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Wed Dec  4 17:38:02 1996
 

Gutachten


"Ein Schweriner Staatsanwalt warnte davor, Bontes Gutachten allzuviel Glauben zu schenken. Siegfried Kordus, Mecklenburg-Vorpommerns Chef des Landeskriminalamtes, ahnt, wie es weitergeht: 'Bonte sagt nur, es könnte auch anders gewesen sein. Damit kann man doch leben. Da macht man dann noch ein, zwei Nachgutachten, und das war's dann.'"

Der Spiegel,4.7.94




Links Prof. Bonte, Institut für Rechtsmedizin der Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf,
rechts Prof. Brinkmann vom Institut für Rechtsmedizin Münster.






Die folgenden Ausführungen stützen sich weitgehend auf die Arbeit des von den Eltern Grams bestellten Gutachters Prof. Bonte, Leiter des rechtsmedizinischen Instituts der Universität Düsseldorf. Aus Gründen der Lesbarkeit haben wir zum größten Teil auf wörtliche Zitate verzichtet (obwohl auch viele Formulierungen - aber nicht alle Wertungen - direkt seinem Gutachten entnommen sind). Alle wichtigen Ergebnisse seiner Gutachten sind in dieses Buch eingearbeitet. Zu Dokumentationszwecken war zuerst ein vollständiger Abdruck im Anhang geplant, er mußte dann aber aus Platzgründen aufgegeben werden.

Prof. Bonte hat in einem ersten Gutachten die Argumente und Schlußfolgerungen der von der StA Schwerin bestellten Gutachter, insbesondere des Münsteraner Rechtsmediziners Prof. Brinkmann und des Wissenschaftlichen Dienstes der Stadtpolizei Zürich (WD), auf ihre wissenschaftliche Richtigkeit und Plausibilität überprüft. In einem zweiten Gutachten hat er Spuren untersucht, die für eine gewaltsame Entwindung von Wolfgang Grams' Waffe sprechen. Diese Spuren waren von der StA Schwerin unter den Teppich gekehrt worden. Schließlich verdanken wir ihm auch den Hinweis auf eine aktuelle Untersuchung aus den USA, die eine weitere "wissenschaftliche" Säule der Schweriner Selbstmordbehauptung, die angebliche Mindestschußentfernung von 1,5 Metern, widerlegt.

Der "Beweis" der Selbstmord-Behauptung durch Prof. Brinkmann

Dem Gutachten von Prof. Brinkmann kommt in der Schweriner Selbstmord-Argumentation eine ganz zentrale Bedeutung zu. Im Gegensatz zu allen seinen Kollegen inclusive dem hochgelobten WD Zürich ist Prof. Brinkmann nämlich der Einzige, der behauptet, einen Selbstmord beweisen zu können. Alle anderen können letztlich weder Mord noch Selbstmord ausschließen und das ist infolge der umfangreichen Spurenvernichtung an ganz zentralen Punkten aus gutachterlicher Sicht leider auch das einzig mögliche Ergebnis.
Es ist bemerkenswert, wie Prof. Brinkmann zu seinem "Beweis" kommt. Seine Argumentationskette lautet kurz gefaßt folgendermaßen:

Um diese Argumentationskette zu bewerten, soll sie der Reihe nach untersucht werden:

zu 1.

Prof. Brinkmann geht von einer starken Links-Rückenlage bzw. sogar einer Links-Seitenlage des Kopfes aus. Nur dadurch könnte die Blutfontäne nicht weit weg spritzen, sondern in steilem Bogen fast senkrecht direkt neben Wolfgang Grams auf dessen ihm inzwischen aus der Hand und zu Boden gefallene Waffe niederregnen.
Bei der Rekonstruktion der Kopflage stützt sich Prof. Brinkmann auf die Messungen von Prof. Oehmichen, dem von der Staatsanwaltschaft Schwerin bestellten Erstobduzenten. Der von den Anwälten der Eltern Grams bestellte Obduzent Prof. Geserick kam aber bezüglich der Lage der Kopfschußverletzung zu wesentlich anderen Ergebnissen als Prof. Oehmichen. In einem weiteren Gutachten zog deshalb Prof. Bonte zur Klärung der differierenden Ergebnisse Fotografien von der Kopfschußverletzung heran und gelangte bei ihrer Vermessung zu ähnlichen Resultaten wie Prof. Geserick. Ebenso ergab sich eine gute Übereinstimmung mit einer Vermessung des Schußkanals im Gehirn, die im Universitätsspital Zürich durchgeführt worden war. In die Berechnungen wurde ebenfalls der Fundort der beiden Projektilteile im Schotter miteinbezogen, die von allen Gutachtern übereinstimmend mit dem Kopfschuß in Verbindung gebracht werden.
Im Resultat ergibt sich, daß der Kopf von Wolfgang Grams schräg zur Fahrtrichtung auf der Schiene gelegen haben muß. Die Neigung nach links kann aber nur unbedeutend gewesen sein (maximal 18 Grad gegen die Horizontale). Interessanterweise entspricht die berechnete Lage ziemlich gut der Lage während der notärztlichen Behandlung.

Auch in der Frage, in welcher Richtung Blut und Gewebe aus der Einschußwunde abspritzen konnte, geht Prof. Brinkmann von falschen Annahmen aus. Die Kopfhaut wölbt sich im Augenblick des Einschusses durch die expandierenden Gase explosionsartig gegen die Frontfläche der Waffe vor. Sie hat die Tendenz, diese allseitig zu umschließen. Bei allseitig gleichmäßigem Überstülpen könnten Blut-und Gewebsspritzer überhaupt nur gegen die zentrale Frontfläche und in das Laufinnere geschleudert werden.
Aus dem Verlauf des Schußkanals ist nun aber abzuleiten, daß der Lauf nicht genau senkrecht gegen die Kopfhaut gerichtet war, sondern, bezogen auf den liegenden Kopf von der Seite, etwas nach unten links. Das korrespondiert mit der Stanzmarke, die nur oben und rechts sichtbar ist. Genau hierdurch sind auch die beiden Wundrandeinrisse unten und links zu erklären, aus welchen nun in der Tat Blut/Gewebe außerhalb der Kontaktfläche der Waffe abspritzen konnte. Hierdurch ist zugleich erklärt, weshalb die Waffe nur auf der linken Seite und obenauf bespritzt wurde. Prof. Brinkmann irrt, wenn er behauptet, daß Blut/Gewebe genau oder auch nur annähernd senkrecht nach oben spritzen mußte. Ein Abschleudem konnte nur nach links und unten erfolgen.

zu 2.

Die Annahme einer sofortigen Lähmung ist nach der einschlägigen Literatur keineswegs gerechtfertigt. Hierzu ein Zitat: "Ganz abgesehen von der oft erstaunlich langen Überlebenszeit nach den schwersten Verletzungen (Kopfschüssen, Herzverletzungen) besteht mit ganz wenigen Ausnahmen auch in den meisten Fällen eine ausgedehntere oder geringere Handlungsfähigkeit. Eine sichere Verneinung der Frage, ob der Verletzte noch bestimmte Handlungen vollbracht haben kann, ist nur möglich bei hochsitzenden Rückenmarksläsionen, ausgedehnter Zertrümmerung des Schädels und vollständiger Unterbrechung der cerebralen Blutversorgung".1
Hirnverletzungen, aus welchen eine sofortige Handlungsunfähigkeit abzuleiten ist, sind dem Gutachten der Züricher Universität nicht zu entnehmen.
Damit soll nicht behauptet werden, Wolfgang Grams wäre noch zu bewußten und gesteuerten Handlungen in der Lage gewesen. Aber es gibt verschiedene Stufen der Handlungsfähigkeit. Hier geht es ausschließlich um die Frage, ob ihm notwendigerweise wegen einer in Bruchteilen von Sekunden einsetzenden Atonie und damit Handlungsunfähigkeit die Waffe sofort aus der Hand fallen mußte, wie es von Prof. Brinkmann unterstellt wird. Das ist sicher nicht der Fall. Das Argument einer sofort einsetzenden atonischen Lähmung ist demnach nicht stichhaltig.

zu 3.

Ein Element von Prof. Brinkmanns Selbstmord-Argumentation ist die angebliche Abwesenheit von Blutanhaftungen im Inneren des Laufs der Czeska von Wolfgang Grams.
Dieses Argument ist schon deshalb nicht stichhaltig, weil es keine wissenschaftliche Untersuchung gibt, die einen Zusammenhang zwischen Kontaktdauer und Blutmenge im Laufinnern belegt. Im Gegenteil ist in einer Untersuchung von sicheren Selbstmorden in 20 Fällen von aufgesetztem Kopfschuß wurden nur einmal Gewebespritzer in der Waffe nachgewiesen. Chemische Tests führten in 8 der 20 Fälle zu einem positiven Blutnachweis.
Blut im Lauf der Waffe ist also auch bei aufgesetztem Schuß kein Regelbefund. Aus der Blutmenge im Laufinnern können folglich keine Rückschlüsse gezogen werden.
Ungeachtet der Tatsache, daß das Nichtvorhandensein dieser Spuren nichts beweist, ist noch nicht einmal sicher, daß es diese Spuren wirklich nicht gab. Prof. Brinkmann drückt sich in seinem Schlußgutachten sehr vage aus, indem er von "geringfügigsten Blutanhaftungen" und sogar von "Anhaftungen mit geringfügigen Blutanteilen" spricht. Es wurde aber keine genaue Quantifizierung durchgeführt, was die Aussage "geringfügigste Blutanhaftungen" ja nahelegt. Eine Mischspur mit quantitativ belegtem Anteil von Blut ist erst recht nicht nachgewiesen. Besonders nebensächlich wird Prof. Brinkmanns Argumentation aber, weil die Waffe schon beschossen wurde, bevor er das Laufinnere auf Spuren untersuchte!

zu 4.

Prof. Brinkmann hat überraschende Vorstellungen von der Fluggeschwindigkeit von Blut-und Gewebsspritzern.
In amerikanischen Untersuchungen wird zwischen "low, medium, and high velocity blood-splatter" (langsame, mittelschnelle und sehr schnelle Blutspritzer) unterschieden. Von "low velocity" spricht man, wenn Blut allein durch die Schwerkraft herabfällt. "Medium velocity" haben Spritzer, die beim Schlag auf eine bereits blutende Nase entstehen. "High velocity" kann nur durch Projektile aus Feuerwaffen erzeugt werden. Zum Vergleich: "High velocity" wird nur von aus Langwaffen verfeuerten Geschossen erreicht. Diese sind etwa viermal schneller, als Geschosse aus Faustwaffen.
Es fällt schwer, anhand dieser Beobachtungen eine Zeitschä-tzung vorzunehmen. Daß es sich aber nur um Millisekunden handeln kann, ergibt sich aus Folgendem: Ursache der Blut- und Gewebsabspritzung ist die Druckerhöhung im Augenblick des Einschusses. Diese Druckwelle läuft mit einer Geschwindigkeit von etwa 1600 m/sec, ist also wesentlich schneller als das Geschoß. Die Geschwindigkeit der Blutteilchen ist dadurch ebenfalls wesentlich größer als die des Geschosses.
Ebenso schwer kann die Zeit eingeschätzt werden, die eine sofort herabfallende Waffe bis zum annähernden Bodenkontakt benötigt. Da indes im wesentlichen die Schwerkraft eine Rolle spielen dürfte, ist nach dem vorigen von einer "low velocity" auszugehen.
Die Annahme von Prof. Brinkmann, daß die letztere Zeit kürzer ist, als die erstere, ist eine durch nichts belegte Fiktion. Wenigstens bei schräg oder horizontal abspritzenden Teilchen ist zu erwarten, daß diese den Boden der näheren Umgebung weit schneller erreichen als eine aus der Hand fallende Waffe.
Interessant ist in diesem Zusammenhang eine Bemerkung im abschließenden Gutachten von Prof. Brinkmann, die freilich in einem anderen Zusammenhang steht (Frage der Endlage des rechten Arms): "Hinzu kommt die Unwägbarkeit, wie fest im Augenblick der Schußauslösung die Schußhand mit der Waffe verbunden war bzw. wann sie sich löste und wie lange damit die Bewegung des Arms passiv durch die Bewegung der Waffe bestimmt war". Umgekehrt wird bei der Frage nach der Endlage der Waffe erklärt: "Je nachdem, wie lange die Waffe in der Hand des Grams noch fixiert war und ihre Bewegung durch die Armbewegung beeinflußt wurde (...)". Hier werden also Unsicherheiten hinsichtlich des Zeitpunktes der Lösung der Hand von der Waffe deutlich. Gleichwohl soll die Waffe schneller den Boden erreicht haben, als die mit "high velocity" fliegenden Partikel. Prof. Brinkmann widerspricht sich hier selbst.

zu 5.

In seinem Abschlußgutachten behauptet Prof. Brinkmann, Blutspuren hätten sich lediglich auf der linken Seite der Waffe von Wolfgang Grams gefunden. Auf seiner eigenen Handskizze sind jedoch auch auf der Oberseite der Waffe mehrere Blutspritzer auf der linken Seite des Korns eingezeichnet. Auch auf den Fotos der Waffe ist auf der Laufoberfläche oberhalb des "D" von "MODEL 75" eine rötliche Anhaftung zu erkennen. Und Prof. Bär von der Universität Zürich beschreibt eine "wenige mm große Blutspur ab Laufoberseite über Riffelung direkt vor Visier".
Das Spritzmuster der Blutspuren an der Czeska beschreibt Prof. Brinkmann in seinem Zwischengutachten mit "spritzartig", "rundlich", "ovalär ausgezogen" und in einem Fall "ausrufezeichenartig ausgezogen". Prof. Brinkmann schließt insbesondere aus der ausrufezeichenförmigen Spur auf einen aufgesetzten Schuß. Noch auf einer Sachbearbeiterkonferenz, die der WD Zürich im Rahmen seiner Untersuchungen einberufen hat, erwähnt Prof. Brinkmann ein "laufparalleles Spritzspurenmuster", das spezifisch für einen absoluten Nahschuß sei.
In seinem abschließenden Gutachten spricht Prof. Brinkmann dagegen von "ganz überwiegend sogenannten Sprayspuren mit rundlicher Konfiguration. Nur ganz vereinzelt läßt sich eine leicht ovaläre Konfiguration erkennen". Bei der hierzu nicht passende ausrufungszeichenförmige Spur findet er nun auf Detailaufnahmen, "daß die Kontur des Anfangsteils des Ausrufungszeichens möglicherweise sekundäre Veränderungen aufweist". Die bloße Möglichkeit reicht nachfolgend aus, diese Spur aus den Überlegungen auszuklammern.
Daraus entwickelt Prof. Brinkmann nun ganz andere Schlußfolgerungen als in seinem vorläufigen Gutachten, freilich ohne seine Meinungsänderung kenntlich zu machen: "Das Spurenbild mit den zahlreichen punktförmigen runden Spuren ist dadurch zu erklären, daß entsprechende Blutpartikel senkrecht gegen die Ebene der linken Seite geprallt sind" Und andersherum: "Das Blutspurenmuster an der Waffe läßt sich nicht dadurch erklären, daß das primär aus den Wunden austretende Blut tangential gegen den Lauf prallte. Form und Verteilung der Spuren sprechen eindeutig hiergegen". So bleibt angeblich nur die Möglichkeit, daß die bereits auf dem Boden liegende oder sich dahin bewegende Waffe von einem herabregnenden Spray getroffen wurde.
Prof. Brinkmann ignoriert also seine eigenen Beobachtungen, um zum gewünschten Ergebnis zu kommen.
Aber das ist noch nicht alles. Die Annahme, daß die Bespritzung der auf dem Boden liegenden Waffe ein zwingendes Indiz für Selbstmord sei, ist nur bei oberflächlicher Betrachtung plausibel. Was für die Waffe gilt, muß nämlich auch für die Opfer-Hand gelten. Es gibt keinen Grund anzunehmen, daß die Waffe den Boden grundsätzlich eher erreicht, als die Hand. Das würde bedeuten, daß auch die Hand sekundär bespritzt werden kann. Wäre es so, dann hätte allerdings eine allgemein akzeptierte rechtsmedizinische Regel keine Berechtigung, die in allen Lehrbüchern nachzulesen ist: die Regel nämlich, daß Blut-und Gewebespritzer auf der Hand des Opfers Selbsttäterschaft beweisen. Es sind ja zahlreiche Konstellationen vorstellbar, bei welchen die Opferhand - folgt man der Argumentation von Prof. Brinkmann - auch bei Fremdtäterschaft sekundär bespritzt wird. Prof. Brinkmann setzt sich hier also in Widerspruch zu der rechtsmedizinischen Lehrmeinung.
Bei den Blutspuren an der Waffe von Wolfgang Grams handelt sich um einen Regelbefund bei direkte, auch streifendem Anspritzen. Die Schlußfolgerung, daß das Spurenmuster nur durch sekundäres "Herabregnen" erklärt werden kann, ist falsch.

Damit sind aber alle Glieder der Argumentationskette von Prof. Brinkmann widerlegt! Die Waffe wurde noch beim Ansetzen an die Schläfe mit Blut- und Gewebsteilen bespritzt. Alle anderen Überlegungen sind abwegig und überflüssig. Auch die Lokalisation der Spuren auf der Waffe ist mit einer normalen Handhaltung ohne weiteres vereinbar. Ein Rückschluß auf Selbsttäterschaft ist wissenschaftlich nicht haltbar.

Spurenvernichtung durch Prof. Brinkmann

Aus einem Vermerk des LKA Mecklenburg-Vorpommern ergibt sich, daß die auf Blutspuren untersuchte Bekleidung der Beamten der GSG 9 auf eigene Initiative der RM Münster auch auf Fremdfasern untersucht worden ist. Es ist aus dem Gutachten des Münsteraner Professors Brinkmann an keiner Stelle ersichtlich, was diese Untersuchung auf Fremdfasern gebracht haben soll. Stattdessen hat sie frühzeitig Untersuchungen unmöglich gemacht, die von zentraler Bedeutung gewesen wären, vor allem die Bestimmung der Schußentfernung der GSG 9 zu Wolfgang Grams und die genauere Untersuchung der Blutspuren von Wolfgang Grams an der Jacke von GSG 9 Nr. 6, die ihn möglicherweise als Täter hätten überführen können.
Im Zusammenhang damit, daß Prof. Brinkmann der einzige Gutachter ist, der die Schweriner Selbstmord-Behauptung mit einem "Beweis" stützt - ein Beweis, der vollständig unhaltbar ist und in dem er sich an einigen Stellen über seine eigenen Untersuchungsergebnisse hinwegsetzt - ergibt sich ein sehr zwielichtiges Bild dieses "Experten".

Wolfgang Grams wurde die Waffe mit Gewalt entwunden

Schon der Erstobduzent der StA Schwerin, Prof. Oehmichen, entdeckte eine "streifenförmige, getreidekorngroße Oberhautabschürfung (...) an der Außenseite der Schwimmhaut zwischen Zeigefinger und Daumen, praktisch querfingerbreit oberhalb des Handgelenks gelegen. Von hier aus erkennt man eine streifenförmige Rötung". Auch Prof. Bär vom IRM Zürich beschreibt diese Verletzung: "Die Haut innerhalb des Daumen-Zeigefingerwinkels zwischen 1. und 2. Strahl am Handrücken mit streifiger, halbovaler, oberflächlich geschürfter Hautveränderung von ca. 4 cm maximaler Schenkellänge und ca. 4 mm Breite; eine Schürfungsrichtung kann nicht bestimmt werden".

Links die Pistole Czeska 75 Brunner, rechts die Schürfung an der Hand

Entwindungsgriff

Prof. Bär stellt auch Überlegungen zum möglichen Ursprung dieser Verletzung an: "Die Waffe CZ 75 des Grams weist hinten am Griffstück oben eine zungenartige metallene Kontur auf, die teils leicht kantig gestaltet ist. Zusätzlich muß, da Grams ja aus seiner Waffe Schüsse abgegeben hatte, der Schlaghammer in gespannter Stellung gestanden haben. (...) Bei Drehung der Waffe in der sogenannten Hochachse überstreicht dieser Schlaghammer eine Zone, die dem Bereich der an der rechten Hand des Grams festgestellten Schürfung in etwa entspricht. Bei entsprechend grosser Kraftaufwendung, etwa beim brüsken Nachhinten- und -obendrücken des Waffenlaufes und bei gleichzeitiger Verdrehung der Waffe in der Hochachse kann es zu einem gewaltsamen Kontakt mit Reiben des Schlaghammers an der Haut kommen (...) Diese Schürfung an der rechten Hand des Grams könnte nach diesen Überlegungen deshalb durch den Schlaghammer am Waffenrücken der CZ 75 infolge eines sehr engen, gewaltsamen und eventuell unfreiwilligen Kontakts der rechten Hand des Grams mit diesem Schlaghammer entstanden sein. Es ist dabei auch an einen sogenannten Griff zur Entwindung der Waffe (= Entwindungsgriff) aus der Hand zu denken".
Während Prof. Bär in seinem Gutachten für die StA diesen Gedanken entwickelt, geht es in der veröffentlichten Auseinandersetzung noch um die Frage, ob die Waffe links oder rechts neben Wolfgang Grams lag, den kein GSG 9-Beamter je überhaupt berührt haben will.
Der wissenschaftlich gestützte Beweis, daß dies gelogen ist und die Öffentlichkeit mit Scheindiskussionen eingeschläfert wird, hätte damals vielleicht noch das glanzlose Ende der Selbstmord-Behauptung bedeuten können.
Und so ergibt es sich, daß Prof. Bär seinem Gutachten auch eine entschärfende Alternativargumentation beilegt 2: "Andererseits ist (...) aus einer Videoaufnahme des am Boden liegenden Grams (...) aber ersichtlich, daß die rechte Hand des Grams in jenem Zeitpunkt der notärztlichen Behandlung unterhalb des rechten Gesäßes - scheinbar wie eingeklemmt und mit dem Handrücken bodenwärts (schotterwärts) verdreht - gelegen hatte. Damit ist nicht mehr auszuschließen, daß die angesprochene halbovaläre Hautabschürfung am rechten daumenseitigen Handrücken durch einen Kontakt mit einem Schotterstein, etwa beim Hervorziehen, respektive Hervordrehen des rechten Vorderarmes (zur anschließenden Blutdruckmessung ?), entstanden war".
In heiklen Fällen hat die StA Schwerin öfter noch einen weiteren Gutachter hinzugezogen, so auch dieses Mal und zwar wieder Prof. Sellier: "Dreht man aber die Waffe um ihre Hochachse im Uhrzeigersinn (von oben her gesehen), so verliert der Hahn nach etwa 30 Grad Drehung zwangsläufig den Kontakt mit der Haut, (...) so daß zwar möglicherweise der imponierende Teil der Hautveränderung erklärt werden kann, nicht aber die übrigen bogenförmigen (...) Ich meine, daß sie ( die Hautveränderung, d. Verf.) durch Berührungen des Handrückens mit dem Schotter sehr gut erklärt werden kann, denn Grams ist durch die Rettungsmaßnahmen mehrfach gewendet worden. Dabei lag die (rechte) Hand auch unter seinem Körper und wurde dabei (durch seine Körpermasse) gepreßt mit den entsprechenden Folgen."

Gutachten der Anwälte

Die Anwälte der Eltern Grams haben dieses Untersuchungsergebnis von Prof. Bonte überprüfen lassen. Prof. Bonte kommt aufgrund eigener experimenteller Untersuchungen zu dem Ergebnis, daß die Verletzung aller Wahrscheinlichkeit von einem Entwindungsgriff herrührt. Er hat dazu verschiedene denkbare Versionen eines Entwindungsgriffes durchgespielt 3, bei denen er im Prinzip vergleichbare Ergebnisse erzielte. Es zeigte sich indes, daß das Versuchsergebnis durch zwei Faktoren entscheidend beeinflußt wurde: dem Ausmaß der Anhebung des Laufs nach oben und dem Grad der lokalen Gewalteinwirkung durch das Hahnende.
Wird der Lauf nur wenig nach oben gedrückt , dann stellt sich der von Prof. Sellier beschriebene Effekt ein: sowohl das Hahnende, als auch die Lippe des oberen Griffrückens werden auf den Handrücken gedrückt. Sowohl die Lippe als auch das Hahnende hinterlassen kurze, gering bogenförmige, und durchbrochene Abblassungen.
Bei stärkerer Anhebung des Laufs berührt indes ausschließlich das Hahnende den Handrücken. Welche lokale Veränderung sich unter dieser Voraussetzung einstellt, hängt jetzt nur noch vom Grad der Gewalteinwirkung ab. Immer zu sehen ist eine bogige Abblassung, deren Konfiguration weitgehend der Rötung auf dem rechten Handrücken von Wolfgang Grams entspricht. Wird die Waffe mit äußerster Kraft entwunden, dann entsteht ebenfalls zunächst eine bogige Abblassung, die am Beginn der Spur unter Umständen deutlich, im übrigen Verlauf aber äußerstenfalls ganz oberflächlich angeschürft ist.
Der Sellier'sche Einwand gilt also nur, wenn der Lauf gering oder gar nicht angehoben wird. Um eine sichtbare Spur zu hinterlassen, muß ferner erhebliche Gewalt eingesetzt werden. Forcieren läßt sich dieses, wenn im Rahmen der Entwindung der Daumen zwischen Hahn und Lauf gelegt wird - wie es sinnvoll wäre, um eine unbeabsichtigte Schußauslösung während der Entwindung zu verhindern - , wodurch lokal ein zusätzlicher Druck ausgeübt wird.
Die von Prof. Bär entwickelte Alternative ist prinzipiell denkbar. Tatsächlich ist auf Aufnahmen vom Tatort eine Lageänderung des rechten Arms von Wolfgang Grams zu erkennen, auch wenn man deshalb nicht gleich, wie Prof. Sellier, von "mehrfachem Wenden" sprechen kann. Zunächst liegt die Hand unter dem Gesäß, sie ist stark nach außen zu abgewinkelt, der Arm leicht gebeugt. Der vordere Handrücken zwischen den Grundstrahlen von Daumen und Zeigefinger ist möglicherweise genau nach unten gekehrt, liegt also dem Schotter auf. Auf der folgenden Aufnahme liegt der Arm ausgestreckt neben dem Verletzten, könnte also in der Zwischenzeit unsanft herausgezogen worden sein. Daß sie bei der letzteren Alternative verletzt werden konnte, ist vorstellbar.4
Zur Verifizierung führte Prof. Bonte auch mehrere Versuche mit Gleisschotter durch. Dabei konnten zwar im Selbstversuch regelmäßig Hautabschürfungen erzeugt werden, die aber ein anderes Aussehen hatten, als der Befund auf dem rechten Handrücken von Wolfgang Grams. Es enstanden haarfeine Schürflinien, oftmals mehrere, die streng parallel liefen. Sie waren von einer unregelmäßigen Hautrötung umgeben. Eine andere Frage war, ob beim Herausziehen der Hand unter dem Gesäß ein so auffallender, geometrisch regelmäßiger Befund erzeugt werden kann, wie er auf dem Handrücken von Wolfgang Grams festgestellt wurde. Mit Sicherheit kann gesagt werden, daß ein bloßes Herausziehen an der Hand, am Ellenbogen oder an Hand und Ellenbogen gleichzeitig eine nahezu Iineare, aber keine viertelelliptische Hautveränderung erzeugt. Theoretisch vorstellbar wäre, daß ein fließender Übergang von einem anfänglichen Zug an der Hand zu einem nachfolgendem Zug am Ellenbogen einen solchen Befund hervorruft. Bei den Experimenten ist dieses nicht gelungen, nicht einmal annähernd.

Gegenläufige Bewegungsrichtung

Prof. Bonte weist noch auf ein weiteres wichtiges Indiz hin, daß gegen die von Prof. Bär entwickelt Theorie spricht: "Wenn man auf den - unwahrscheinlichen Fall einer viertelellipsigen Hautveränderung abstellt, muß man von einer Schürfrichtung ausgehen, die jener durch den Hahn der Waffe genau entgegenläuft: Beginn am Daumengrundgelenk und Ende auf der Schwimmfalte handgelenkwärts. Noch wichtiger ist die Beobachtung, daß nur am Beginn der Hautveränderung eine eindeutige Hautabschürfung entsteht, in diesem Fall also am Daumengrundgelenk und nicht im Zeigefinger-Daumen-Winkel wie bei Wolfgang Grams. Das ist auch theoretisch nachvollziehbar: Der primäre Auflageort der Hand auf dem Schotter ist der stärksten (und längsten) Belastung durch das Gesäß ausgesetzt; beim Herausziehen kommt es zu einer allmählichen Entlastung.
Auch wenn man also zwei jeweils für sich unwahrscheinliche und im Experiment nicht bestätigte Verletzungsmechanismen unterstellt, gleichmäßig breite oberflächliche Hautabschürfung oder Rötung und viertelellipsige Schürffigur durch einen Schotterstein, bleibt ein eindeutiger Widerspruch bestehen: die markante und lokal betonte Hautabschürfung würde mit Sicherheit am daumennahen Ende der Verletzung liegen und nicht am handgelenksnahen, wie im Fall Wolfgang Grams."

Prof. Bonte kommt daher zu folgendem Schluß: "Die auf dem rechten Handrücken von Wolfgang Grams festgestellte bogenförmige Hautabschürfung und -rötung läßt sich widerspruchsfrei durch einen streifenden Kontakt mit dem Hahnende im Rahmen eines Entwindungsgriffs erklären. Form und Aussehen der Hautveränderung sind im Experiment in weitestgehender Annäherung reproduzierbar. Auch beim Herausziehen der zwischen Schotterbett und Gesäß eingeklemmten Hand hätte es im Prinzip zu einer Verletzung am gleichen Ort kommen können. Es ist unwahrscheinlich, daß dabei eine regelmäßige viertelelliptische Rötung ohne durchgehend sichtbare Hautabschürfung entstanden wäre. Mit Sicherheit wäre es zu einer umschriebenen Hautabschürfung in der Nähe des Daumengrundgelenks gekommen, nicht aber im handgelenksnahen Bereich, wie im vorliegenden Fall."

Blut an der Jacke von GSG 9 Nr. 6

Prof. Brinkmann kommt nach der spurenkundlichen Untersuchung der Bekleidung der Einsatzkräfte zu folgendem Schluß: "Zusammenfassend ergibt sich, daß nur an der Jacke von GSG-9 Nr. 6 humanes Blut nachgewiesen werden kann, welches Herrn Grams zugeordnet werden kann." Diese Blutspur ist seinen Angaben nach wenig aussagekräftig: "Die kontaktartige, formlose Ausprägung dieser Spur und ihre Lokalisation an der Rückseite des rechten Ärmels weisen nicht zwangsläufig auf einen bestimmten Entstehungsmechanismus hin". Will sagen, sie hätten auch bei einer Berührung von Wolfgang Grams durch den GSG 9-Beamten, etwa beim Abtransport in das Krankenhaus, entstehen können. Daraus schließt er, daß GSG 9 Nr. 6 nicht der Mörder gewesen sein kann. Das ist aber ein doppelt falscher Schluß.

Spuren: vernichtet

Erstens gibt es noch eine andere Erklärung für die undeutliche Ausprägung dieser Spur. Hierzu wurden Klebefolien-Abzüge hergestellt. Es liegt auf der Hand, daß dadurch 1. Spuren ausgedünnt werden können, danach also quantitativ nicht mehr erfaßbar sind und daß 2. gerade feine Spritzspuren, wie sie durch das aus der Wunde herausgeschleuderte Blut-und Gewebespray entstehen können, nach dem vollflächigen Abkleben der Kleidung mit Adhäsionsfolie nicht mehr als solche erkennbar sind.
Die Frage ist also, ob die Abklebung der GSG 9-Bekleidung vor oder nach der serologischen Untersuchung geschah. Bei der Untersuchung der Bekleidung von Wolfgang Grams wurde folgendermaßen vorgegangen : "Zur Sicherung von Mikrospuren (Kontakt- bzw. Faserspuren) wurden zuerst alle Kleidungsstücke mit Adhäsionsfolie abgeklebt". Die Unterstreichung stammt von Prof. Brinkmann. Er weist damit also ganz gezielt auf die aus seiner Sicht richtige Reihenfolge hin. Sollte er entgegen seiner Überzeugung bei der Untersuchung der Bekleidung der Einsatzkräfte anders vorgegangen sein? Ganz offenbar nicht, denn Prof. Bär von der Züricher Universität entdeckt auf den im Institut für Rechtsmedizin Münster entnommenen Klebefolien an der Vorderseite der Jacke und der Hose von GSG 9 Nr. 6 eine Mischspur aus Gewebe- und Blutkrüstchen. "In dieser Mischspur kann anteilmäßig Grams nicht ausgeschlossen werden, da er zwei der drei Merkmale auch besitzt" Daß Prof. Brinkmann diese Spuren nicht gefunden hat, muß demnach heißen, daß er entweder nicht (sorgfältig) gesucht hat oder daß die Kleidung vor der Untersuchung auf Blutspuren abgeklebt wurde. Sein negativer Befund ist in beiden Fällen bedeutungslos.
Nun könnte man meinen, es sei gleichgültig, ob sich die Spuren im Original auf der Bekleidung oder quasi als Abklatsch auf der Folie befinden. Aber, wie Prof. Bär es ausdrückt "Da der genaue Entnahmeort (nur Vorderseite der Jacke, respektive Hose) dieser Klebefolien nicht rekonstruierbar ist und somit eine genauere Zuordnung der in den Klebefolien haftenden Gewebepartikel an bestimmte Partien an der Vorderseite der Kleider nicht möglich ist, (...) sind weitergehende Interpretationen aus unserer Sicht nicht möglich."
Wichtig ist auch, daß die Unterlagen des Züricher Gutachtens darauf hindeuten, daß eine Hälfte der Klebefolien zuerst zur Schmauchspurenbestimmung an den WD Zürich gingen. Darauf weist jedenfalls die Bemerkung im Gutachten des WD der Stadtpolizei hin, es sei versucht worden, "je auf der halben Abklebefolie allfällig vorhandene Schmauchpartikel sichtbar zu machen". An anderer Stelle im WD-Gutachten heißt es: "Am 30.8.1993 erhielten wir vom IRM Münster unter anderem zwei Abklebefolien, mit denen an diesem Institut ab der Jacke des GSG 9-Beamten Nr. 6 Mikrospuren gesichert worden waren". Dann folgen Ausführungen, wie diese Folien behandelt wurden. Die Weinsäure/Natriumrhodizonat-Methode wird beschrieben. Sie ist unzweifelhaft geeignet, biologische Spuren zu zerstören oder zu beseitigen. D.h. daß auf der Hälfte der Klebefolien eventuelle Blutspuren ohne Untersuchung vernichtet wurden.
Die Ergebnisse der Blutspurenuntersuchung sind also wenig aussagekräftig. Sie besagen nicht mehr, als daß die Bekleidung des GSG 9-Beamten Nr. 6 nicht nur an der Rückseite des rechten Ärmels, sondern auch an der Vorderseite von Jacke und Hose Blutspuren aufwies, die Wolfgang Grams zugeordnet werden können. Ob es sich ursprünglich um geringste sekundäre Kontaktspuren oder um umfangreichere Anspritzungen gehandelt hat, ist angesichts der insuffizienten Handhabung bereits im Vorfeld der Untersuchungen nicht mehr zu entscheiden.

Theoretische Grundlagen: falsch

Zweitens: Es ist nach den vorliegenden mangelhaften Untersuchungsergebnissen nicht zwingend abzuleiten, daß sich der Beamte Nr. 6 in unmittelbarer Nähe von Wolfgang Grams aufhielt, als der Kopfschuß fiel, was für seine Täterschaft Voraussetzung wäre. Prof. Brinkmann dreht das Problem nun aber genau in die andere Richtung. Er erklärt kategorisch: "Jedenfalls scheidet insoweit eine Entstehung durch das unmittelbare Schußgeschehen aus. Der Unterarm des rechten Ärmels sowie die anderen Teile dieser Jacke sind frei von Blutspuren". Selbst, wenn man die obigen Einwände gegen die Qualität der Untersuchungen nicht gelten lassen will, ist diese Behauptung falsch. Prof. Brinkmann geht bei seinen Schlüssen wiedereinmal unabhängig vom konkreten Spurenbefund von falschen Voraussetzungen aus.
Zum einen stützt er sich auf die irrige Vorstellung "des ideal hinter der Waffe befindlichen Körpers" - in leicht vornübergebeugter Haltung mit ausgestrecktem Arm und Lauf der Waffe quasi in der Verlängerung des Arms, wie beim Übungsschießen, womöglich mit Abstützung durch die andere Hand. In Wirklichkeit hätte ein Fremdtäter aber die Hand stark zum Handrücken hin abwinkeln müssen. Die Waffe muß ja bei Schußabgabe eine Winkel von äußerstenfalls 36 Grad gegen den Erdboden gehabt haben, und das in einer Höhe von etwa 35 cm. Da nun aber Blut und Gewebe nur nach hinten und unten abspritzen konnte, also vom Schützen weg, befand sich der Körper in einem "toten Winkel" (der von Prof. Brinkmann an ganz anderer Stelle bemüht wird). Es mußte also keineswegs zwingend zu einer Bespritzung der Täterbekleidung kommen.
Das zweite Gegenargument geht in dieselbe Richtung, ist aber von allgemeinerer Bedeutung. Es ist aus der einschlägigen Literatur zu erfahren. Um Mißverständnissen vorzubeugen: es geht dabei um die Schußhand von Selbstmördern. Was für die Hand des Selbstmörders gilt, gilt aber logischerweise ebenso für die Schußhand eines Fremdtäters. Und was für die Hand gilt, gilt schon gar für weiter vom Einschuß entfernte Gegenstände, wie die Täterbekleidung. Hierzu zwei Zitate:
Prokop: "Wir warnen davor, aus dem Fehlen der Beschmauchung oder Blutbespritzung der Schußhand zu weitgehende Schlüsse ziehen zu wollen. Wir haben genügend Selbstmorde mit aufgesetzter Waffe gesehen, wo diese Stigmata fehlten".5
Sellier: "Allerdings sind Blutspritzer bei einem aufgesetzten Schuß nicht obligatorisch, d.h. das Fehlen von Spritzern schließt einen Schuß mit aufgesetzter Waffe nicht aus (Beobachtung an eigenen Fällen von sicherer Selbstbeibringung)".6
Auch wenn man also alle Einwände ignorieren möchte und davon ausgeht, daß sich an der Jacke des Beamten keine tatrelevanten Spuren befanden, ist aus dem Fehlen einer Bespritzung keineswegs zu schließen, daß der Betreffende als Täter ausscheidet. Und das gilt natürlich auch für alle anderen untersuchten Beamten.

Auch wenn es eigentlich nicht mehr wichtig ist, muß am Rande noch einmal an den seltsamen Diebstahl einer blutbeschmierten Jacke aus den Räumen des Wissenschaftlichen Dienstes im September 93 erinnert werden. Dieser Diebstahl des Blousons von GSG 9 Nr. 6 erfolgte erst, als die Untersuchungen schon abgeschlossen waren. Angesichts obiger Untersuchungsergebnisse stellt sich die Frage, ob es sich bei diesem Diebstahl um eine Finte handelte, die auf eine falsche Fährte führen sollte.

Schußentfernung

Die Kioskverkäuferin Baron hat in ihrer Vernehmung mehrfach ausgesagt, daß zwei Männer nacheinander an den schon im Gleis liegenden Wolfgang Grams herantraten und mehrere Schüsse auf ihn abgaben.


Dr. Pfister, Leiter des Wissenschaftlichen Dienstes (WD) der Stadtpolizei Zürich

Eigentlich hätte die Überprüfung dieser Aussage kein Problem sein müssen, denn eine Besonderheit der von der GSG 9 eingesetzte Waffe Heckler & Koch P 7 ist, daß sie noch auf 10 m Entfernung einen ungewöhnlich genau definierten Schmauchkegel erzeugt, anhand dessen die Schußentfernung gut bestimmt werden kann. Daß eine genaue Schußentfernungsbestimmung dennoch nicht möglich war, wird von Dr. Pfister vom Wissenschaftlichen Dienst Zürich nach Versuchen folgendermaßen begründet: "Daraus ergibt sich, daß eine vor der Schmauchspurenasservierung durchgeführten Mikrospurensicherung mit Abklebefolie das Schmauchspurenbild derart verfälscht, daß aufgrund der verbleibenden Schmauchspuren keine Schußdistanzbestimmung mehr vorgenommen werden kann."
Dr. Pfister beschritt daher einen neuen Weg. Eine Besonderheit der von der GSG 9 eingesetzten "Action"-Munition ist nämlich, daß das Geschoß über eine Hohlspitze verfügt, der eine Kunststoffabdeckung aufsitzt. Nach der Produktbeschreibung des Herstellers verläßt diese Kunststoffabdeckung "die Laufmündung mit höherer Geschwindigkeit, als das Geschoß. Durch ihren asymmetrischen Aufbau wird sie sofort aus der Flugbahn des Geschosses gebracht und fällt einige Meter vor der Mündung energielos zu Boden."
Diese Angabe scheint nach den Ergebnissen von Schußversuchen nicht ganz zuzutreffen. Nach Dr. Pfister durchschlugen die Kunststoffabdeckungen "zum Teil, selbst bei einer Schußdistanz von 6 Metern, zwei aufeinandergelegte Kartons mit einer Dicke von je 2 mm". Dr. Pfister folgert hieraus: "Aufgrund dieses Untersuchungsergebnisses sind die kleinen Perforationen in den Kleidern und die korrespondierenden Hautdefekte am Körper von Wolfgang Grams erklärbar, da sie unseres Erachtens durch die vorerwähnten Kunststoffabdeckungen entstanden".
Dieser Ansatz ist im Prinzip schlüssig. Dr. Pfister macht aber bei der praktischen Umsetzung zwei methodische Fehler. Erstens zieht er seine Schlüsse aus einer Versuchsreihe von lediglich 20 Schuß, was aber für eine statistisch sichere Aussage völlig unzureichend ist. Der von der Staatsanwaltschaft Schwerin zusätzlich hinzugezogene Gutachter Prof. Sellier begnügt sich sogar mit einer Versuchsreihe von nur neun Schüssen.
Zweitens geht er bei der Zuordnung der von den Kunststoffkappen verursachten Hautdefekte etwas eigenwillig zu Werke. Eine sichere Zuordnung ist zweifellos möglich, wenn nur ein Schuß gefallen ist und von diesem ein Einschußloch und ein Kappendefekt verursacht wurde. Im vorliegenden Fall wurden aber etwa dreißig Schüsse auf Wolfgang Grams abgegeben. 25 Projektile müssen an ihm vorbeigeflogen sein. Es ist aber keineswegs auszuschließen, daß er von zugehörigen Kunststoffabdeckungen getroffen wurde. Ebensowenig ist auszuschließen, daß er von einem Projektil getroffen wurde, die zugehörige Kunststoffabdeckung aber an ihm vorbeiflog. Dr. Pfister nimmt letzteres sogar für den streifenden Durchschuß der linken Lende an. Beweisen läßt sich diese Annahme aber nicht.
Schließlich berücksichtigt er auch nicht, daß er seine Versuchsreihe unter Laborbedingungen durchführte. Welchen Einfluß z.B. die Windverhältnisse vor Ort auf die Flugbahn der 0,1 gr leichten Plastikkappen haben, ist nicht geklärt.

Das Problem hat Dr. Pfister im Prinzip erkannt. Er wollte ihm dadurch begegnen, daß er seiner Auswertung die jeweils kürzesten möglichen Abstände zugrundelegt. Er kommt dabei zu Abständen von 12, 7, 10 und 8 cm.7
Dr. Pfister ignoriert letzten Endes die auch von ihm selbst zur Sprache gebrachten großen prinzipiellen Unsicherheiten der von ihm angewandten Methode und formuliert als Ergebnis, daß die Schußdistanz in jedem Fall mindestens 1,5 m betragen haben muß. Prof. Sellier glaubt nach nur 9 Schüssen sogar von einer Schußentfernung von "mehreren Metern" sprechen zu können. Aber auch aus 1,5 m Entfernung könnte ein über einer liegenden Person stehender Schütze nur unter großen Verrenkungen schießen.
Die Staatsanwaltschaft Schwerin nimmt dieses Untersuchungsergebnis gerne entgegen und informiert auch sogleich die Medien. Das objektive wissenschaftliche Gutachten des unfehlbaren WD Zürich ist ihr ein willkommener Beitrag zur Demontage der Zeugin Baron.
Im Mai 1994 ist eine Untersuchung zu einem ähnlich gelagerten Fall erschienen, die sich auf eine statistisch ausreichende Versuchsreihe von 250 Schüssen mit der von der GSG 9 benutzten Munition stützt. Die Autoren schossen aus Entfernungen von einem bis zehn Metern jeweils 25 Mal. Aus 1 m Entfernung erzielten sie Abweichungen 0 bis 10 cm, aus 2 m Entfernung 0 bis 13 cm, aus 3 m Entfernung 0 bis 16 cm usw. Daraus folgt, daß drei der vier vom WD Zürich benannten Schüsse (7, 8 und 10 cm) aus einer Entfernung von 1 Meter und weniger abgegeben worden sein können. Die Autoren weisen aber darauf hin, daß diese Untersuchungsmethode in erster Linie zur Überprüfung konkreter Zeugenbehauptungen in Frage komme, die in extremen Fällen bestätigt oder widerlegt werden könnten.
Daß die Zeugen Baron durch diese Untersuchung eher bestätigt als widerlegt, wird liegt auf der Hand. Damit wäre eigentlich eine neue Pressekonferenz der Staatsanwaltschaft Schwerin fällig.

Eine Kuriosität: keine Fingerabdrücke auf der Waffe von Wolfgang Grams

Der Versuch, auf der Tatwaffe Fingerabdruckspuren nachzuweisen, hat ein negatives Ergebnis gebracht. Das muß erstaunen, da doch sicher davon ausgegangen werden kann, daß mehrere Personen die Waffe in der Hand gehabt haben und zumindest Wolfgang Grams, aber auch alle GSG 9-Männer haben keine Handschuhe getragen. "Verständlich" wird es aber, wenn man verfolgt, in welcher Reihenfolge die verschiedenen Untersuchungen an der Waffe vorgenommen wurden.
Sie ging zunächst zum BKA, wo sie beschossen wurde. Ferner wurden spurenkundliche Untersuchungen durchgeführt. Die Waffe wurde danach an Prof. Brinkmann weitergereicht. Er führte eine ausführliche spurenkundliche Untersuchung durch, bei der u.a. biologische Spuren für analytische Zwecke abgenommen wurden. Sie wurde dann nach Zürich gebracht. Der Wissenschaftliche Dienst Zürich asservierte zunächst biologische Spuren. Die Waffe wurde dann mit Klebeband abgetupft und an Prof. Bär weitergereicht, der wiederum biologische Spuren abnahm. Erst danach wurde sie nach Fingerabdrücken untersucht. Dabei bleibt unklar, ob der Züricher Beschuß der Waffe womöglich auch noch vorausging.
Natürlich müssen Fingerabdrucksspuren unter so einer Fülle vorhergehender Untersuchungen leiden - obwohl sie sicher mit Schutzhandschuhen erfolgten, sonst müßten ja Fingerabdrücke der Untersucher vorhanden gewesen sein. Daß schließlich keine Fingerabdrücke mehr vorhanden waren, kann nur heißen, daß sie über einen längeren Zeitraum Stück für Stück vernichtet wurden. Auf diesem Weg kann der letzte Schütze nicht mehr ermittelt werden.
Ein Hintergrund dieser gravierenden "Panne" könnte sein, daß die GSG 9 in Bad Kleinen keine Handschuhe trug.

Schuß von hinten

Prof. Oehmichen vermerkt bei der Erstobduktion von Wolfgang Grams zu dem Durchschuß am linken Mittelbauch die rückwärtige Schußwunde als Einschuß und die vordere als Ausschuß. Der von den Eltern Grams beauftragte Zweitobduzent, Prof. Geserick, schließt sich dem unter Vorbehalt "offenbar" an. Prof. Brinkmann meldet ebenfalls Vorbehalt an aufgrund eines eventuellen Schürfsaumes (als Zeichen für einen Einschuß) bei der vorderseitigen Schußwunde an. Hinsichtlich des Schürfsaumes kommen Oehmichen, Geserick und Brinkmann aber zu drei unterschiedliche Beobachtungen: nur hinten, vorne und hinten und nur vorne. Außerdem weist Prof. Sellier darauf hin, daß auch am Ausschuß ein Schürfsaum entstehen kann. Er ist daher doch kein sicheres Einschußzeichen.
Prof. Bär vom IRM Zürich findet keinen Unterschied in der Schmauchkonzentration, beruft sich aber wegen Epithelfähnchen auf eine andere Untersuchung, derzufolge das auf die Schußrichtung hindeute und geht deshalb von der vorderen Wunde als Einschuß aus. Die angeführte Untersuchung enhält indes nicht den geringsten Hinweis auf die von ihm gezogene Schlußfolgerung.
Dr. Pfister vom WD Zürich bezieht die Umhängetasche von Wolfgang Grams mit ein, deren Durchschuß in der Verlängerung des Schußkanals liegt. Die Umhängetasche hing vor ihm. An ihrer Vorderseite meint er eindeutig einen Einschuß feststellen zu können.
Die Schmauchspurenhäufigkeit ist in entgegengesetzter Richtung abnehmend: am Pollunder hinten fünf Partikel, an der Rückseite der Tasche drei, an der Vorderseite ein Partikel. Auch wenn keine quantitative Schmauchbestimmung durchgeführt wurde, kann hieraus doch wohl abgeleitet werden, daß die Schmauchkonzentration von hinten nach vorn abnimmt. Das spricht für eine Schußrichtung von hinten nach vorn.




  1. S. Berg, Grundriß der Rechtsmedizin, München 1984
  2. Eine Methode, die sich nicht nur im Fall Bad Kleinen bewährt hat: eine Argumentation kann noch so unplausibel sein, wenn sie nur "wissenschaftlich" daherkommt, läßt sich mit ihr jeder unliebsame Fakt relativieren.
  3. Das SEK Nordrhein-Westfalen wollte leider keine Auskunft geben, wie so ein Entwindungsgriff polizeilich korrekt angesetzt wird.
  4. Weniger vorstellbar ist, daß das Notarzt-Team dieses in Kauf nahm, obwohl das Legen venöser Zugänge zu den ersten Notmaßnahmen gehört. Auch der Handrücken bietet sich hierfür an. Tatsächlich haben sowohl Prof.Oehmichen als auch Prof. Geserick auf dem rechten Handrücken eine Punktionsstelle beschrieben.
  5. O. Prokop, W. Göhler, Forensische Medizin, Stuttgart 1976
  6. K. Sellier, Schußwaffen und Schußwirkungen, Lübeck 1982
  7. Prof. Bonte hat in seinen Untersuchungen anhand der gleichen Unterlagen festgestellt, daß die Angaben Dr. Pfisters unzutreffend sind. In drei Fällen sind sie nicht haltbar, in einem Fall ergibt sich sogar ein möglicher Abstand von lediglich 4 cm, was nach den von Dr. Pfister vorgelegten Experimentalergebnissen einer Schußentfernung von nur 75 cm entsprechen. In einem anderen Fall ist sogar ein Nahschuß aus etwa 25 cm Abstand konstruierbar.