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Volksvertreter


"Wenn das ein Widerspruch ist, dann ist eine der beiden Behauptungen falsch. Ich sage, jetzt ist die in dem heute erstatteten Bericht richtig. Das nehme ich jetzt einmal in Anspruch. Ich bitte um Widerspruch, falls das falsch sein sollte"

Bundesinnenminister Kanther in der 73. Sitzung des Innenausschusses des Deutschen Bundestages vom 18.8.1993



Bundesinnenminister Seiters hat es nur eine Woche lang ausgehalten, der politisch Verantwortliche für Bad Kleinen zu sein. Warum er nun genau zurückgetreten ist, für was er damit die Verantwortung übernehmen wollte - für den Selbstmord eines Terroristen? - er hat es nicht gesagt, und deswegen hat er es auch nicht getan.

Gesucht: ein "unabhängiger" Ermittler

Eine seiner letzten Amtshandlungen, bevor er sich aus dem Staub gemacht hat, war, einen vorgeblich "unabhängigen und neutralen" Ermittler, Christoph Grünig mit der Untersuchung der Vorgänge von Bad Kleinen zu beauftragen. Grünig ist als Präsident des Bundesverwaltungsamts jedoch keineswegs unabhängig vom Innenminister, sondern untersteht ihm. Außerdem war vor seinem jetzigen Amt mehr als zwei Jahrzehnte lang als Abteilungsleiter und Personalchef im Bundesamt für Verfassungsschutz tätig. Er ist daher weder unabhängig noch neutral. Grünig hat bei seinen Vernehmungen der GSG 9-Beamten angeblich keine Protokolle angefertigt. GSG 9 Nr. 1 und Nr. 4 hat er sogar nur angehört, da diese ja "nicht zu den unmittelbar am Einsatz beteiligten Beamten" gehörten, weil sie im Tunnel Birgit Hogefeld und Steinmetz sicherten. Diese Behauptung wird von Grünig bereits zu diesem Zeitpunkt als Tatsache unterstellt. Mit seinen Vernehmungen hat er den GSG 9-Beamten eine Möglichkeit gegeben, sich zusammen auf die staatsanwaltschaftlichen Vernehmungen vorzubereiten.
Das Ergebnis seiner Tätigkeit war ein kurzer Bericht vom 6. Juli 1993, in dem er in wenigen Sätzen feststellte, daß PK Newrzella von Wolfgang Grams getötet wurde, keiner der GSG 9-Beamten einen aufgesetzten Kopfschuß ausgeführt habe und eine Selbsttötung des Wolfgang Grams, möglicherweise durch einen Unfall, nicht auszuschließen sei. Unter kriminalistischen Kriterien war dieser Abschlußbericht ein schlechter Witz. Die Einsetzung von Grünig als neutralem Ermittler war lediglich ein fehlgeschlagener Versuch, der Öffentlichkeit zu vermitteln, man tue alles Erdenkliche, um die Wahrheit herauszufinden. Der Rekurs auf eine mögliche ungewollte Selbsttötung, die Unfalltheorie, spiegelt die Bedrängnis des Staatsapparats kurz nach Bad Kleinen wider. Es wurden die unmöglichsten Versionen konstruiert, um nur den Mordvorwurf vom Tisch zu kriegen.
Aber die Geschichte der "unabhängigen" staatlichen Ermittler ging weiter. Kurz nach Vorlage des Grünig-Berichts schlug der FDP-Abgeordnete Otto Solms die Einberufung einer unabhängigen Expertenkommission unter Vorsitz des ehemaligen Bundesaußenministers Hans-Dietrich Genscher (FDP) vor 1 - wohl wissend, aber nicht erwähnend, daß auch Genscher auf dem Gebiet der "inneren Sicherheit" kein unbeschriebenes Blatt ist. Er hat 1969 als Innenminister die Aufrüstung von Polizei und Geheimdiensten gegen die sich radikalisierende Linke betrieben.
Den malerischsten Vorschlag machte dann der CDU-Innenexperte Gerster. Er schlug in Abstimmung mit Bernrath (SPD) und Hirsch (FDP) vor, "eine Expertenkommision zur Aufarbeitung der Pannen in Bad Kleinen zu berufen, vergleichbar der nach der Schleyer-Ermordung 1977 eingerichteten Arbeitsgruppe unter Leitung des ehemaligen Innenministers H. Höcherl. Bernrath und Hirsch signalisierten Zustimmung. Als Chef-Ermittler schwebte der Runde der ehemalige BKA-Vize und spätere VS-Präsident G. Boeden vor, ein ausgewiesener Kenner des Polizeiapparats." 2

Druck auf die StA Schwerin

Aber bei solchen Vorschlägen ist es nicht geblieben. Man wollte und hat direkt und indirekt Einfluß genommen. So mußte die Staatsanwaltschaft Schwerin vor Gericht eingestehen, auf Intervention des Bundesinnenministeriums die Ermittlungsakten gegenüber den Anwälten der Eltern Grams zurückgehalten zu haben. Resultat war, daß die Anwälte erst nach Abschluß der Schweriner Ermittlungen Einblick in die Akten erhielten und so jeder Einflußmöglichkeit auf das Verfahren beraubt wurden.
Auch von anderer Seite machte man der Schweriner Staatsanwaltschaft Druck: Justizkreise in der mecklenburg-vorpommerschen Landeshauptstadt zeigten sich verärgert über "voreilige" Äußerungen des Sprechers der StA Schwerin, daß ein Selbstmord ausgeschloßen sei.
Der parlamentarische Geschäftsführer der CDU/CSU-Fraktion, Rüttgers, verlangte ein staatsanwaltschaftliches Ermittlungsverfahren wegen des Verdachts einer falschen Eidesstattlichen Erklärung, um "Klarheit über die Aussage des im Spiegel zitierten Zeugen zu bekommen."3

Vertrauen! in die GSG 9

Wo es lang geht zeigte die Bundesregierung mit ihrem reichlich ausgesprochenen "Vertrauen". Schon am 13. Juli sprach die Ministerrunde unter Leitung von Bundeskanzler Kohl den am Einsatz beteiligten Polizisten, den Angehörigen der GSG 9, dem BKA und der BAW ihr "volles Vertrauen" aus und dankte den Beamten.
Die FAZ kommentierte sehr offen: "Dank an die in Bad Kleinen eingesetzten Polizisten, Bekundung des vollen Vertrauens zu GSG 9, BKA und BAW. Kohl geht das Risiko ein, daß sich herausstellen könnte, einer der Beamten habe sich eines Verbrechens schuldig gemacht; er weiß, wem er täglich seinen Schutz verdankt."4
Nachdem dieser Vorstoß nicht ausreichte, um für Ruhe im Blätterwald zu sorgen, lies es sich der Kanzler nicht nehmen, der GSG 9 dieses Vertrauen auch persönlich zu auszusprechen:
"Ich bin gekommen, um Ihnen, den Beamten der GSG 9, persönlich zu sagen, daß ich - gemeinsam mit der großen Mehrheit unserer Bevölkerung - ganz besonderes Vertrauen habe in ihre Einsatzbereitschaft, Ihren Leistungswillen und Ihr gelebtes Verantwortungsbewußtsein." Abweichend von seinem Redetext, wo es noch geheißen hatte "die GSG 9 hat ihren Auftrag stets hervorragend und erfolgreich erfüllt", sagte Kohl den des Mordes Verdächtigen: "Die GSG 9 hat versucht, ihren Auftrag stets erfolgreich (...) zu beenden."
Der Kanzler versäumte auch nicht, die kritischen Stimmen zu Bad Kleinen der Herzlosigkeit gegenüber Polizeibeamten zu bezichtigen und nebenbei das Ergebnis der Ermittlungen vorwegzunehmen: "Es ist unerträglich und ein Skandal, mit welcher Gleichgültigkeit manche in den letzten Wochen über den gewaltsamen Tod von Michael Newrzella hinweggegangen sind." Stattdessen werde versucht, "aus seinem Mörder eine Art Märtyrer zu machen." 5
Die Eltern von Wolfgang Grams erstatteten daraufhin gegen Kohl Strafanzeige "wegen des Verdachts der Verunglimpfung des Andenkens Verstorbener und des Verdachts der üblen Nachrede". Schließlich war zu diesem Zeitpunkt noch in keiner Weise offiziell nachgewiesen, wer Newrzella erschossen hat. Dem Kanzler wurde eine Frist gesetzt, bis zu der er "bis zum Beweis des Gegenteils" seine Behauptung widerrufen sollte, Wolfgang Grams sei ein Mörder. Sinnigerweise veröffentlichte die BAW einen Tag vor Ablauf dieser Frist Teilergebnisse der Züricher Gutachter, wonach Newrzella aus der Waffe von Wolfgang Grams erschossen worden sei und ersparte dem Kanzler den peinlichen Widerruf.
Während sich bezüglich der GSG 9 noch "Vertrauen" und Auflösungsforderungen gegenüberstanden und lautstark der Rücktritt diverser Politiker und Beamter gefordert wurde, herrschte über längerfristige Konsequenzen erstaunliche Einigkeit. "Die Sicherheitsbehörden haben bis zuletzt nebeneinanderher gearbeitet. Es fehlt jede Koordination durch einen Staatssekretär. Kanther muß die Zügel in die Hand nehmen." forderte Baum von der FDP. 6 Gerster von der CDU hielt eine neue Kompetenzenverteilung zwischen Bundesbehörden als Konsequenz aus der GSG 9-Affäre für möglich. Eine "völlige Umstrukturierung einer Gewaltenteilung" dürfe nicht zum Tabu erklärt werden. 7 Damit konnte nur ihre Abschaffung gemeint sein. Und die Opposition mischte munter mit. Kanzlerkandidat Scharping, SPD, witterte die Chance zur innenpolitischen Profilierung und forderte, die "Zentralstellenbefugnis" des BKA neu zu regeln, um den Kampf gegen den Terror weiter zu verbessern. 8 Sein "Genosse" Benrath, Vorsitzender des Innenausschusses des Bundestags, forderte eine "ständige Einsatzgruppe auf Führungsebene mit festen Kommunikationsstrukturen", an der Entscheidungsträger von Bund und Ländern beteiligt sein müßten. 9

"Das nächste Mal klappt's besser"

Ein so gestählter Sicherheitsapparat hat vor allem ein Ziel: das nächste Bad Kleinen wieder in aller Ruhe durchziehen zu können - ohne Widersprüche, ohne lästige Fragen, ohne Aufregung - einfach "professionell". Und darin wissen sich die oben Zitierten mit dem im Amt verbliebenen BKA-Präsidenten Zachert ebenso einig wie mit dem zurückgetretenen Innenminister Seiters, dem geschaßten Generalbundesanwalt von Stahl, den versetzten BKA-Beamten Köhler und Hofmeyer und allen anderen "Medien-Opfern" von Bad Kleinen.




  1. Frankfurter Rundschau, 9.7.93
  2. Stern, 15.7.93
  3. Wiesbadener Kurier, 27.7.93
  4. Frankfurter Allgemeine Zeitung für Deutschland (FAZ), 14.7.93
  5. alle Zitate von Kohl vor der GSG 9: Wiesbadener Tagblatt, 23.7.93
  6. Bild am Sonntag, 11.7.93
  7. Frankfurter Rundschau, 13.7.93
  8. Frankfurter Rundschau, 7.7.93
  9. Frankfurter Rundschau, 7.7.93