Der Schweriner
Leitende Oberstaatsanwalt Schwarz zeigt der Presse ein Modell des Bahnhofs Bad
Kleinen.(Foto: dpa)
Anfangs war bei der Staatsanwaltschaft Schwerin noch der
Wille zur Wahrheitsfindung spürbar. Anfang Juli 93 erklärte der
Sprecher der Staatsanwaltschaft: "Wir können ausscheiden, daß
Herr Grams sich selbst getötet hat." Man zog sogar Rückschlüsse
auf die Stammheimer "Selbstmorde" von 1977. Aber diese Courage muß
der Staatsanwaltschaft schnell ausgetrieben worden sein, denn schon bald
arbeitete sie umso gründlicher am Abschluß der Verdunkelung des
Mordes an Wolfgang Grams.
Unter Berücksichtigung aller uns zugänglichen Fakten müssen
wir davon ausgehen, daß es außer der Kioskverkäuferin Baron
noch andere zivile Zeugen für die Erschiessung von Wolfgang Grams gibt. Da
Baron aber als einzige auch zu dieser Beobachtung steht, ist sie natürlich
die wichtigste Zeugin. Entsprechend ausführlich haben sich Politiker und
Medien bemüht, sie als alkoholabhängige und von den Ereignissen
psychisch überforderte Phantastin hinzustellen, wurden Meldungen lanciert,
sie habe ihre Aussagen widerrufen. Die StA Schwerin hat bei ihrem Versuch, die
Kioskverkäuferin unglaubwürdig zu machen, viel Mühe gegeben. Ihre
Bemühungen schlagen aber auf sie selbst zurück.
Die Zeugin Baron befand sich beim Beobachten der Schießerei unter
massivem Streß. Sie dachte anfänglich, daß es sich vielleicht
um eine Entführung handelt und hielt die (allesamt zivil gekleideten)
Beamten von GSG 9 und BKA für Geiselnehmer oder ähnliches. Als nach
dem Schußwechsel Uniformierte mit Gesichtsmasken und Maschinenpistolen
auftauchten, packte sie die Angst und sie versteckte sich im Wandschrank ihres
Kiosks.
Schon dem Kioskpächter, der eine halbe Stunde später nach ihr
sieht, sagt sie: Da lag ein Mann in den Gleisen und dann haben zwei Personen auf
diese Person in den Gleisen geschossen. Es kam Feuer aus den Waffen. Wenig später
fragt sie einen BKA-Beamten, warum auf am Boden Liegende geschossen werde.
Trotz ihrer Aufregung, die natürlich auch die Wahrnehmung beeinträchtigen
kann und trotz öffentlicher Anfeindungen durch interessierte Politiker und
Beamte hat sie über sechs Wochen und fünf Vernehmungen im Kern immer
die gleiche Aussage gemacht. Sie hat Mündungsfeuer gesehen, dann eine
Person, die im Gleis lag und einen Mann, der dabei stand. Dann sah sie erneutes
Mündungsfeuer, dann einen weiteren Mann, der dazu kam; und schließlich
hörte sie ein Schußgeräusch, das sich von den Vorherigen
unterschied.1
Frau Baron ist nicht sehr wortgewandt. Auch fällt es ihr unter dem
Druck der Situation schwer, den Winkelzügen und Fangfragen der
Staatsanwaltschaft zu folgen. Das will ihr die Staatsanwaltschaft denn auch zum
Verhängnis werden lassen - und entlarvt sich in ihrer Spitzfindigkeit
selbst.
Baron spricht manchmal von der ersten und der zweiten Person, die zu
dem im Gleis Liegenden treten. Dann wieder nennt sie den als zweiten
Dazutretenden den
dritten Mann, weil sie den im Gleis Liegenden mitzählt. Die
Staatsanwaltschaft macht daraus dann einen vierten Mann - von dem Baron aber nie
gesprochen hat. Diesem angeblichen vierten Mann schreibt sie dann eine Äußerung
Barons über einen Mann zu, der weinrote Kleidung getragen habe. Weinrote
Kleidung wiederum - so die Staatsanwaltschaft - habe aber nur Wolfgang Grams
getragen. Damit unterstellt die Staatsanwaltschaft der Zeugin, daß sie
liegende mit stehenden Personen verwechsele. Zudem müßte sie selbst
wissen, daß ausweislich der asservierten Kleidung auch GSG 9 Nr. 3 ein
weinrotes Sweat-Shirt trug. Und schließlich hat auch Nr. 8 ein weinrotes
Sweat-Shirt getragen, es aber nie zur kriminaltechnischen Untersuchung
abgegeben. In diesem Zusammenahng stellt die StA Schwerin die abwegigie
Vermutung an, die Zeugin hätte mit der weinrot gekleideten Person
vielleicht einen Rettungssanitäter gemeint. Damit soll ihr unterstellt
werden, daß sie nicht realisieren könne, daß die Rettungssanitäter
grell orange gekleidet waren und in einem völlig anderen Kontext agiert
haben.
Aus der Aussage Barons, daß sie den im Gleis stehenden Mann früher
als den im Gleis liegenden Wolfgang Grams wahrgenommen habe, erdichtet die
Staatsanwaltschaft den Widerspruch, daß nicht erkennbar sei, wie Wolfgang
Grams zu einem auf dem Gleis um sich schießenden Polizisten gelangt sein könne.
Einen weiteren Strick will sie der Zeugin aus ihrer Genauigkeit drehen.
Baron differenziert durchgehend zwischen der Wahrnehmung von Knallgeräuschen
und von Mündungsfeuer. Nur wenn sie Mündungsfeuer gesehen hat, spricht
sie mit Bestimmtheit von einem Schuß. Anernfalls sagt sie zum Beispiel,
sie wisse nicht mehr, ob ein Schuß gefallen sei. Die StA Schwerin
konstruiert daraus Unsicherheit und bemängelt einen nicht
nachvollziehbaren Erinnerungsverlust.
Aber: "Zu den Grundsätzen der Verwertbarkeit einer Zeugenaussage
zählt zuvorderst, daß der Zeuge zwischen eigenen Wahrnehmungen und
Schlußfolgerungen unterscheidet. Fehler in Zeugenaussagen treten gerade
dann auf, wenn eigene Wahrnehmungen reflektiert und Wahrnehmungs- oder
Erinnerungslücken "logisch" ausgefüllt werden bzw.
vermeintliche Widersprüche im Nachhinein abgeleitet werden.
Wenn für die Zeugin Baron ein beobachtetes Mündungsfeuer ein
sicheres Indiz ist, daß an dieser Stelle geschossen wurde, scheint es
durchaus plausibel, daß sie die bloße Wahrnehmung eines Knalles ohne
Mündungsfeuer als nicht ausreichend betrachtet, um sagen zu können,
ob diese Person geschossen hat oder nicht. Es wird ein recht hoher Anspruch an
die sprachliche Differenziertheit der Zeugin gestellt, wenn die Äußerung
"ich weiß nicht mehr" nicht als mögliches Synonym für "ich
weiß nicht genau" betrachtet wird.
Die Bewertung der Aussagen der Zeugin Baron durch die StA Schwerin ist ein
Spiegel ihrer Voreingenommenheit. Die Aussagen werden uminterpretiert und verkürzt,
um sie schließlich als unglaubhaft abzutun. Angesichts der Tatsache, daß
es sich bei Frau Baron um die derzeit einzige bekannte Tatzeugin handelt, gibt
es dafür nur eine Erklärung: daß sie systematisch demontiert
werden sollte."2
Die Zeugin Baron ist nicht das einzige Beispiel für den eigenwilligen
Umgang der StA Schwerin mit Zeugenaussagen.
Ein Ehepaar, das den Zugriff aus einem Zug auf Bahnsteig 1/2 beobachtet
hat, wird danach zweimal von Vermummten mit Maschinenpistolen im Anschlag
kontrolliert. Vernommen wird dieses Paar aber nur, weil es sich selbst bei der
Staatsanwaltshaft gemeldet hat.
Der Mann hört zuerst einzelne Schüsse in schneller Folge, dann
Dauerfeuer, dann eine kurze Pause von höchstens drei Sekunden und dann noch
einmal zwei oder drei einzelne Schüsse in schneller Folge. Dann sieht er
eine im Gleisbett liegende Person, neben der eine zweite Person hockt und den
Liegenden mit einer Pistole in Schach hält. Ob er ihn berührt oder
nicht, kann der Zeuge von seinem Standpunkt aus wegen der perspektivischen
Verzerrung nicht sehen.
Seine Frau sieht ebenfalls einen Mann, der Wolfgang Grams in Hochstellung,
eine Pistole im Anschlag, auf Kopf oder Oberkörper gerichtet. Als dieser
Mann wieder aufsteht, hat er in einer Hand einen blinkenden Gegnstand, von dem
sie vermutet, daß es eine Pistole war. Die einzige bekannte blinkende
Pistole in Bad Kleinen war die Czeska von Wolfgang Grams. Die Pistole P 6 und P
7 von GSG 9 und BKA sind schwarz.
Die Beobachtungen beider Zeugen bestätigen also in wesentlichen
Punkten die Aussagen der Zeugin Baron.
Sie werden nicht noch einmal vernommen, sondern ihre Ausage wird ganz im
Gegenteil zur Untermauerung der Schweriner Behauptung herangezogen, daß
der erste Beamt erst eine Minute nach dem Sturz Wolfgang Grams' zu ihm in's
Gleis getreten sei.
Ein anderer Zeuge dagegen wird so lange vernommen, bis seine Aussage
paßt. Er stand auf Bahnsteig 3/4 cirka 60 Meter vom Tatort entfernt.
In seiner ersten Vernehmung wenige Tage nach Bad Kleinen sagt er aus, daß
unmittelbar nach dem Sturz Wolfgang Grams' ein Verfolger in's Gleis
nachgesprungen sei und eine Waffe in Kopfhöhe von Wolfgang Grams' gehalten
habe. in einer zweiten Vernehmung am gleichen Tag nimmt er seine Aussage an
einem wesentlichen Punkt zurück: Der Verfolger sei erst 20 Sekunden später
in's Gleis gesprungen, er habe seine Waffe in Richtung des Kopfes gehalten. In
seiner vierten Vernehmung, nunmehr sechs Wochen nach Bad Kleinen, sagt er aus,
der Verfolger sei erst nach 30 Sekunden in's Gleis gesprungen.
Diese Aussage paßt nun endlich in's Konzept der Schweriner Staatsanwälte
und wird von ihnen als Beleg der Selbstmordbehauptung verwandt. Die
voangegangenen Aussagen finden im Abschlußvermerk der StA Schwerin keine
Erwähnung mehr.
"Wer sich acht Wochen nach dem Geschehen in Bad Kleinen umhört, stößt
auf eine geheime Regel: Je weiter einer weg war vom Bahnhof, desto spannender
ist die Schießerei und alles, was danach kam. Wer näher dran war und
alles hätte sehen können, wird dagegen schweigsam.
Stellwerksmeister B. zum Beispiel. Der Reichsbahner saß am Tag der
Schießerei im Turm seines Stellwerks, 150 Meter vom Gleis, auf dem Grams
starb, mit freiem Blick von oben auf den Bahnhof. Bei ihm war ein Lehrling und
immer ein BKA-Beamter. Gesehen haben alle drei nichts. "Ich mußte ja
den Zugverkehr und den Auszubildenden im Auge behalten," bedauert der
Stellwerksmeister.
Nur geraunt wird unter den Reichsbahnern am Bahnhof, daß es viel
mehr Augenzeugen der Grams-Erschießung geben müßte. "Denken
Sie, das kommt raus?" fragt eine Beamtin, und ihr Tonfall verrät die
Antwort. In allem Schweigen und Raunen fällt jedoch auf, daß sich
niemand distanziert von der einzigen, die nicht schwieg, der Kioskverkäuferin
Johanna B. "Eine vernünftige Frau sei sie, meint der Apotheker und Bürgervorsteher
Christian Poppe. "Und sie war ja wohl von allen Unbeteiligten am nächsten
dran."3
Bei einigen Zeugen ist es offensichtlich, daß sie mehr gesehen
haben, als sie sagen wollen.
Einer der im Stellwerk tätigen Bahnbediensteten sagt aus, daß
er zum fraglichen Zeitpunkt nichts sagen könne, da er erst nach Ende der
Schießerei an das Fenster gekommen sei. Dazu, von wo er an das Fenster
getreten sei und was er während der Schießerei gemacht habe, macht er
in den verschiedenen Vernehmungen unterschiedliche Angaben. Einmal sagt er aus,
er sei an seinem Tisch gesessen, als die Schießerei anfing. Er sei dann
gleich aufgestanden und zum Fenster gegangen, aber als er ans Fenster kam wurde
schon nicht mehr geschossen. Bei seiner nächsten Vernehmung gibt er an, er
hätte am Kontrollpult zwei Meter vom Fenster entfernt gestanden, als die
Schießerei losging. Bei der dritten Vernehmung sagt er dann, er hätte
gerade telefoniert.
Die Woche zitiert einen der drei Reichsbahner, die am 27.6.93 im
Stellwerk Dienst hatten: "Wenn Sie von da oben runterschauen wissen Sie, ob
man das hätte sehen können oder nicht. (...) Hat etwa der BKA-Beamte,
der auf dem Turm war, zum Kopfschuß etwas ausgesagt? Nein? Na sehen Sie."4
Ein Zeuge, der noch näher am Geschehen war als die Kioskverkäuferin,
nämlich am Ende des zweiten Treppenaufgangs zu Bahnsteig 3/4, konzentriert
sich im Gegensatz zu einigen Anderen nicht auf den zusammenbrechenden GSG
9-Beamten Newrzella, sondern verfolgt das Geschehen weiterbis zu dem Moment, als
Wolfgang Grams fällt und mehrere Beamte in's Gleis nachsetzen. In diesem
entscheidenden Augenblick will er dann plötzlich seinen Blick auf eine
Personengruppe auf dem Bahnsteig gerichtet haben, die sich in einiger Entfernung
vor den Schüssen in Sicherheit brachte. Die Staatsanwaltschaft hakt nicht
nach.
Ein Zeuge, der in unmittelbarer Nähe wohnt, sagt aus, daß er
und seine Frau schon vor der Schießerei bemerkt hatten, daß sich
Ungewöhnliches auf dem Bahnhof tut. Während der Schießerei habe
seine Frau ihn an's Fenster gerufen. Als er hinaus geschaut habe, habe Wolfgang
Grams schon im Gleis gelegen. Seine Frau gibt in ihrer Vernehmung an, ihr Mann
habe die ganze Zeit am Fenster gestanden.
Die Kioskverkäuferin war also nicht die einzige zivile Zeugin
des Mordes an Wolfgang Grams.
In dem Kapitel zur GSG 9 wurde schon viel über die Widersprüche
und offensichtlichen Lügen in ihren Aussage gesagt. Die StA Schwerin hat
sie dafür in ihrer Abschlußvermerkung hart kritisiert. Der geneigte
Leser/die geneigte Leserin muß sich angesichts der Heftigkeit der
staatsanwaltschaftlichen Vorwürfe gefragt haben, warum sie die
beschuldigten Beamten nicht schon längst in U-Haft genommen hat. Nun, sie
kaschiert damit nur, daß sie selbst nicht anders vorgegangen ist.
Schwerin wollte Selbstmord beweisen. Dagegen stand gewichtig die
Zeugenaussage der Kioskverkäuferin und auch der Spiegel-Zeuge. Sie
mußten also demontiert werden. Ein wichtiger Teil dieser Demontage war, daß
niemand den Kopfschuß gehört haben soll. Aber auch einen
Selbstmord-Schuß hätte man hören müssen. Also muß er
gefallen sein, als die GSG 9-Beamten auch noch schossen. Um diese Version
wasserdicht zu machen, war den Schweriner Staatsanwälten auch wichtig, daß
nicht sofort ein Verfolger nachsetzt, der diesen "Selbstmordschuß"
vielleicht doch noch selbst abgegeben haben könnte. Der Beschuldigte GSG
Nr. 6 behauptet aber in allen seinen Vernehmungen, daß er sofort
nachgesetzt sei und die übrigen GSG 9-Beamten machen, falls sie sich über
diesen Zeitpunkt überhaupt äußern, die gleichen Angaben. Was
bleibt der Staatsanwaltschaft also anderes übrig, als hier ihren
Beschuldigten zu demontieren.
Sie tut es mit der Unterstellung, GSG 9 Nr. 6 hätte gelogen, weil er
sich nämlich geschämt habe ob des mißlungenen Einsatzes und
deshalb schulbuchmäßiges Verhalten behaupten wollen.
Für die teilweise lückenhaften, unrichtigen und mehrfach geänderten
Angaben, insbesondere der Beschuldigten, aber auch der Zeugen der GSG 9 (Nr.
1-7) kommen verschiedene Erklärungsansätze in Betracht. Möglicherweise
haben sie teilweise versucht, ein etwaiges fehlerhaftes Verhalten während
des Zugriffs zunächst zu beschönigen, indem sie das Nachsetzen so
geschildert haben, wie es nach Angaben des Beschuldigten GSG 9 Nr. 6 und des
Zeugen GSG 9 Nr. 7 der Ausbildung entspricht.
Nur noch ein weiteres Beispiel soll hier dokumentiert werden:
GSG 9 Nr. 6 gab in seiner Vernehmung an, Wolfgang Grams sei nach hinten
gekippt und auf die Gleise gefallen. In seinen ersten Aussagen fährt er an
dieser Stelle fort: er sei sofort nachgesetzt. In der richterlichen Vernehmung
wird jedoch an diesem Punkt nachgehakt. Ihm wird die Frage gestellt, ob Grams
aus seinem Blickfeld verschwunden war. Und jetzt verheddert er sich. Er meint
die Zielperson wäre für ihn einfach weg gewesen. Er glaubte, daß
Wolfgang Grams einen Magazinwechsel durchführe und er diese Gelegenheit
nutzen wollte, ihn zu erreichen. Er will sich aus der Hocke aufgerichtet haben
und aufrecht auf direktem Weg zu dem Punkt zugelaufen sein, an dem er die
Zielperson hat abkippen sehen. Als GSG Nr. 6 glaubte, in das Sichtfeld von
Wolfgang Grams zu kommen, streckte er sich auf die Zehenspitzen. Erst an der
Bahnsteigkante will er ihn leblos auf den Gleisen liegend gesehen haben.
Nochmal: der Bahnsteig liegt ca. 20 cm oberhalb des Gleisbetts.
Die Staatsanwaltschaft Schwerin vermerkt dazu, daß die Begründung
des Beschuldigten GSG 9 Nr. 6 sich nach einer Inaugenscheinnahme des
Ereignisortes als gänzlich abwegig und reines Phantasieprodukt gezeigt
habe. Es sei unerklärlich, daß er Grams während seiner Annäherung
nicht im Blickfeld gehabt haben will. Schon ein Beobachter, dessen Augen sich
nur wenige Zentimeter über Bahnsteigniveau befänden, hätte sowohl
vom Standort des Beschuldigten GSG 9 Nr. 6 als auch von der Treppe aus ohne
weiteres Grams auf dem Gleis liegen sehen. Seine Schilderung der Annäherung
an die Stelle, an der Grams "verschwunden" gewesen sei und die
Behauptung, Grams sei nach seinem Sturz außer Sichtweite gewesen, habe
sich als erdichtet herausgestellt.
GSG 9 Nr. 6 hat sich diese abenteuerliche Geschichte aus-schließlich
auf die konkrete Nachfrage der Ermittlungsbehörden, ob Wolfgang Grams
nachdem er einfach weg war, aus seinem Blickfeld verschwunden gewesen sei,
ausgedacht. Allerdings ist GSG Nr. 6 der einzige, bei dem an dieser Stelle
nachgefragt wird. Der SET-Führer GSG Nr. 3 hat eine ähnliche
Beschreibung dieser Situation vorgetragen. Er sah Wolfgang Grams nicht von der
Bahnsteigkante kippen, weil er sich in diesem Moment auf die Treppe an die Mauer
geworfen haben will, um einen Magazinwechsel durchzuführen. Drei Sekunden
später schaute er wieder nach oben und dort war nun angeblich keiner mehr
zu sehen. Wider besseres Wissen akzeptiert die Staatsanwaltschaft seine Aussage.
Bei allen anderen GSG 9-Beamten fragt sie erst gar nicht genauer nach. Der
kollektive Black-Out zu den Sekunden, in denen sich Wolfgang Grams angeblich
umgebracht haben soll, war augenscheinlich nicht Gegenstand der Ermittlungen.
Eine Unterlassung der StA Schwerin ist ganz offensichtlich: sie hätte alle am Einsatz beteiligten GSG 9- und BKA-Beamten vernehmen müssen. So hätten sich vielleicht Hinweise ergeben, warum Bahnsteig 3/4 angeblich völlig unbewacht war. Daß sie das nicht getan hat, ist mindestens unverständlich. Auch zivile Zeugen und Rettungspersonal blieben von ihr teilweise unberücksichtigt.
Den schon Genannten soll hier nur noch einer hinzugefügt werden: ein
Unterabschnittsleiter des BKA. Seine Aussage hätte interessant werden können,
denn Beamte seines Ranges haben bei den Vernehmungen noch die meisten Aussagen
gemacht. Der Zeuge ist zu seinem ersten Vernehmungstermin Mitte Juli nicht
erschienen. Das BKA teilte der Staatsanwaltschaft mit, er befinde sich auf einem
Auslandslehrgang. Auch einer weiteren Ladung kam er nicht an. Die Begründung
des BKA diesmal: er befinde sich bis Ende Oktober, also drei Monate lang, in
Urlaub. Die StA Schwerin hat es dann aufgegeben, obwohl bis zur Einstellung
ihrer Ermittlungen Mitte Januar noch genug Zeit für eine Vernehmung gewesen
wäre. Das ist bedauerlich, denn das offensichtliche Bemühen das BKA,
ihn nicht vernehmen zu lassen, macht doch neugierig.
Der Verdacht, daß
die Staatsanwaltschaft die Zeugin Baron demontieren wollte, bestätigt sich
durch die Art und Weise, wie sie sich aufdrängende Fragen aus den
Vernehmungen der Zeugin unter den Teppich kehrte.
Aus den Aussagen der Zeugin Baron ergab sich schon Anfang Juli 93 daß sie zumindest von einem der Beamten, die auf den liegenden Wolfgang Grams geschossen haben, das Gesicht gesehen hatte. Eine Gegenüberstellung oder wenigstens eine Lichtbildvorlage wäre daraufhin ein zwingender Ermittlungsschritt gewesen. Sie wurde außerdem von den Anwälten der Eltern Grams telefonisch und schriftlich eingefordert. Nach der Intervention der Anwälte konnte die Staatsanwaltschaft diesen Punkt nicht stillschweigend übergehen, sondern mußte Stellung beziehen. Sie tat dies indem sie Anfang August 93 beschied, aus den Aussagen der GSG 9 ergebe sich sicher, welche Beamte bei Wolfgang Grams gestanden haben, eine Gegenüberstellung sei somit nicht erforderlich. Sowohl angesichts der offenkundigen Widersprüche in den Aussagen der GSG 9-Beamten als auch des frühen Stadiums der Ermittlungen war diese Entscheidung parteiisch. Auch als Baron kurze Zeit nach dieser ablehnenden Verfügung der StA Schwerin in einer weiteren Vernehmung aussagte, daß sie möglicherweise das Gesicht einer Person wiedererkennen würde, beharrte die Staatsanwaltschaft auf ihrer Position.
Die Zeugin Baron hat zur Größe des von ihr gesehenen Mündungsfeuers die Angabe gemacht, die Mündungsflammen seien bei den stehend auf Wolfgang Grams Schießenden ca. 20 cm lang gewesen. Die StA Schwerin ließ daraufhin vom LKA Mecklenburg-Vorpommern untersuchen, ob bei den im Schußwechsel verwendeten Waffen, also der P 7 der GSG 9 und der Czeska 75 von Wolfgang Grams, Mündungsfeuer sichtbar sei. Das LKA hat das unter Laborbedingungen untersucht und kam zu dem die Zeugin Baron bestätigenden Ergebnis, daß die P 7 der GSG 9 einen etwa 15 cm langen Mündungsblitz erzeugt, die Czeska 75 dagegen einen anders geformten und wesentlich kleineren Mündungsblitz. Das LKA regte an, dieses Ergebnis unter den tatsächlichen Beleuchtungsverhältnissen auf dem Bahnhof zu überprüfen, da die Laborergebnisse nur "hinweisenden Charakter" hätten.5 Die StA Schwerin ging dieser Anregung des LKA nicht nach, sondern unterlies die Verifizierung der Labor-Ergebnisse. In ihrem Abschlußvermerk verschweigt sie diesen Vorgang ganz.
"Nachdem gegen GSG 9 Nr. 6 und Nr. 8 am 10.08.1993 Ermittlungsverfahren
wegen des Verdachtes der vorsätzlichen Tötung von Wolfgang Grams
eingeleitet worden waren, machten diese ab diesem Zeitpunkt von ihrem
Aussageverweigerungsrecht Gebrauch. Auf Antrag ihrer Verteidiger wurde ihnen am
17.09.1993 umfassend Akteneinsicht gewährt - also lange vor Abschluß
der Ermittlungen am 13.01.1994 und noch während die Ermittlungshandlungen
und Vernehmungen von Zeugen fortgesetzt wurden.
Dagegen wurden von der
Staatsanwaltschaft sämtliche Anträge der Anwälte der
nebenklageberechtigten Eltern Grams auf Gewährung der Akteneinsicht
abgelehnt, bis das Landgericht Schwerin Ende Dezember 1993 dem ein Ende machte
und die Gewährung der Akteneinsicht zum 14.1.94 anordnete. Das
Ermittlungsverfahren gegen die Beschuldigten wurde von der Staatsanwaltschaft
daraufhin mit Verfügung vom 13.01.1994 eingestellt. In dem Antragsverfahren
auf gerichtliche Entscheidung über die Gewährung der Akteneinsicht
hatte die Staatsanwaltschaft gegenüber dem Gericht eingeräumt, die
Akten gegenüber den Vertretern der nebenklagebrechtigten Verletzten auf
Intervention des Bundesinnenministeriums zurückgehalten zu haben.
Mit
der Versagung der Akteneinsicht hat die Staatsanwaltschaft den Geschädigten
und ihren Anwälten für die Dauer des Ermittlungsverfahrens die Möglichkeit
genommen, dieses gedanklich zu begleiten und ihrerseits Anregungen zu geben, die
wahrscheinlich geholfen hätten, eine Reihe von Stümpereien und
Unterlassungen zu verhindern.
Die unterschiedliche Handhabung der Gewährung
der Akteneinsicht gegenüber Beschuldigten und Geschädigten ist evident
und ließ das gefundene Ermittlungsergebnis erwarten." 6
Die Staatsanwaltschaft Schwerin stellte das Ermittlungsverfahren gegen die zwei
beschuldigten GSG 9-Beamte ein, weil angeblich "keine Anhaltspunkte
bestehen, daß Grams von einem Polizeibeamten rechtswidrig getötet
oder verletzt worden ist". Der leitende Oberstaatsanwalt Schwarz auf der
Pressekonferenz: "Es ist wirklich nichts mehr drin in der Sache - glauben
Sie's oder glauben Sie's nicht."
Der Wille der StA Schwerin, einen
Selbstmord zu beweisen ist unübersehbar. Die Staatsanwaltschaft verfolgt
dazu zwei Strategien. Zum einen geht sie mit den Zeugenaussagen sehr eigenwillig
um. Sie demontiert echte Zeugen wie die Zeugin Baron, indem sie Widersprüche
in ihren Aussagen konstruiert und daraus eine generelle Unglaubwürdigkeit
ableitet. Andere Zeugen vernimmt sie so lange, bis das von ihr gewünschte
Ergebnis im Protokoll steht. An entscheidenden Punkten hakt sie in den
Vernehmungen oft nicht nach. Schließlich demontiert sie sogar belastende
Aussagen von GSG 9-Zeugen, um ihre Theorie abzusichern.
Generell baut sie
auf zwei Black-outs: den von ihr behaupteten der Zeugin Baron und den von der
GSG 9 behaupteten zu dem Moment, als Wolfgang Grams sich selbst erschossen haben
soll.
Zweitens demontiert sie echte Zeugen mit falschen Gutachten. Sie
stützt sich dabei vor allem auf den Selbstmord- "Beweis" des Münsteraner
Gutachters Professor Brinkmann, aber auch auf andere Gutachten, die inzwischen
widerlegt sind. Hinweise auf mögliche Untersuchungen, die die
Selbstmordbehauptung gefährden könnten, handelt sie oberflächlich
ab oder übergeht sie ganz.
Daß sie in ihrer Arbeit nicht
unabhängig war, hat sie an einem Punkt sogar selbst zugegeben: den Anwälten
der Eltern Grams hat sie auf Intervention des Bundesinnenministeriums die
Akteneinsicht bis zur Einstellung ihrer Ermittlungen verwehrt.