überwacht - sprich: außer den Bundesbehörden hatte niemand Zutritt. Erst Dienstag, den 29.6.93, stellte sich für die Schweriner Staatsanwaltschaft heraus, daß ihr die Ermittlungen zum Tod von Wolfgang Grams übertragen waren - und zwar schon seit 2 Tagen, während die BAW die Ermittlungen zum Tod Newrzellas im Rahmen des Verfahrens gegen Birgit Hogefeld in ihren Händen behielt. Die BAW behauptet, sie habe die Schweriner Staatsanwaltschaft schon am Sonntag abend von ihrer Zuständigkeit im Fall Wolfgang Grams unterrichtet. Sie muß sich bewußt unklar ausgedrückt haben, denn in Schwerin ging man bis Dienstag früh davon aus, daß man nur im Bereich der Amtshilfe tätig sei. 2
Auch die Eltern Wolfgang Grams' erfuhren erst Dienstags, wo sich die Leiche ihres Sohnes befindet. Bis dahin waren sie - die ihren Sohn noch einmal sehen wollten - von der BAW erst hingehalten, dann abgewiesen worden.

In Schwerin war man über die Teilung eines Vorgangs in zwei Verfahren "wenig glücklich. (...) Zwei Verfahren künstlich zu trennen, die vom Tatablauf her ineinander übergingen, sei mit Sicherheit nicht günstig, ist auf Seiten der Schweriner Staatsanwaltschaft zu hören: Reibungsverluste liegen auf der Hand. Da bleibt der Verdacht nicht aus, daß dies Kalkül sein könnte."3 Man muß es annehmen.




  1. Generalbundesanwalt von Stahl wollte nicht die Wahrheit, sondern die Nachricht des ersten Tages, so wie sie veröffentlicht wurde. Wie hätte er sonst noch einen Tag nach deren offizieller Dementierung in einem Interview dennoch behaupten können, Birgit Hogefeld habe das Feuer eröffnet. Er mußte daraufhin eine Unterlassungserklärung gegenüber Birgit Hogefeld unterschreiben.
  2. Der Entwurf des Zwischenberichts der Bundesregierung zu Bad Kleinen: "Bis zu der am 2. Juli vorgenommenen definitiven Klarstellung von Zuständigkeiten und Festlegung von Verfahrensweisen zur Zusammenarbeit waren in den ersten Tagen nach dem Zugriff Irritationen, Unsicherheiten und Koordinierungsdefizite gegeben. Dies hatte zur Folge, daß während des Zeitraums vom 28. Juni bis 2. Juli die Ermittlungstätigkeit nicht vorangetrieben wurde." Im veröffentlichten Zwischenbericht fehlt der zweite Satz.
  3. Frankfurter Rundschau, 10.7.93