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Wed Dec  4 17:38:02 1996
 

Staatsanwaltschaft Schwerin



Der Schweriner Leitende Oberstaatsanwalt Schwarz zeigt der Presse ein Modell des Bahnhofs Bad Kleinen.(Foto: dpa)






Anfangs war bei der Staatsanwaltschaft Schwerin noch der Wille zur Wahrheitsfindung spürbar. Anfang Juli 93 erklärte der Sprecher der Staatsanwaltschaft: "Wir können ausscheiden, daß Herr Grams sich selbst getötet hat." Man zog sogar Rückschlüsse auf die Stammheimer "Selbstmorde" von 1977. Aber diese Courage muß der Staatsanwaltschaft schnell ausgetrieben worden sein, denn schon bald arbeitete sie umso gründlicher am Abschluß der Verdunkelung des Mordes an Wolfgang Grams.

Demontage der Kioskverkäuferin Baron

Unter Berücksichtigung aller uns zugänglichen Fakten müssen wir davon ausgehen, daß es außer der Kioskverkäuferin Baron noch andere zivile Zeugen für die Erschiessung von Wolfgang Grams gibt. Da Baron aber als einzige auch zu dieser Beobachtung steht, ist sie natürlich die wichtigste Zeugin. Entsprechend ausführlich haben sich Politiker und Medien bemüht, sie als alkoholabhängige und von den Ereignissen psychisch überforderte Phantastin hinzustellen, wurden Meldungen lanciert, sie habe ihre Aussagen widerrufen. Die StA Schwerin hat bei ihrem Versuch, die Kioskverkäuferin unglaubwürdig zu machen, viel Mühe gegeben. Ihre Bemühungen schlagen aber auf sie selbst zurück.
Die Zeugin Baron befand sich beim Beobachten der Schießerei unter massivem Streß. Sie dachte anfänglich, daß es sich vielleicht um eine Entführung handelt und hielt die (allesamt zivil gekleideten) Beamten von GSG 9 und BKA für Geiselnehmer oder ähnliches. Als nach dem Schußwechsel Uniformierte mit Gesichtsmasken und Maschinenpistolen auftauchten, packte sie die Angst und sie versteckte sich im Wandschrank ihres Kiosks.
Schon dem Kioskpächter, der eine halbe Stunde später nach ihr sieht, sagt sie: Da lag ein Mann in den Gleisen und dann haben zwei Personen auf diese Person in den Gleisen geschossen. Es kam Feuer aus den Waffen. Wenig später fragt sie einen BKA-Beamten, warum auf am Boden Liegende geschossen werde.
Trotz ihrer Aufregung, die natürlich auch die Wahrnehmung beeinträchtigen kann und trotz öffentlicher Anfeindungen durch interessierte Politiker und Beamte hat sie über sechs Wochen und fünf Vernehmungen im Kern immer die gleiche Aussage gemacht. Sie hat Mündungsfeuer gesehen, dann eine Person, die im Gleis lag und einen Mann, der dabei stand. Dann sah sie erneutes Mündungsfeuer, dann einen weiteren Mann, der dazu kam; und schließlich hörte sie ein Schußgeräusch, das sich von den Vorherigen unterschied.1
Frau Baron ist nicht sehr wortgewandt. Auch fällt es ihr unter dem Druck der Situation schwer, den Winkelzügen und Fangfragen der Staatsanwaltschaft zu folgen. Das will ihr die Staatsanwaltschaft denn auch zum Verhängnis werden lassen - und entlarvt sich in ihrer Spitzfindigkeit selbst.

Baron spricht manchmal von der ersten und der zweiten Person, die zu dem im Gleis Liegenden treten. Dann wieder nennt sie den als zweiten Dazutretenden den dritten Mann, weil sie den im Gleis Liegenden mitzählt. Die Staatsanwaltschaft macht daraus dann einen vierten Mann - von dem Baron aber nie gesprochen hat. Diesem angeblichen vierten Mann schreibt sie dann eine Äußerung Barons über einen Mann zu, der weinrote Kleidung getragen habe. Weinrote Kleidung wiederum - so die Staatsanwaltschaft - habe aber nur Wolfgang Grams getragen. Damit unterstellt die Staatsanwaltschaft der Zeugin, daß sie liegende mit stehenden Personen verwechsele. Zudem müßte sie selbst wissen, daß ausweislich der asservierten Kleidung auch GSG 9 Nr. 3 ein weinrotes Sweat-Shirt trug. Und schließlich hat auch Nr. 8 ein weinrotes Sweat-Shirt getragen, es aber nie zur kriminaltechnischen Untersuchung abgegeben. In diesem Zusammenahng stellt die StA Schwerin die abwegigie Vermutung an, die Zeugin hätte mit der weinrot gekleideten Person vielleicht einen Rettungssanitäter gemeint. Damit soll ihr unterstellt werden, daß sie nicht realisieren könne, daß die Rettungssanitäter grell orange gekleidet waren und in einem völlig anderen Kontext agiert haben.
Aus der Aussage Barons, daß sie den im Gleis stehenden Mann früher als den im Gleis liegenden Wolfgang Grams wahrgenommen habe, erdichtet die Staatsanwaltschaft den Widerspruch, daß nicht erkennbar sei, wie Wolfgang Grams zu einem auf dem Gleis um sich schießenden Polizisten gelangt sein könne.
Einen weiteren Strick will sie der Zeugin aus ihrer Genauigkeit drehen. Baron differenziert durchgehend zwischen der Wahrnehmung von Knallgeräuschen und von Mündungsfeuer. Nur wenn sie Mündungsfeuer gesehen hat, spricht sie mit Bestimmtheit von einem Schuß. Anernfalls sagt sie zum Beispiel, sie wisse nicht mehr, ob ein Schuß gefallen sei. Die StA Schwerin konstruiert daraus Unsicherheit und bemängelt einen nicht nachvollziehbaren Erinnerungsverlust.
Aber: "Zu den Grundsätzen der Verwertbarkeit einer Zeugenaussage zählt zuvorderst, daß der Zeuge zwischen eigenen Wahrnehmungen und Schlußfolgerungen unterscheidet. Fehler in Zeugenaussagen treten gerade dann auf, wenn eigene Wahrnehmungen reflektiert und Wahrnehmungs- oder Erinnerungslücken "logisch" ausgefüllt werden bzw. vermeintliche Widersprüche im Nachhinein abgeleitet werden.
Wenn für die Zeugin Baron ein beobachtetes Mündungsfeuer ein sicheres Indiz ist, daß an dieser Stelle geschossen wurde, scheint es durchaus plausibel, daß sie die bloße Wahrnehmung eines Knalles ohne Mündungsfeuer als nicht ausreichend betrachtet, um sagen zu können, ob diese Person geschossen hat oder nicht. Es wird ein recht hoher Anspruch an die sprachliche Differenziertheit der Zeugin gestellt, wenn die Äußerung "ich weiß nicht mehr" nicht als mögliches Synonym für "ich weiß nicht genau" betrachtet wird.
Die Bewertung der Aussagen der Zeugin Baron durch die StA Schwerin ist ein Spiegel ihrer Voreingenommenheit. Die Aussagen werden uminterpretiert und verkürzt, um sie schließlich als unglaubhaft abzutun. Angesichts der Tatsache, daß es sich bei Frau Baron um die derzeit einzige bekannte Tatzeugin handelt, gibt es dafür nur eine Erklärung: daß sie systematisch demontiert werden sollte."2

Andere zivile Zeugen

Die Zeugin Baron ist nicht das einzige Beispiel für den eigenwilligen Umgang der StA Schwerin mit Zeugenaussagen.
Ein Ehepaar, das den Zugriff aus einem Zug auf Bahnsteig 1/2 beobachtet hat, wird danach zweimal von Vermummten mit Maschinenpistolen im Anschlag kontrolliert. Vernommen wird dieses Paar aber nur, weil es sich selbst bei der Staatsanwaltshaft gemeldet hat.
Der Mann hört zuerst einzelne Schüsse in schneller Folge, dann Dauerfeuer, dann eine kurze Pause von höchstens drei Sekunden und dann noch einmal zwei oder drei einzelne Schüsse in schneller Folge. Dann sieht er eine im Gleisbett liegende Person, neben der eine zweite Person hockt und den Liegenden mit einer Pistole in Schach hält. Ob er ihn berührt oder nicht, kann der Zeuge von seinem Standpunkt aus wegen der perspektivischen Verzerrung nicht sehen.
Seine Frau sieht ebenfalls einen Mann, der Wolfgang Grams in Hochstellung, eine Pistole im Anschlag, auf Kopf oder Oberkörper gerichtet. Als dieser Mann wieder aufsteht, hat er in einer Hand einen blinkenden Gegnstand, von dem sie vermutet, daß es eine Pistole war. Die einzige bekannte blinkende Pistole in Bad Kleinen war die Czeska von Wolfgang Grams. Die Pistole P 6 und P 7 von GSG 9 und BKA sind schwarz.
Die Beobachtungen beider Zeugen bestätigen also in wesentlichen Punkten die Aussagen der Zeugin Baron.
Sie werden nicht noch einmal vernommen, sondern ihre Ausage wird ganz im Gegenteil zur Untermauerung der Schweriner Behauptung herangezogen, daß der erste Beamt erst eine Minute nach dem Sturz Wolfgang Grams' zu ihm in's Gleis getreten sei.

Ein anderer Zeuge dagegen wird so lange vernommen, bis seine Aussage paßt. Er stand auf Bahnsteig 3/4 cirka 60 Meter vom Tatort entfernt.
In seiner ersten Vernehmung wenige Tage nach Bad Kleinen sagt er aus, daß unmittelbar nach dem Sturz Wolfgang Grams' ein Verfolger in's Gleis nachgesprungen sei und eine Waffe in Kopfhöhe von Wolfgang Grams' gehalten habe. in einer zweiten Vernehmung am gleichen Tag nimmt er seine Aussage an einem wesentlichen Punkt zurück: Der Verfolger sei erst 20 Sekunden später in's Gleis gesprungen, er habe seine Waffe in Richtung des Kopfes gehalten. In seiner vierten Vernehmung, nunmehr sechs Wochen nach Bad Kleinen, sagt er aus, der Verfolger sei erst nach 30 Sekunden in's Gleis gesprungen.
Diese Aussage paßt nun endlich in's Konzept der Schweriner Staatsanwälte und wird von ihnen als Beleg der Selbstmordbehauptung verwandt. Die voangegangenen Aussagen finden im Abschlußvermerk der StA Schwerin keine Erwähnung mehr.

Die Weggucker

"Wer sich acht Wochen nach dem Geschehen in Bad Kleinen umhört, stößt auf eine geheime Regel: Je weiter einer weg war vom Bahnhof, desto spannender ist die Schießerei und alles, was danach kam. Wer näher dran war und alles hätte sehen können, wird dagegen schweigsam.
Stellwerksmeister B. zum Beispiel. Der Reichsbahner saß am Tag der Schießerei im Turm seines Stellwerks, 150 Meter vom Gleis, auf dem Grams starb, mit freiem Blick von oben auf den Bahnhof. Bei ihm war ein Lehrling und immer ein BKA-Beamter. Gesehen haben alle drei nichts. "Ich mußte ja den Zugverkehr und den Auszubildenden im Auge behalten," bedauert der Stellwerksmeister.
Nur geraunt wird unter den Reichsbahnern am Bahnhof, daß es viel mehr Augenzeugen der Grams-Erschießung geben müßte. "Denken Sie, das kommt raus?" fragt eine Beamtin, und ihr Tonfall verrät die Antwort. In allem Schweigen und Raunen fällt jedoch auf, daß sich niemand distanziert von der einzigen, die nicht schwieg, der Kioskverkäuferin Johanna B. "Eine vernünftige Frau sei sie, meint der Apotheker und Bürgervorsteher Christian Poppe. "Und sie war ja wohl von allen Unbeteiligten am nächsten dran."3

Bei einigen Zeugen ist es offensichtlich, daß sie mehr gesehen haben, als sie sagen wollen.
Einer der im Stellwerk tätigen Bahnbediensteten sagt aus, daß er zum fraglichen Zeitpunkt nichts sagen könne, da er erst nach Ende der Schießerei an das Fenster gekommen sei. Dazu, von wo er an das Fenster getreten sei und was er während der Schießerei gemacht habe, macht er in den verschiedenen Vernehmungen unterschiedliche Angaben. Einmal sagt er aus, er sei an seinem Tisch gesessen, als die Schießerei anfing. Er sei dann gleich aufgestanden und zum Fenster gegangen, aber als er ans Fenster kam wurde schon nicht mehr geschossen. Bei seiner nächsten Vernehmung gibt er an, er hätte am Kontrollpult zwei Meter vom Fenster entfernt gestanden, als die Schießerei losging. Bei der dritten Vernehmung sagt er dann, er hätte gerade telefoniert.
Die Woche zitiert einen der drei Reichsbahner, die am 27.6.93 im Stellwerk Dienst hatten: "Wenn Sie von da oben runterschauen wissen Sie, ob man das hätte sehen können oder nicht. (...) Hat etwa der BKA-Beamte, der auf dem Turm war, zum Kopfschuß etwas ausgesagt? Nein? Na sehen Sie."4

Ein Zeuge, der noch näher am Geschehen war als die Kioskverkäuferin, nämlich am Ende des zweiten Treppenaufgangs zu Bahnsteig 3/4, konzentriert sich im Gegensatz zu einigen Anderen nicht auf den zusammenbrechenden GSG 9-Beamten Newrzella, sondern verfolgt das Geschehen weiterbis zu dem Moment, als Wolfgang Grams fällt und mehrere Beamte in's Gleis nachsetzen. In diesem entscheidenden Augenblick will er dann plötzlich seinen Blick auf eine Personengruppe auf dem Bahnsteig gerichtet haben, die sich in einiger Entfernung vor den Schüssen in Sicherheit brachte. Die Staatsanwaltschaft hakt nicht nach.
Ein Zeuge, der in unmittelbarer Nähe wohnt, sagt aus, daß er und seine Frau schon vor der Schießerei bemerkt hatten, daß sich Ungewöhnliches auf dem Bahnhof tut. Während der Schießerei habe seine Frau ihn an's Fenster gerufen. Als er hinaus geschaut habe, habe Wolfgang Grams schon im Gleis gelegen. Seine Frau gibt in ihrer Vernehmung an, ihr Mann habe die ganze Zeit am Fenster gestanden.

Die Kioskverkäuferin war also nicht die einzige zivile Zeugin des Mordes an Wolfgang Grams.

GSG 9

In dem Kapitel zur GSG 9 wurde schon viel über die Widersprüche und offensichtlichen Lügen in ihren Aussage gesagt. Die StA Schwerin hat sie dafür in ihrer Abschlußvermerkung hart kritisiert. Der geneigte Leser/die geneigte Leserin muß sich angesichts der Heftigkeit der staatsanwaltschaftlichen Vorwürfe gefragt haben, warum sie die beschuldigten Beamten nicht schon längst in U-Haft genommen hat. Nun, sie kaschiert damit nur, daß sie selbst nicht anders vorgegangen ist.

Schwerin wollte Selbstmord beweisen. Dagegen stand gewichtig die Zeugenaussage der Kioskverkäuferin und auch der Spiegel-Zeuge. Sie mußten also demontiert werden. Ein wichtiger Teil dieser Demontage war, daß niemand den Kopfschuß gehört haben soll. Aber auch einen Selbstmord-Schuß hätte man hören müssen. Also muß er gefallen sein, als die GSG 9-Beamten auch noch schossen. Um diese Version wasserdicht zu machen, war den Schweriner Staatsanwälten auch wichtig, daß nicht sofort ein Verfolger nachsetzt, der diesen "Selbstmordschuß" vielleicht doch noch selbst abgegeben haben könnte. Der Beschuldigte GSG Nr. 6 behauptet aber in allen seinen Vernehmungen, daß er sofort nachgesetzt sei und die übrigen GSG 9-Beamten machen, falls sie sich über diesen Zeitpunkt überhaupt äußern, die gleichen Angaben. Was bleibt der Staatsanwaltschaft also anderes übrig, als hier ihren Beschuldigten zu demontieren.
Sie tut es mit der Unterstellung, GSG 9 Nr. 6 hätte gelogen, weil er sich nämlich geschämt habe ob des mißlungenen Einsatzes und deshalb schulbuchmäßiges Verhalten behaupten wollen.
Für die teilweise lückenhaften, unrichtigen und mehrfach geänderten Angaben, insbesondere der Beschuldigten, aber auch der Zeugen der GSG 9 (Nr. 1-7) kommen verschiedene Erklärungsansätze in Betracht. Möglicherweise haben sie teilweise versucht, ein etwaiges fehlerhaftes Verhalten während des Zugriffs zunächst zu beschönigen, indem sie das Nachsetzen so geschildert haben, wie es nach Angaben des Beschuldigten GSG 9 Nr. 6 und des Zeugen GSG 9 Nr. 7 der Ausbildung entspricht.

Der Bahnsteig liegt ca. 20 cm über dem Gleisbett

Nur noch ein weiteres Beispiel soll hier dokumentiert werden:
GSG 9 Nr. 6 gab in seiner Vernehmung an, Wolfgang Grams sei nach hinten gekippt und auf die Gleise gefallen. In seinen ersten Aussagen fährt er an dieser Stelle fort: er sei sofort nachgesetzt. In der richterlichen Vernehmung wird jedoch an diesem Punkt nachgehakt. Ihm wird die Frage gestellt, ob Grams aus seinem Blickfeld verschwunden war. Und jetzt verheddert er sich. Er meint die Zielperson wäre für ihn einfach weg gewesen. Er glaubte, daß Wolfgang Grams einen Magazinwechsel durchführe und er diese Gelegenheit nutzen wollte, ihn zu erreichen. Er will sich aus der Hocke aufgerichtet haben und aufrecht auf direktem Weg zu dem Punkt zugelaufen sein, an dem er die Zielperson hat abkippen sehen. Als GSG Nr. 6 glaubte, in das Sichtfeld von Wolfgang Grams zu kommen, streckte er sich auf die Zehenspitzen. Erst an der Bahnsteigkante will er ihn leblos auf den Gleisen liegend gesehen haben. Nochmal: der Bahnsteig liegt ca. 20 cm oberhalb des Gleisbetts.
Die Staatsanwaltschaft Schwerin vermerkt dazu, daß die Begründung des Beschuldigten GSG 9 Nr. 6 sich nach einer Inaugenscheinnahme des Ereignisortes als gänzlich abwegig und reines Phantasieprodukt gezeigt habe. Es sei unerklärlich, daß er Grams während seiner Annäherung nicht im Blickfeld gehabt haben will. Schon ein Beobachter, dessen Augen sich nur wenige Zentimeter über Bahnsteigniveau befänden, hätte sowohl vom Standort des Beschuldigten GSG 9 Nr. 6 als auch von der Treppe aus ohne weiteres Grams auf dem Gleis liegen sehen. Seine Schilderung der Annäherung an die Stelle, an der Grams "verschwunden" gewesen sei und die Behauptung, Grams sei nach seinem Sturz außer Sichtweite gewesen, habe sich als erdichtet herausgestellt.
GSG 9 Nr. 6 hat sich diese abenteuerliche Geschichte aus-schließlich auf die konkrete Nachfrage der Ermittlungsbehörden, ob Wolfgang Grams nachdem er einfach weg war, aus seinem Blickfeld verschwunden gewesen sei, ausgedacht. Allerdings ist GSG Nr. 6 der einzige, bei dem an dieser Stelle nachgefragt wird. Der SET-Führer GSG Nr. 3 hat eine ähnliche Beschreibung dieser Situation vorgetragen. Er sah Wolfgang Grams nicht von der Bahnsteigkante kippen, weil er sich in diesem Moment auf die Treppe an die Mauer geworfen haben will, um einen Magazinwechsel durchzuführen. Drei Sekunden später schaute er wieder nach oben und dort war nun angeblich keiner mehr zu sehen. Wider besseres Wissen akzeptiert die Staatsanwaltschaft seine Aussage.
Bei allen anderen GSG 9-Beamten fragt sie erst gar nicht genauer nach. Der kollektive Black-Out zu den Sekunden, in denen sich Wolfgang Grams angeblich umgebracht haben soll, war augenscheinlich nicht Gegenstand der Ermittlungen.

Unterlassungen der Staatsanwaltschaft Schwerin

Eine Unterlassung der StA Schwerin ist ganz offensichtlich: sie hätte alle am Einsatz beteiligten GSG 9- und BKA-Beamten vernehmen müssen. So hätten sich vielleicht Hinweise ergeben, warum Bahnsteig 3/4 angeblich völlig unbewacht war. Daß sie das nicht getan hat, ist mindestens unverständlich. Auch zivile Zeugen und Rettungspersonal blieben von ihr teilweise unberücksichtigt.

Zeugenvernehmungen

Den schon Genannten soll hier nur noch einer hinzugefügt werden: ein Unterabschnittsleiter des BKA. Seine Aussage hätte interessant werden können, denn Beamte seines Ranges haben bei den Vernehmungen noch die meisten Aussagen gemacht. Der Zeuge ist zu seinem ersten Vernehmungstermin Mitte Juli nicht erschienen. Das BKA teilte der Staatsanwaltschaft mit, er befinde sich auf einem Auslandslehrgang. Auch einer weiteren Ladung kam er nicht an. Die Begründung des BKA diesmal: er befinde sich bis Ende Oktober, also drei Monate lang, in Urlaub. Die StA Schwerin hat es dann aufgegeben, obwohl bis zur Einstellung ihrer Ermittlungen Mitte Januar noch genug Zeit für eine Vernehmung gewesen wäre. Das ist bedauerlich, denn das offensichtliche Bemühen das BKA, ihn nicht vernehmen zu lassen, macht doch neugierig.
Der Verdacht, daß die Staatsanwaltschaft die Zeugin Baron demontieren wollte, bestätigt sich durch die Art und Weise, wie sie sich aufdrängende Fragen aus den Vernehmungen der Zeugin unter den Teppich kehrte.

Gegenüberstellung

Aus den Aussagen der Zeugin Baron ergab sich schon Anfang Juli 93 daß sie zumindest von einem der Beamten, die auf den liegenden Wolfgang Grams geschossen haben, das Gesicht gesehen hatte. Eine Gegenüberstellung oder wenigstens eine Lichtbildvorlage wäre daraufhin ein zwingender Ermittlungsschritt gewesen. Sie wurde außerdem von den Anwälten der Eltern Grams telefonisch und schriftlich eingefordert. Nach der Intervention der Anwälte konnte die Staatsanwaltschaft diesen Punkt nicht stillschweigend übergehen, sondern mußte Stellung beziehen. Sie tat dies indem sie Anfang August 93 beschied, aus den Aussagen der GSG 9 ergebe sich sicher, welche Beamte bei Wolfgang Grams gestanden haben, eine Gegenüberstellung sei somit nicht erforderlich. Sowohl angesichts der offenkundigen Widersprüche in den Aussagen der GSG 9-Beamten als auch des frühen Stadiums der Ermittlungen war diese Entscheidung parteiisch. Auch als Baron kurze Zeit nach dieser ablehnenden Verfügung der StA Schwerin in einer weiteren Vernehmung aussagte, daß sie möglicherweise das Gesicht einer Person wiedererkennen würde, beharrte die Staatsanwaltschaft auf ihrer Position.

Mündungsfeuer

Die Zeugin Baron hat zur Größe des von ihr gesehenen Mündungsfeuers die Angabe gemacht, die Mündungsflammen seien bei den stehend auf Wolfgang Grams Schießenden ca. 20 cm lang gewesen. Die StA Schwerin ließ daraufhin vom LKA Mecklenburg-Vorpommern untersuchen, ob bei den im Schußwechsel verwendeten Waffen, also der P 7 der GSG 9 und der Czeska 75 von Wolfgang Grams, Mündungsfeuer sichtbar sei. Das LKA hat das unter Laborbedingungen untersucht und kam zu dem die Zeugin Baron bestätigenden Ergebnis, daß die P 7 der GSG 9 einen etwa 15 cm langen Mündungsblitz erzeugt, die Czeska 75 dagegen einen anders geformten und wesentlich kleineren Mündungsblitz. Das LKA regte an, dieses Ergebnis unter den tatsächlichen Beleuchtungsverhältnissen auf dem Bahnhof zu überprüfen, da die Laborergebnisse nur "hinweisenden Charakter" hätten.5 Die StA Schwerin ging dieser Anregung des LKA nicht nach, sondern unterlies die Verifizierung der Labor-Ergebnisse. In ihrem Abschlußvermerk verschweigt sie diesen Vorgang ganz.

Behinderung der Anwälte der Eltern Wolfgang Grams'

"Nachdem gegen GSG 9 Nr. 6 und Nr. 8 am 10.08.1993 Ermittlungsverfahren wegen des Verdachtes der vorsätzlichen Tötung von Wolfgang Grams eingeleitet worden waren, machten diese ab diesem Zeitpunkt von ihrem Aussageverweigerungsrecht Gebrauch. Auf Antrag ihrer Verteidiger wurde ihnen am 17.09.1993 umfassend Akteneinsicht gewährt - also lange vor Abschluß der Ermittlungen am 13.01.1994 und noch während die Ermittlungshandlungen und Vernehmungen von Zeugen fortgesetzt wurden.
Dagegen wurden von der Staatsanwaltschaft sämtliche Anträge der Anwälte der nebenklageberechtigten Eltern Grams auf Gewährung der Akteneinsicht abgelehnt, bis das Landgericht Schwerin Ende Dezember 1993 dem ein Ende machte und die Gewährung der Akteneinsicht zum 14.1.94 anordnete. Das Ermittlungsverfahren gegen die Beschuldigten wurde von der Staatsanwaltschaft daraufhin mit Verfügung vom 13.01.1994 eingestellt. In dem Antragsverfahren auf gerichtliche Entscheidung über die Gewährung der Akteneinsicht hatte die Staatsanwaltschaft gegenüber dem Gericht eingeräumt, die Akten gegenüber den Vertretern der nebenklagebrechtigten Verletzten auf Intervention des Bundesinnenministeriums zurückgehalten zu haben.
Mit der Versagung der Akteneinsicht hat die Staatsanwaltschaft den Geschädigten und ihren Anwälten für die Dauer des Ermittlungsverfahrens die Möglichkeit genommen, dieses gedanklich zu begleiten und ihrerseits Anregungen zu geben, die wahrscheinlich geholfen hätten, eine Reihe von Stümpereien und Unterlassungen zu verhindern.
Die unterschiedliche Handhabung der Gewährung der Akteneinsicht gegenüber Beschuldigten und Geschädigten ist evident und ließ das gefundene Ermittlungsergebnis erwarten." 6

Einstellung des Verfahrens

Die Staatsanwaltschaft Schwerin stellte das Ermittlungsverfahren gegen die zwei beschuldigten GSG 9-Beamte ein, weil angeblich "keine Anhaltspunkte bestehen, daß Grams von einem Polizeibeamten rechtswidrig getötet oder verletzt worden ist". Der leitende Oberstaatsanwalt Schwarz auf der Pressekonferenz: "Es ist wirklich nichts mehr drin in der Sache - glauben Sie's oder glauben Sie's nicht."

Der Wille der StA Schwerin, einen Selbstmord zu beweisen ist unübersehbar. Die Staatsanwaltschaft verfolgt dazu zwei Strategien. Zum einen geht sie mit den Zeugenaussagen sehr eigenwillig um. Sie demontiert echte Zeugen wie die Zeugin Baron, indem sie Widersprüche in ihren Aussagen konstruiert und daraus eine generelle Unglaubwürdigkeit ableitet. Andere Zeugen vernimmt sie so lange, bis das von ihr gewünschte Ergebnis im Protokoll steht. An entscheidenden Punkten hakt sie in den Vernehmungen oft nicht nach. Schließlich demontiert sie sogar belastende Aussagen von GSG 9-Zeugen, um ihre Theorie abzusichern.
Generell baut sie auf zwei Black-outs: den von ihr behaupteten der Zeugin Baron und den von der GSG 9 behaupteten zu dem Moment, als Wolfgang Grams sich selbst erschossen haben soll.

Zweitens demontiert sie echte Zeugen mit falschen Gutachten. Sie stützt sich dabei vor allem auf den Selbstmord- "Beweis" des Münsteraner Gutachters Professor Brinkmann, aber auch auf andere Gutachten, die inzwischen widerlegt sind. Hinweise auf mögliche Untersuchungen, die die Selbstmordbehauptung gefährden könnten, handelt sie oberflächlich ab oder übergeht sie ganz.

Daß sie in ihrer Arbeit nicht unabhängig war, hat sie an einem Punkt sogar selbst zugegeben: den Anwälten der Eltern Grams hat sie auf Intervention des Bundesinnenministeriums die Akteneinsicht bis zur Einstellung ihrer Ermittlungen verwehrt.




  1. Die von Monitor verbreitete Aussage, sie habe gesehen, wie ein Mann auf Wolfgang Grams' Kopf schoß, ist allerdings falsch. Baron hat in ihren Vernehmungen die Situation des Besuchs durch den Monitor-Journalisten beschrieben und erklärt, daß sie von der Situation überfordert war. Der Journalist hatte während eines Gesprächs mit ihr die "Eidesstattliche Erklärung" aufgesetzt und von ihr unterzeichnen lassen. Die Zeugin hat gegenüber der Staatsanwaltschaft immer erklärt, diese speziellen Aussage - "auf den Kopf" - könne sie nicht bezeugen.
  2. Beschwerdebegründung der Anwälte
  3. Die Woche, 16.7.93
  4. Die Woche, 16.7.93
  5. Die gleiche Anregung machte es bezüglich der akustischen Wahrnehmbarkeit der beiden Schußwaffen. Auch hier hatte die Zeugin Baron Unterschiede wahrgenommen.
  6. Beschwerdebegründung der Anwälte