BKA-Präsident
Zachert in der 72. Sitzung des Innenauschusses des deutschen Bundestages am
12.7.93
In den ersten Stunden nach dem Mord an Wolfgang Grams leistet
das BKA ganze Arbeit: bei der Tatortarbeit wurden die wichtigsten Spuren
vernichtet, in Lübeck bei der "Identifizierung" von Wolfgang
Grams wichtige Spuren an seinen Händen abgeschrubbt und noch keine 24
Stunden nach dem Einsatz von Bad Kleinen ist schon seine Waffe beschossen, ohne
daß sie vorher auf Spuren untersucht worden wäre. Um freie Hand zu
haben, wurden die zuständigen örtlichen Dienststellen sowohl vom
Tatort als auch von der Leiche von Wolfgang Grams ferngehalten. Eine zweite
Spurensuche am Tatort, die nach der Aussage der Zeugin Baron und aufgrund des Lübecker
Obduktionsergebnisses angezeigt gewesen wäre, wird unterlassen.
Gleichzeitig beginnt man mittels einer völlig falschen Pressemitteilung mit
der Irreführung der Öffentlichkeit. Die Aussage der Zeugin Baron wurde
verheimlicht, bis Monitor sie vier Tage später veröffentlichte.
Vor dem Innenausschuß des Bundestags: Märchenstunde mit dem Polizeiführer
von Bad Kleinen, Rainer Hofmeyer. Gegenüber der Staatsanwaltschaft
Schwerin: Dienst nach Vorschrift.
Noch am Abend des 27. Juni 93 hat das BKA einige Zeugen der Schießerei
vernommen, darunter auch die Kioskverkäuferin Baron. Sie gab zu Protokoll,
daß auf den wehrlos am Boden liegenden Wolfgang Grams geschossen worden
sei. Diese Aussage wird der Öffentlichkeit verschwiegen, ebenso das
Obduktionsergebnis "Aufgesetzter Kopfschuß". Für beides
wird später regierungsamtlich der Abteilungsleiter "Linksterrorismus"
und Polizeiführer in Bad Kleinen, Rainer Hofmeyer, verantwortlich gemacht.
Ebenso wird später der BKA-Vize Köhler "zur Verantwortung gezogen".
Sie hatten sich mit ihren Auftritten vor dem Innenausschuß des Bundestags
unmöglich gemacht. Hofmeyer hatte den Märchenonkel gespielt, sein
Vize-Chef zeichnete sich durch "Null-Ortskenntnisse, falsche Lageskizze und
grobe Information" aus. "Der hat so getan, als wenn die Beamten der
GSG 9 eine Art kollektives Schweigerecht besäßen." 1
Daß
die beiden sich nur dumm stellten, um Zeit zu gewinnen, belegt z. B. folgende Äußerung
des BKA-Vizepräsidenten Köhler vor dem Bundestagsinnenausschuß
am 30.6.93: "Hier gab es dann einen Schußwechsel. Ich weiß
nicht, wie nahe man dran war oder wie weit weg. Dabei lag letztlich Herr Grams
tot auf den Gleisen. Das ist die Situation."2 Zu diesem Zeitpunkt
konnte mit dieser Information noch niemand etwas anfangen, einen Tag später,
nach der Veröffentlichung der Aussage der Zeugin Baron durch Monitor,
wurde klar, worauf Köhler angespielt hatte.
Auch an anderer Stelle, als es um den angeblichen "Racheschwur"
der GSG 9 geht, der der Auslöser für den Mord an Wolfgang Grams
gewesen sein soll, zeigte er seine Weitsicht: "Völlig undenkbar, heißt
die offizielle Version, daß es eine Handlungsmaxime zur Selbstjustiz gebe.
Der Vizepräsident des BKA, Köhler, ist da nicht so sicher: Er hält
eine Verschwörung, wie er intern zugab, durchaus für möglich".3
Auch intern hielt man sich den Rücken frei - in der Woche nach
Bad Kleinen ließ das BKA die planmäßig anberaumte Sitzung der
Koordinierungsgruppe Terrorismusbekämpfung der Kriminalämter von Bund
und Ländern wegen 'Arbeitsüberlastung' ausfallen.
Unterdessen
weilte BKA-Präsident Zachert in Kur. Erst eine Woche nach Bad Kleinen
mochte er sich der Presse stellen, die, empört darüber, daß man
sie so offensichtlich an der Nase herumführte, Köpfe forderte.
Trotzdem blieben auch ihm peinliche Szenen vor dem Innenausschuß nicht
erspart (siehe oben). Sein Erscheinen machte indes erwartungsgemäß
nichts besser. So strich er heraus, die Zeugin Baron habe unterdessen ihre
Aussage geändert - was in der Hauptsache nicht stimmte; eine Ohrenzeugin für
einen einzelnen Schuß nach der Schießerei ließ er großzügig
unter den Tisch fallen. Andererseits konnte Zachert auch durchaus offensiven
Umgang mit "Informationen" an den Tag legen. Obwohl gutachterliche
Erkenntnisse nach Absprache von BKA, BAW und StA Schwerin im Zuständigkeitsbereich
von Schwerin lag, preschte "der sonst stets als besonders bedächtig
und umsichtig geltende BKA-Chef Zachert (in der 2. Juli-Woche, d. V.) mit den
News vor (..), der rechtsmedizinische Sachverständige der Uni Münster
schließe aus, daß der fragliche Nahschuß aus dem Pistolentyp
der Heckler & Koch P 7, also der gängigen Polizeiwaffe stammen könne."4
Im Verlauf der nächsten Woche meldete sich die Koordinierungsgruppe
Terrorismusbekämpfung (KGT) nach einer Sitzung beim BKA in Wiesbaden mit
massive Vorwürfen gegen die Medien zu Wort: "sie hätten mit wüsten
Spekulationen zusätzliche Verwirrung gestiftet und mit dubiosen
Zeugenaussagen die GSG 9-Beamten als Killer hingestellt. Jetzt deute alles
daraufhin, daß Grams Selbstmord verübt habe".5 Vor
allem das Fernsehmagazin Monitor und der Spiegel wurden
angegriffen; Monitor, weil es die Aussage der Zeugin Baron öffentlich
gemacht und damit den Stein erst richtig in's Rollen gebracht hatte und den Spiegel,
weil der die Aussage eines anonymen Zeugen aus den Reihen der eingesetzten
Beamten abgedruckt hatte. Beiden Magazinen wurde vorgeworfen, "unüberprüfte"
- also von der Polizei nicht abgesegnete - Informationen verbreitet zu haben.
Ebenso wurde natürlich deren Wahrheitsgehalt wegen Widersprüchlichkeiten
generell bestritten - wohl wissend, daß diese Widersprüche nur in für
den Mordvorwurf unerheblichen Details lagen.
Ein Teil der
KGT-Medienoffensive war der Auftritt von Bundesanwalt Löchner vor dem
Innenausschuß des Bundestags. Dort zitierte er aus einer nie veröffentlichten
ersten Fassung der eidesstattlichen Erklärung, die Baron gegenüber
Monitor gemacht hatte. Anhand dieser vorläufigen Fassung - Löchner
erweckte natürlich den Eindruck, es handle sich um die autorisierte -
versuchte er, die Zeugin unglaubwürdig zu machen.6
Schließlich sprach BKA-Präsident Zachert im September bei einem
Nachbereitungstreffen in der Polizeiführungsakademie in Münster auf höchster
polizeilicher Ebene noch einmal deutlich aus, was ihm stinkt: die Medien. Es
habe sich um "unerträgliche Vorverurteilungen" gehandelt.
Zusammen mit dem Inspekteur des Bundesgrenzschutzes und damit auch der GSG 9,
Hitz, kam er zu dem Fazit, daß die eigentliche "Panne" von Bad
Kleinen die Pressearbeit gewesen sei. "Zachert und Hitz resümierten
vor Führern von Spezialeinheiten daß die Polizeiaktion sehr
professionell vorbereitet worden sei. Zwar habe es bei dem Einsatz "einige
Probleme" gegeben. Grund für die folgende Krise sei aber eigentlich
das laienhafte und unkoordinierte Berichtswesen gegenüber Medien,
Politikern und damit der Gesellschaft gewesen. (...) Damit das Ansehen der Behörden
nicht nochmals so geschädigt werde wie im Fall Bad Kleinen, verlangten
Zachert und Hitz für die Zukunft eine professionelle Informatiossteuerung
in Form eines Krisen-managements à la Schleyer." 7
Eine durchaus professionelle Nachbereitung, nur mit laienhafter
Medienarbeit: sie war nicht für die Öffentlichkeit gedacht.
Der Dienstherr Bundesregierung war nicht undankbar: Hofmeyer und Köhler
wurde es vergolten, daß sie im Krisenmanagment der ersten Tage ihren Kopf
hingehalten hatten. Köhler wurde auf einen ruhigen Posten im
Innenministerium versetzt, Hofmeyer wurde Chef des Kriminalistischen Instituts
des BKA mit 150 Mitarbeitern, das neben der kriminalistisch-kriminologischen
Forschung auch für die Weiterbildung sowohl der BKA-Beamten als auch von
Fahndungsspezialisten aus dem In- und Ausland zuständig ist.
Es ist die Regel, daß die Polizei von wichtigen Einsätzen
Videoaufnahmen fertigt. Sie dienen zur Dokumentation, zur polizeitaktischen
Auswertung und Nachbesprechung des Einsatzes, zur Schulung und, bei besonderen
Vorkommnissen, auch als Beweismaterial vor Gericht - das aber in aller Regel
nur, wenn sie die Polizei entlasten. Die Behauptung von BKA und GSG 9, den
Einsatz in Bad Kleinen nicht gefilmt zu haben, ist daher absolut unglaubwürdig.
BKA-Präsident Zachert bestätigte auch, daß ein
Dokumentationstrupp des BKA mitgereist sei. Die "mobile Situation"
habe aber seinen Einsatz unmöglich gemacht. 8 Diese Behauptung
ist angsichts der genauen Vorbereitungen nicht haltbar.
Es war genug Zeit, eine Videoobservation aufzubauen. Die GSG 9 hatte schon
um 8.30 Uhr morgens ein SET zugriffsbereit in Bad Kleinen. Birgit Hogefeld war
ab kurz nach 13 Uhr im Billardcafe, also gut 2 Stunden vor dem Einsatz. Ein
BKA-Beamter nimmt sogar schon um 12.30 Uhr seinen Beobachtungsposten im
Stellwerk ein. Die Zeitungsmeldung, daß sich der von Zachert bestätigte
Dokumentationstrupp im Zug auf Gleis 5 aufhielt, wo auch von Zeugen zwei Männer
gesehen wurden, ist angesichts dieser Fakten plausibel. 9 Auch vom
Stellwerk aus wäre es ohne weiteres möglich gewesen, völlig
unbemerkt zu filmen - mit exzellentem Blickfeld. Selbst das Gebüsch hinter
Gleis 5 hätte sich für eine Videoobservation angeboten.
Über das nötige Equipement von Teleobjektiv bis Fernsteuerung
verfügt das BKA, schließlich war es ihm ja auch möglich, sowohl
das Zusammentreffen von Birgit Hogefeld mit Steinmetz am 24.6. wie auch die
Ferienwohnung in Wismar unbemerkt per Video zu überwachen.
Es gibt nur zwei mögliche Erklärungen für das Fehlen
jeglicher Videoaufzeichnungen: entweder das Video zeigt den Mord oder es war von
Anfang an klar, daß es kein Video geben darf. Da muß wohl, um
Zachert zu zitieren, noch einmal "nachgefaßt" werden.
Mit Ende des Zugriffs in Bad Kleinen trat eine vom BKA verhängte
Nachrichtensperre in Kraft und es begann eine Tatsachenverschleierung und
Spurenvernichtung im großangelegten Maßstab. Die Dimension dessen,
was da zu verheimlichen war, läßt sich nur erahnen, wenn man in
Betracht zieht, daß sogar angeforderten notärztlichen Rettungsteams
auf Fragen nach konkreten Verletzungen und deren Ursache die Information mit
Verweis auf eben diese Nachrichtensperre verweigert wurde.
Nachrichtensperre als Begründung für Informationsverweigerung mußten
sich auch zwei BGS-Beamte der Bahnpolizei Schwerin anhören. Sie kamen
aufgrund ihrer Zuständigkeit für den Bahnhof Bad Kleinen dorthin und
wollten ihre Dienststelle über die Vorgänge in Kenntnis setzen. Auskünfte
wurden ihnen von seiten der BKA-Beamten nicht erteilt. Sie wurden, weitab vom
Geschehen, zur Sicherung vor Schaulustigen auf den Bahnhofsvorplatz abgeschoben.
Ihrer eigenverantwortlichen Tätigkeit ist allerdings die Feststellung der
Personalien von Zeugen zu verdanken, die vorher auf dem Bahnhofsgelände von
den dortigen BKA-Beamten nicht als Zeugen aufgenommen wurden.
BKA-Beamte bei der Tatortarbeit (Foto:dpa)
Der Eifer und die Eile, mit der BKA-Beamte noch am Tattag Zeugenaussagen,
die sie einfach nicht weglügen bzw. unter den Tisch fallen lassen konnten,
wie z.B. die Kioskverkäuferin Baron, demontiert haben, ist eine Seite der
nun beginnenden Ermittlungen. Die andere zeigt sich in der "Fahrlässigkeit",
mit welcher direkte ZeugInnen, die als Reisende auf Bahnsteig 3/4 das ganze
beobachteten, und sich teilweise noch bis zu einer Stunde auf dem Bahnhofsgelände
aufhielten, den Bahnhof verlassen konnten, und zwar ohne Aufnahme der
Personalien. In einem Fall ist bekannt, daß der betreffende Zeuge sogar
noch an GSG 9-Sperren aufgehalten wurde und dort bestätigte, daß er
vom Bahnsteig komme. Ein weiterer bot sich den anwesenden Beamten als direkter
Tatzeuge an, worauf er zur Antwort die Drohung erhielt, er sei ein toter Mann,
wenn er sich äußere.
Diese beiden wurden dort nicht als Zeugen erfaßt. Wieviel Zeugen
letztendlich nicht festgestellt wurden, läßt sich nicht mehr klären.
Es fehlen aber nachweislich einige.
Die direkten Einsatzkräfte wurden nicht erfaßt. Das waren nach späterer
Aufstellung des BKA 20 Beamte des BKA und 35 der GSG 9.
Dies hatte u.a. zur Folge, daß der Staatsanwaltschaft Schwerin für
ihre Ermittlungen nach mehreren Anfragen erst am 11.Juli 1993 - 15 Tage nach dem
Einsatz - mitgeteilt wurde, wieviel Kräfte angeblich bei dem Einsatz in Bad
Kleinen anwesend, und wo sie postiert waren. Doch auch diese Aufstellung ist
offensichtlich nicht vollständig.
Da es kurz nach dem Schußwechsel in Bad Kleinen anfing zu regnen, und
niemand der anwesenden Spezialisten vorschriftsmäßig den Tatort
abdeckte, war für die Ermittler nicht mehr nachvollziehbar, ob Blutspritzer
am ursprünglichen Liegeort von Wolfgang Grams vorhanden waren. Nach Prof.
Brinkmanns Selbstmordtheorie hätte man Blutspuren direkt rechts neben
seinem Kopf feststellen müssen und darin sozusagen als Negativabdruck seine
Pistole. Das dokumentierte Nichtvorhandensein solcher Spuren hätte seiner
Theorie keine Grundlage geboten.
Die Bild-Dokumentation oder jedwede sonstige Darstellung der Lage der
Verletzten wie z.B. Kreidekennzeichnungen, Bestandteil jeder Tatortarbeit, wurde
nicht vorgenommen, zumindest nicht für offizielle ermittlungstechnische
Zwecke.
Das gleiche gilt für die Lage der Waffe von Wolfgang Grams.Während
sich die Waffe von Wolfgang Grams im Zwischenbericht der Bundesregierung noch
eindeutig "auf der linken Körperseite in der Nähe seiner linken
Hand" befand,10 kommt die Bundesregierung in ihrem Abschlußbericht
nunmehr zu der lapidaren Feststellung: "Zur Lage der Waffe des Grams nach
Beendigung des Schußwechsels liegen unterschiedliche Aussagen vor. (...)
Der Widerspruch (...) ließ sich auch durch die staatsanwaltlichen
Ermittlungen nicht aufklären." 11
Die aus der fehlenden Dokumentation folgenden Unklarheiten bezüglich
der Lage des Kopfes, des Armes, der Hand und der Waffe von Wolfgang Grams nutzte
Professor Brinkmann dann bei der Konstruktion seines "Selbstmordbeweises".
Die einzigen Bilder, die angeblich von dieser Zeitspanne existieren, sind
die von GSG Nr. 19, der rein privat eine Videokamera in seinem Dienstauto mit
sich führte und mit dieser eine halbe Stunde nach dem Schußwechsel
den Tunnel, Bahnsteig und die Verletzten videografierte. Die Tatsache, daß
er mit seiner eigenen Videokamera sozusagen als "Privatperson im Einsatz"
einen kleinen Film drehte, war auch der Anlaß, diesen Film vorerst nicht
den Ermittlungsbehörden zur Verfügung zu stellen. Er fand Verwendung
im internen ausgesuchten Kreis unter GSG-Beamten zu sogenannten Studienzwecken.
Erst nach neun Tagen wurde eine Kurzfassung - ohne Abbildung eingesetzter GSG
9-Beamter - dem BKA zur Verfügung gestellt. Diese Kurzfassung plus der
angeblichen Originalcassette landeten erst 11 Tage nach dem Einsatz in Bad
Kleinen bei dem Landeskriminalamt Mecklenburg-Vorpommern. Lapidare Feststellung
im Zwischenbericht der Bundesregierung dazu: "Es muß zukünftig
sichergestellt werden, daß Tatortaufnahmen umgehend zur Verfügung
gestellt werden."12
Der GSG 9-Beamte Nr. 19 war jedoch nicht der einzige, der rein privat
Aufnahmen vom Tatort und den Verletzten machte.
Ein Pilot der Grenzschutzfliegerstaffel Berlin, als Pilot eines der
Rettungshubschrauber abgeordnet, hat mit seiner privaten Kleinbildkamera zu dem
Zeitpunkt der medizinischen Notversorgung der beiden Verletzten auf Bahnsteig
3/4 mindestens sieben Bilder aufgenommen. Dies teilte er am nächsten Tag
seinem Vorgesetzten mit. Der Film wurde jedoch nicht sofort als Beweismittel
eingezogen. Der Pilot brachte nach einem weiteren Tag den Film angeblich ganz
privat zum Entwickeln. Vier Tage später holte er ihn ab, und nochmal 3 Tage
danach setzte er seine vorgesetzte Dienstelle von der Fertigstellung dieser
Bilder in Kenntnis. Am gleichen Tag wurden sie dann dem Landeskriminalamt
Mecklenburg-Vorpommern zugestellt; allerdings nur 16 von 24 Negativen. Was auf
den fehlenden acht Bildern zu sehen ist, wurde nie ermittelt. Drei von diesen
Bildern erschienen dann am 15. Juli 1993 in Die Woche. Was das BKA mit
seinem Heer an Spezialisten zu diesem Zeitpunkt nicht fertiggebracht hat, den
Tatort foto- oder videografisch festzuhalten, macht dieser BGS-Fliegerpilot
praktisch nebenbei: Nach Ankunft seiner Ärzte-Besatzung auf dem Bahnsteig
3/4 erhielt er am Hubschrauber die Aufforderung, umgehend das mitgeführte
Beatmungsgerät für Wolfgang Grams nachzubringen - der lebensgefährliche
Zustand des Patienten war vorher nicht über Funk bekanntgegeben worden. Der
Pilot nun nimmt seine Kamera, bringt das Beatmungsgerät zusammen mit seinem
BGS-Bordwart im Laufschritt auf Bahnsteig 3/4 und macht dort die erwähnten
Aufnahmen.
Bei diesen Bildern kann man davon ausgehen, daß auch sie intern zu
Abstimmungszwecken gebraucht wurden: GSG 9 Nr. 19 zumindest weiß in einer
Vernehmung einen Tag nach Eingang der Bilder bei den Ermittlungsbehörden,
daß er auf einem dieser Bilder abgelichtet ist. Während seiner
Vernehmung nach Schutz-Kleidung befragt, verweist er auf diese Aufnahmen, die
hier vorliegen sollen.Wohlbemerkt, er gehört nicht zur
Grenzschutzfliegerstaffel, ist dort auch nicht stationiert, kann also schon
allein deshalb nicht mit dem BGS-Fliegerpiloten nach Dienstschluß private
Bilder ausgetauscht haben.
Viele private Zeugen, aber auch eingesetzte Kräfte, haben Angaben über
filmende oder fotografierende Personen auf Bahnsteig 3/4 gemacht. Aufgrund
dieser Aussagen muß man zwingend davon ausgehen, daß noch mehr
Dokumentationsmaterial, zumindest für die Zeit kurz nach dem Einsatz bis
zum Abflug der Verletzten, vorliegen muß. Die fehlende Bilddokumentation
ist somit keine faktische, sondern eine vorgeschobene "Panne" zur
Unterschlagung von Beweismaterial.
Die Videoaufzeichnungen des GSG 9-Beamten, die laut Bahnhofsuhr kurz vor 16 Uhr
unterbrochen werden, zeigen eine Viertelstunde später erstaunliche
Lebendigkeit.: Nummernschilder zur Bezeichnung der Lage von Spuren liegen plötzlich
ganz anders als zuvor.13
Fast alle der 120 für die Festnahme eingesetzten Kräfte hielten sich
nach dem Mord in Bad Kleinen selbst auf. Bei diesem gigantischen Aufgebot an
Spezialisten waren jedoch nur zwei Männer für die Tatortarbeit
vorgesehen. Das sollte für die nächsten sechs Stunden auch so bleiben.
Die Entscheidung des Polizeiführers war, daß der Einsatzort nur durch
die Tatortgruppe des BKA zu bearbeiten sei. Und die befand sich in Wiesbaden und
mußte erst eingeflogen werden. 14
Die Regeln und der
Leitfaden des BKA für die Tatortarbeit wurden damit eklatant mißachtet:
"Hiernach hat sie (die Polizei bei der Tatortarbeit, Anm. d. V.) Straftaten
zu erforschen und alle keinen Aufschub gestattenden Anforderungen zu treffen, um
die Verdunkelung der Sache zu verhindern. (...) Die Polizei unterliegt somit der
Pflicht der unverzüglichen Beweissicherung."15
Im Zwischenbericht der Bundesregierung wird zwar der Eindruck vermittelt,
daß vorerst genügend Kräfte für die Tatortarbeit vorhanden
gewesen seien: Die Kriminalinspektion (KPI) Schwerin hatte mit fünf
weiteren Kriminaltechnikern ihre Dienste angeboten. Zwei von ihnen wurden
allerdings für Ermittlungen gebraucht und die restlichen drei wurden auf
Anordnung des ranghöchsten Polizeibeamten vor Ort im wahrsten Sinne des
Wortes auf ein Nebengleis (Gleis 5) abgeschoben. Am konkreten Tatort -
Treppenaufgang, Bahnsteig 3/4 und Gleis 4 - hatten sie jedoch nichts zu suchen.
Einer der Spurentechniker wurde dem Einsatzeiter der SOKO mit dem Hinweis
vorgestellt, daß ihm der Sachverhalt zur Kenntnis gegeben werden müsse.
Nach der ihm gelieferten Sachlagenschilderung konnte sich dieser Kriminalbeamte
des Eindrucks einer gewissen Geheimniskrämerei nicht erwehren. Rein
subjektiv war dieser Eindruck sicherlich nicht; sondern eher vorsichtig ausgedrückt.
Denn das, was ihm mitgeteilt wurde, ist nicht nur die halbe Wahrheit, sondern
Vorspiegelung falscher Tatsachen: Informiert wurde einzig über einen Schußwechsel
mit "Terroristen", bei dem ein Polizist einen Brustschuß
erhalten habe, den er wahrscheinlich nicht überleben werde. Es wurden
keinerlei Angaben darüber gemacht, durch wen, mit was und von wo überhaupt
geschossen wurde. Der durch Kopf- und Bauchschuß schwerverletzte Wolfgang
Grams wurde mit keiner Silbe erwähnt. Das war der gesamte Kenntnisstand,
mit dem die Spurentechniker der KPI Schwerin ihre Tatortarbeit ausführten.16
Die Kriminaltechniker der KPI heben sich bei der Vorgehensweise in ihrer
Tatortarbeit und der technischen Ausstattung gegenüber den
BKA-Tatortbeamten ab. Sie haben eine Videokamera zum Einsatzort mitgebracht,
machen damit eigenverantwortlich Übersichtsaufnahmen, einen Gesamtüberblick
vom Bahnhof Bad Kleinen und Detailaufnahmen. Die hochspezialisierten BKA-Beamten
nicht. Entgegen den BKA-eigenen Anweisungen für effektive Tatortarbeit
haben sie keine Videokamera vor Ort, obwohl eine Videoausrüstung zum
integralen Bestandteil ihrer Ausrüstung gehört. In dem Lehrbuch
Kriminalistik, Handbuch für Praxis und Wissenschaft ist ein gesondertes
Kapitel eigens dem "Konzept für die Aufnahme eines Tatortes mit der
Videokamera" gewidmet, mit detaillierten Schilderungen, wo am Tatort Übersichtsaufnahmen
mit Weitwinkel oder Teleobjektivdokumentationen angebracht sind.17
Die später eingeflogene Tatortgruppe wurde anscheinend ebenfalls
nicht beauftragt, solches Gerät mitzubringen, trotz der Tatsache, daß
mittlerweile bekannt war, daß es auf dem Bahnhof Bad Kleinen zwei Tote
gegeben hatte. Die KPI-Beamten mußten den zwei mangelhaft ausgerüsteten
Tatortbeamten des BKA öfter -dann wenn sie Spurentafeln markiert hatten -
mit der Videokamera aushelfen. Daß bis zum Abschluß ihrer eigenen
Tatortarbeit kein Kollege des BKA mit einer Videokamera zu sehen war, konnten
sie nur mit Verwunderung feststellen. Verwunderung darüber oder Erklärungsversuche
für diesen peinlichen Umstand sind beim BKA dagegen nicht aufgekommen. In
einem Schreiben des BKA an das LKA Mecklenburg-Vorpommern kommt es lediglich zu
der Feststellung, daß durch die eigene Behörde keine
Videodokumentation des Tatortes gefertigt worden sei. Dies sei durch die KPI
Schwerin erfolgt.
Die acht, extra für die Tatortarbeit eingeflogenen BKA-Beamten erklärten
ihre Arbeit bereits nach zwei Stunden und zwanzig Minuten für beendet.
Zum besseren Verständnis, was die Dauer und damit die Intensität
der Spurensicherung sonst betrifft, hier zwei Beispiele, in welchem Zeitraum "normalerweise"
derartige Ermittlungen stattfinden (vorausgesetzt die Polizei ermittelt nicht
gerade gegen sich selbst, organisierte Faschisten oder wegen sogenannter
Wirtschaftskriminalität): Die Spurensuche nach dem Sprengstoffanschlag der
RAF auf den Gefängnisneubau bei Weiterstadt im April 1993 war erst nach
einem Jahr (!) abgeschlossen. Zellendurchsungen bei politischen Gefangenen durch
das BKA dauern teilweise drei Tage. Die Größe einer Zelle variiert
zwischen 7,5 qm und 10 qm
Die Täter selbst bestimmten aus dem Großangebot an Bewaffneten
die Anzahl derer, die geschossen haben sollen. Und das war ein Bruchteil der
bewaffnet eingesetzten Kräfte. Insgesamt wurden nur sechs Waffen
festgestellt.
Gegen 17.00 Uhr wurde angeordnet, "daß alle am Schußwechsel
beteiligten Beamten ihre Waffen mit Magazinen bei der Tatortgruppe abzugeben
haben. Den Tatortbeamten war zu diesem Zeitpunkt die genaue Zahl der bei dem
Schußwechsel eingesetzten Waffen nicht bekannt. (...) Nicht bekannt war
der Tatortgruppe zum Zeitpunkt der Tatortarbeit, daß die Dienstwaffe des
verletzten GSG 9-Beamten Nr. 5 nicht mit abgeliefert worden war."18
Die siebte Waffe, die des verletzten GSG Nr. 5, befand sich noch fünf
Tage im Besitz der GSG 9 bis sie angeblich bei der Beerdigung von Michael
Newrzella dem Leiter des BKA-MEK übergeben und von diesem zur
spurenkundlichen Untersuchung weitergeleitet wurde.
Die Anweisung für den Einsatz in Bad Kleinen an die GSG 9 lautete, drei
Magazine à 8 Patronen plus eine im Patronenlager mit sich zu führen:
insgesamt also 25 Patronen pro Mann. Abgegeben und asserviert wurde aber
lediglich nur das Magazin, das sich zum Übergabetermin in der jeweiligen
Pistole P 7 befand.
Ob die übrigen Magazine tatsächlich in Reserve gehalten wurden,
bleibt deshalb unklar. Die Anzahl der abgegebenen Schüsse wurde von den
Tatortbeamten einzig und allein aufgrund dieser abgegebenen Pistolen und
Magazine rekonstruiert.
Der folgenden BKA-eigenen Ausführung sind die Tatortbeamten des BKA
nur einseitig nachgekommen: "Die Rekonstruktion (eines Geschehensablaufes
bei der Tatortarbeit, Anm. d. V.) ist ein dynamischer Prozeß. Jede neue
Information fordert zur Überprüfung der Rekonstruktionshypothesen
heraus. Dieser Informationsverarbeitungsprozeß vollzieht sich während
der parallel zu führenden Tatortarbeit und Ermittlungshandlungen ständig,
und die Ergebnisse werden vor dem Hintergrund der objektiven Spurenlage
verifiziert oder falsifiziert." 19
Patronenhülse im
Gleis
Die Tatortbeamten in Bad Kleinen haben sich viel Mühe gegeben, das zu
verifizieren, was ihnen von ihren Kollegen vorgegeben wurde. Bekannt war den
Spurentechnikern während ihrer Arbeit, daß insgesamt 29 Schuß
von den GSG 9-Beamten abgegeben worden waren; die vorenthaltene Pistole von Nr.
5 mit vier abgegebenen Schüssen wurde noch bei der GSG 9 unter Verschluß
gehalten. Folglich fanden sie auch 29 Hülsen (genauer: 28 Hülsen und
eine Patrone).
Da die Komplizen der Täter den Tatort untersuchten, hätten sie
ohne weiteres ein paar Hülsen verschwinden lassen oder übersehen können
und somit die angeblich abgefeuerte Munition mit der aufgefundenen auf einen
Stand bringen können. Abwegig ist dieser Verdacht keinesfalls: Ein mit der
Luftrettung eingetroffener Notarzt hat mehrere Patronenhülsen am unteren
Treppenende bzw. an der Ecke zur Unterführung wahrgenommen. Im später
angefertigten Spurenplan der Tatortbeamten findet sich an der Ecke zur Unterführung
überhaupt keine Hülse, lediglich auf den unteren Stufen zwei; die nächsten
lassen sich erst wieder im oberen Bereich des Treppenaufganges finden. Auch die
Tatsache, daß bis heute, trotz mehrerer Nachsuchaktionen auf dem Bahnhof
Bad Kleinen, der Verbleib von zwei Patronenhülsen, die von den GSG
9-Beamten verschossenen wurden, nicht geklärt werden konnte, legt diesen
Verdacht nahe.
Vier Tage nach dem Schußwechsel tauchte unerwartet während der
Vernehmung eines Rangierleiters des Bahnhofs Bad Kleinen durch das BKA, ein
Projektil auf. Er hatte es zwei Tage nach den Schüssen im Gleisbett
gefunden, in die Hosentasche gesteckt und mit nach Hause genommen. Dort hat es
seine Frau vor der Wäsche gerettet. Bei der am darauffolgenden Tag durchgeführten
Rekonstruktion der Auffindesituation auf dem Gleis, fand dieser Mann eine
weitere Hülse. Diese Hülse, das konnte man der Prägung entnehmen,
war eine von der GSG 9. Die von den Tatortbeamten aufgestellte Munitionsbilanz -
29 abgegebene Schüsse gleich 29 aufgefundene Hülsen/Patronen - stimmte
somit nach diesem Fund nicht mehr. Es mußte von der GSG 9 also mindestens
ein Schuß mehr abgegeben worden sein, als durch die fehlenden
abgeschossenen Patronen ermittelt. Angeblich am gleichen Tag - bei der
Beerdigung von Newrzella - übergab ein stellvertretender Einheitsführer
der GSG 9 die am Tatort versehentlich nicht abgegebene Waffe von GSG 9 Nr. 5 dem
BKA-Leiter des MEK. Am nächsten Tag wurde diese Waffe den Tatorbeamten des
BKA übergeben. Diese fertigten daraufhin eine Liste der am "Tatort
sichergestellten Waffen" an - die erste Bestandsaufnahme der Waffen überhaupt,
am 3. Juli 1993! Die Waffe von GSG 9 Nr. 5, obwohl weder am Tattag noch am
Tatort asserviert, wird dort mit den sechs in Bad Kleinen abgegeben Pistolen
aufgeführt.
GSG 9 Nr. 2 hat während des Schußwechsels einen Magazinwechsel
durchgeführt. Diese Tatsache läßt er während vier
Vernehmungen bzw. Aufzeichnungen unter den Tisch fallen. In seiner fünften
Vernehmung verstrickt er sich in Beantwortung einer ganz anderen Frage in Erklärungsversuche.
Gefragt wird er, ob er nach Beendigung des Schußwechsels ein Klicken oder
Klacken wahrgenommen habe. Um zu erklären, daß ein solches Geräusch
durchaus nicht ungewöhnlich ist, meint er, die Erklärung hierfür
wäre ganz simpel, beim Vor- und Entspannen der Pistole würde ein
solches klickendes Geräusch entstehen. Er selbst hätte es nicht nur
nach dem Schußwechsel, sondern auch während der Schießerei bei
seiner eigenen Waffe gehört. Da er nicht wußte, wieviel Schuß
er abgeben hatte, habe er vorsichtshalber einen Magazinwechsel durchgeführt.
Dabei sei ein solches klickendes einrastendes Geräusch entstanden. Daß
er sechsmal geschossen habe, habe er dann später anhand seiner Restmunition
errechnet. GSG 9 Nr. 2 gibt seine Waffe in folgendem Zustand ab: Die Pistole mit
einer Patrone im Lauf und zwei Patronen im Magazin. Die Waffe kann neun Patronen
fassen, drei sind noch vorhanden, also hat Nr. 2 sechs Patronen verschossen.
Nur, er hat während dem Schußwechsel einen Magazinwechsel durchgeführt.
Hat er jetzt also nochmal sechs Schuß abgegeben und das erste Magazin
verschwinden lassen, oder vor Abgabe seiner Waffe einen weiteren Magazinwechsel
durchgeführt, um den angeblichen ursprünglichen Zustand (sechs
abgegebene Schüsse) wiederherzustellen und das Ersatzmagazin verschwinden
lassen. In jedem Fall fehlt entweder das erste oder das Reservemagazin.
Wegen der mangelhaften Tatortarbeit des BKA mußte die
Staatsanwaltschaft Schwerin noch drei weitere Nachsuchen auf dem Bahnhof Bad
Kleinen anordnen, bei denen noch insgesamt vier Hülsen (drei von Wolfgang
Grams und eine von der GSG 9) und weitere Geschoßteile gefunden wurden.
Die letzte mit Sprengstoff-Spürhunden durchgeführte Nachsuche blieb
trotz zweier offiziell noch fehlenden Hülsen des Zugriffs-SETs ergebnislos.
Das Interesse der Tatortbeamten des BKA war es, alle Beweismittel zu
vernichten, die für Fremdtötung sprechen und Fakten, gegen das Bild
vom vorsetzlichen Mord, das in der Öffentlichkeit durch eventuelle
Zeugenaussagen entstehen könnte zu schaffen. Diese Tatortbeamten waren
keineswegs desorientiert, sondern haben genau gewußt, was sie machen, bzw.
was sie nicht machen sollen.
Der medizinische Sondermüll von Wolfgang Grams' Notarztvesorgung
beispielsweise war für sie von keinerlei Interesse. Den ließen sie
auf dem Bahnsteig und den Gleisen liegen. Ein Bahnbediensteter sammelte ihn noch
in derselben Nacht ein und schickte ihn ein paar Tage später an das
Landeskriminalamt Mecklenburg-Vorpommern. Das BKA, über diesen Fund
informiert, gibt am 19. Juli 1993, 22 Tage nach dem Einsatz in Bad Kleinen, die
Anweisung diesen Müll zu untersuchen und dabei auf Bundesbahnfahrkarten
oder sonstige Gegenstände zu achten, die in dem Verfahren gegen Birgit
Hogefeld von Bedeutung sein könnten.
Das, was bei der Beweismittelvernichtung am Tatort und Tattag nicht von
Bedeutung war, erhielt seinen Wert wieder bei der Fahndungsarbeit im Verfahren
gegen Birgit Hogefeld.
Wir haben uns oft die Frage gestellt, worin die Qualität der
Spuenvernichtung durch die Tatortbeamten besteht. Daß eine Serie von
Spuren vernichtet werden mußte, und dies auch geschehen ist, ist
offensichtlich. Unlogisch erschien uns die offenkundige Nachweisbarkeit der
Vernichtung von Beweismitteln. Warum wurden nicht Fakten geschaffen, die hieb-
und stichfest waren? Die Perfektion dieser Arbeit des BKA liegt sicher nicht in
der Gründlichkeit, mit der diese Vernichtung vertuscht wurde. Das
eindrucksvollste und effektivste Ergebnis dieser Arbeit ist die Tatsache, daß
so gezielt spezielle Spuren vernichtet wurden, daß die Erschießung
von Wolfgang Grams nicht mehr eindeutig rekonstruierbar ist. Und das war der
Sinn und die tatsächliche Leistung dieser Spuren- und Ermittlungsarbeit in
Bad Kleinen. Sie war der Grundbaustein, die Voraussetzung für die
Entlastung der Einsatzkräfte vom Mordvorwurf. Sie wurde gebraucht für
die offizielle Selbstmordversion. Daß man dabei ein paar "Fehler im
handwerklichen Bereich" zugestehen mußte, blieb letztlich ohne
Konsequenzen und war ein einkalkulierbar geringer Preis.
Wenige Stunden nach dem Tod von Wolfgang Grams werden die Spuren an seiner
Hand vernichtet, denn eine der ersten Maßnahmen, die vom BKA nach dem Tod
von Wolfgang Grams getroffen wurden, war seine "sichere"
Identifizierung - obwohl an seiner Identität kein ernsthafter Zweifel mehr
bestand. Die Eile, die das BKA dabei an den Tag legte, war absolut unangemessen
und unüblich. Es ist eine Grundregel, daß die flüchtigsten
Spuren zuerst gesichert werden müssen und die dauerhaftesten zuletzt. Jede
andere Spur ist aber flüchtiger als der Fingerabdruck.
Nach seinem Tod in der Universitätsklinik Lübeck wurde Wolfgang
Grams' Leiche in einen Kühlraum gebracht. Im Lauf des Abends trafen sechs
bis sieben BKA-Beamte in der Klinik ein. Zwei von ihnen gingen, bewaffnet mit
einer Fotoausrüstung, zusammen mit dem diensthabenden Arzt in den Kühlraum,
um die Identifizierung durchzuführen. Diese beiden Beamten waren direkt vom
Tatort Bad Kleinen gekommen. Zwischenzeitlich hatten die BKA-Beamten schon die
Kollegen von der Lübecker Polizei, die zur Vornahme der Leichenschau in die
Klinik gekommen waren, wieder nach Hause geschickt - "unter Verkennung der
durch den Tod von GRAMS zwischenzeitlich begründeten Zuständigkeit der
Staatsanwaltschaft Schwerin". 20 Man kann es wirklich nur
bedauern, daß sich die Lübecker Beamten von den Chefs aus Wiesbaden
so schnell einschüchtern ließen. 21
Der diensthabende
Arzt gibt an, daß die rechte Hand mit Blut und mit öliger Schmiere
(wahrscheinlich Gleisfett) stark verschmutzt war. Da die BKA-Beamten Fingerabdrücke
abnehmen wollten, wusch er beide Hände. Er selbst hat insbesondere die
rechte Hand gewaschen und dabei starken Druck ausgeübt. Die linke Hand
wurde im wesentlichen von einem der Beamten gewaschen. Die Hände wurden vor
dem Waschen nicht einmal fotografiert.
Die Säuberung erfolgte so gründlich, daß bei der Züricher
Untersuchung auf sogenannte REM-Tabs, die vor der Obduktion von der rechten Hand
abgenommen wurden, nicht einmal mehr Schmauchspuren nachzuweisen waren, obwohl
Wolfgang Grams mit dieser Hand mehrfach geschossen hat. Sogar die Fettspuren an
seiner Hand waren danach beseitigt. Von diesen Fettspuren hat die
Staatsanwaltschaft Schwerin nach Selbstversuchen berichtet, daß sie nur äußerst
schwer abzuwaschen sind.
Durch dieses Schrubben der Hand vor jeglicher spurenkundlichen Sicherung
und Untersuchung sind etwaige Blutspritzspuren mit Sicherheit entfernt worden. Hätte
man sie gefunden, wäre im Zusammenhang mit den Blutspuren an der Waffe ein
Selbstmord sehr wahrscheinlich gewesen. Hätte dagegen festgestanden, daß
die Hand auch vor der "Säuberung" frei von Blutanhaftungen war, wäre
das wiederum ein schwerwiegender Anhaltspunkt für einen Mord gewesen.
Einer der beiden BKA-Beamten hat im Gegensatz zum behandelnden Arzt
ausgesagt, daß die Hände bei seinem Eintreffen schon sauber gewesen
seien, widersprach sich dann aber, als er behauptete, der Arzt habe "nur"
die Innenseite der rechten Hand gereinigt. Der andere BKA-Beamte wurde von der
StA Schwerin zu diesem wichtigen Vorgang erst gar nicht vernommen.
Nebenbei: zur Identifizierung hätte es laut Bericht der
Bundesregierung lediglich eines Abrucks des rechten Zeigefingers bedurft.
Zur Untersuchung der Kopfschußverletzung wurden auch die Haare
abrasiert, allerdings ohne sie zu asservieren. Auch bei der Obduktion am nächsten
Morgen unterließen die dort anwesenden BKA-Beamten die Asservierung der
Haare. Als Ursache wurde später ein "Mißverständnis"
genannt. Diese "Panne" blieb ohne praktische Bedeutung, da durch die
Stanzmarke an Wolfgang Grams' Kopf ein aufgesetzter Schuß zweifelsfrei
feststand. Wäre der Schuß aber auch nur aus wenigen Zentimetern
Entfernung abgegeben worden, hätte ohne die Untersuchung der Haare die Schußentfernung
nachträglich nicht mehr bestimmt werden können.
Daß Wolfgang Grams' Waffe noch vor jeder spurenkundlichen Untersuchung am
Morgen nach Bad Kleinen vom BKA in Wiesbaden beschossen wurde, wird natürlich
von allen beteiligten Stellen, wie auch von der StA Schwerin bestritten.
Laut BKA-Vermerk wurden die Waffen von sechs GSG 9-Beamten sowie von
Birgit Hogefeld und Wolfgang Grams am 28.6.93, also einen Tag nach Bad Kleinen,
an die BKA-Abteilung KT 6 zur schußwaffenerkennungsdienstlichen Behandlung
übergeben. Bezüglich der Waffen von Birgit Hogefeld und Wolfgang Grams
sollte insbesondere untersucht werden, ob sie schon bei anderen Straftaten
benutzt wurden. KT 6 vermerkt noch am gleichen Tag, daß dies zu verneinen
sei und bestätigt dies bezüglich der Czeska von Wolfgang Grams auch
gutachtlich. In diesem Gutachten heißt es weiter: Die im Betreff genannte
Waffe wurde KT 6 zur schußwaffenerkennungsdienstlichen Behandlung am
28.6.93 übergeben und hier beschossen. Sie wurde am 29.6.93 an TB 12 übergeben.
In einem Vermerk vom 5.7.93 teilt KT 6 mit, am 28.6.93 seien alle acht Waffen in
Empfang genommen worden. Nach der fotografischen Sicherung seien die Waffen
kalibergerecht beschossen und am 29.6.93 an TB 12 übergeben worden. Erst TB
12 hatte den Auftrag, die Bereiche der Läufe auf Blut- und
Gewebeanhaftungen zu untersuchen.
Am 21.7.93 wird dann in einem Vermerk von KT 31, einer anderen
BKA-Abteilung, behauptet, die Waffe von Wolfgang Grams sei anders als die sieben
anderen Waffen schon am 28.7.93 zur Spurensuche weitergeleitet worden. Der Grund
dafür sei ein entsprechender Telefonanruf der Tatortgruppe Schwerin um 14
Uhr gewesen, just in dem Moment, als man schon alle anderen Waffen beschossen
habe und gerade im Begriff war, die von Wolfgang Grams zu beschießen.
Interpretationen dieser Behauptung drängen sich auf, vor allem wenn man
bedenkt, daß Professor Brinkmanns Spurengutachten, in dem er die Gerinfügigkeit
der Blutanhaftungen im Laufinneren hervorhebt, auf den 14.7.93, also eine Woche
vorher, datiert.
Wollte man also nicht einen einzelnen Vermerk vom 21.7.93 als allein
verbindlich ansehen und alle Vermerke und Gutachten vom Untersuchungstag als
falsch, dann bleibt nur der Schluß, daß alle Spurenuntersuchungen
erst nach dem Beschuß der Waffe durchgeführt wurden.
Die Bundesregierung muß das ähnlich gesehen haben. In einem
Entwurf ihres Zwischenberichts zu den Ereignissen von Bad Kleinen schrieb sie
noch:
"Nach Abschluß der (serologischen, d.V.) Untersuchung wurde der
Beschuß der Waffe GRAMS' fortgesetzt."
In der veröffentlichten Fassung heißt es dann:
"Nach Abschluß der Untersuchung wurde der Beschuß der
Waffe des GRAMS vorgenommen."22
Kurz bevor das BKA am 2.7.93 eine weitere Beteiligung an den Ermittlungen
wegen eigener Befangenheit ablehnte, hat es noch schnell die Einschaltung des
Wissenschaftlichen Dienstes in Zürich in die Wege geleitet - eines
Gutachters also, der sich bundesrepublikanischen "Sicherheits"-Interessen
schon öfter gewogen gezeigt hat.
Seine Bedenken wegen der eigenen Befangenheit nimmt das BKA dann sehr
ernst:
Diese Informationspolitik wurde von der Schweriner Ermittlern denn auch
durchaus kritisch, allerdings anonym, gewürdigt: "Sie fragen uns, wir
liefern. Aber sagen sie uns erst die Ersatzteilnummer" zitierte Bild am
Sonntag einen Staatsanwalt. 23 "Wenig hilfreich sei die
Politik des BKA gewesen, nur stückweise und auf Anforderung mit
Informationen zu dienen, so einer der Beamten, der lieber nicht genannt werden
will." 24 "Ein Fahnder der Schweriner Landespolizei
beschreibt das Klima des Mißtrauens: Wir geben keine Informationen mehr an
das BKA oder die BAW. Wir verkehren mit denen nur noch über den
Staatsanwalt" 25
Der Schachzug des BKA,
sich am 2. Juli 93 wegen eigener "Befangenheit" aus den Ermittlungen
zurückzuziehen, ist leicht durchschaubar. Die wichtigsten Spuren waren
schon vernichtet. Nach Bekanntwerden der Zeugenaussage von Baron am 1. Juli
stand das BKA im Rampenlicht der öffentlichen Kritk. Mit der Abgabe der
Ermittlungen an das mecklenburg-vorpommernsche LKA war es für deren
Fortgang nicht mehr direkt verantwortlich.