Der Spiegel,4.7.94
Links Prof.
Bonte, Institut für Rechtsmedizin der Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf,
rechts
Prof. Brinkmann vom Institut für Rechtsmedizin Münster.
Die folgenden Ausführungen stützen sich weitgehend auf die
Arbeit des von den Eltern Grams bestellten Gutachters Prof. Bonte, Leiter des
rechtsmedizinischen Instituts der Universität Düsseldorf. Aus Gründen
der Lesbarkeit haben wir zum größten Teil auf wörtliche Zitate
verzichtet (obwohl auch viele Formulierungen - aber nicht alle Wertungen -
direkt seinem Gutachten entnommen sind). Alle wichtigen Ergebnisse seiner
Gutachten sind in dieses Buch eingearbeitet. Zu Dokumentationszwecken war zuerst
ein vollständiger Abdruck im Anhang geplant, er mußte dann aber aus
Platzgründen aufgegeben werden.
Prof. Bonte hat in einem ersten Gutachten die Argumente und Schlußfolgerungen
der von der StA Schwerin bestellten Gutachter, insbesondere des Münsteraner
Rechtsmediziners Prof. Brinkmann und des Wissenschaftlichen Dienstes der
Stadtpolizei Zürich (WD), auf ihre wissenschaftliche Richtigkeit und
Plausibilität überprüft. In einem zweiten Gutachten hat er Spuren
untersucht, die für eine gewaltsame Entwindung von Wolfgang Grams' Waffe
sprechen. Diese Spuren waren von der StA Schwerin unter den Teppich gekehrt
worden. Schließlich verdanken wir ihm auch den Hinweis auf eine aktuelle
Untersuchung aus den USA, die eine weitere "wissenschaftliche" Säule
der Schweriner Selbstmordbehauptung, die angebliche Mindestschußentfernung
von 1,5 Metern, widerlegt.
Dem Gutachten von Prof. Brinkmann kommt in der Schweriner
Selbstmord-Argumentation eine ganz zentrale Bedeutung zu. Im Gegensatz zu allen
seinen Kollegen inclusive dem hochgelobten WD Zürich ist Prof. Brinkmann nämlich
der Einzige, der behauptet, einen Selbstmord beweisen zu können. Alle
anderen können letztlich weder Mord noch Selbstmord ausschließen und
das ist infolge der umfangreichen Spurenvernichtung an ganz zentralen Punkten
aus gutachterlicher Sicht leider auch das einzig mögliche Ergebnis.
Es ist bemerkenswert, wie Prof. Brinkmann zu seinem "Beweis"
kommt. Seine Argumentationskette lautet kurz gefaßt folgendermaßen:
Um diese Argumentationskette zu bewerten, soll sie der Reihe nach
untersucht werden:
Prof. Brinkmann geht von einer starken Links-Rückenlage bzw. sogar
einer Links-Seitenlage des Kopfes aus. Nur dadurch könnte die Blutfontäne
nicht weit weg spritzen, sondern in steilem Bogen fast senkrecht direkt neben
Wolfgang Grams auf dessen ihm inzwischen aus der Hand und zu Boden gefallene
Waffe niederregnen.
Bei der Rekonstruktion der Kopflage stützt sich Prof. Brinkmann auf
die Messungen von Prof. Oehmichen, dem von der Staatsanwaltschaft Schwerin
bestellten Erstobduzenten. Der von den Anwälten der Eltern Grams bestellte
Obduzent Prof. Geserick kam aber bezüglich der Lage der Kopfschußverletzung
zu wesentlich anderen Ergebnissen als Prof. Oehmichen. In einem weiteren
Gutachten zog deshalb Prof. Bonte zur Klärung der differierenden Ergebnisse
Fotografien von der Kopfschußverletzung heran und gelangte bei ihrer
Vermessung zu ähnlichen Resultaten wie Prof. Geserick. Ebenso ergab sich
eine gute Übereinstimmung mit einer Vermessung des Schußkanals im
Gehirn, die im Universitätsspital Zürich durchgeführt worden war.
In die Berechnungen wurde ebenfalls der Fundort der beiden Projektilteile im
Schotter miteinbezogen, die von allen Gutachtern übereinstimmend mit dem
Kopfschuß in Verbindung gebracht werden.
Im Resultat ergibt sich, daß der Kopf von Wolfgang Grams schräg
zur Fahrtrichtung auf der Schiene gelegen haben muß. Die Neigung nach
links kann aber nur unbedeutend gewesen sein (maximal 18 Grad gegen die
Horizontale). Interessanterweise entspricht die berechnete Lage ziemlich gut der
Lage während der notärztlichen Behandlung.
Auch in der Frage, in welcher Richtung Blut und Gewebe aus der
Einschußwunde abspritzen konnte, geht Prof. Brinkmann von falschen
Annahmen aus. Die Kopfhaut wölbt sich im Augenblick des Einschusses durch
die expandierenden Gase explosionsartig gegen die Frontfläche der Waffe
vor. Sie hat die Tendenz, diese allseitig zu umschließen. Bei allseitig
gleichmäßigem Überstülpen könnten Blut-und
Gewebsspritzer überhaupt nur gegen die zentrale Frontfläche und in das
Laufinnere geschleudert werden.
Aus dem Verlauf des Schußkanals ist nun aber abzuleiten, daß
der Lauf nicht genau senkrecht gegen die Kopfhaut gerichtet war, sondern,
bezogen auf den liegenden Kopf von der Seite, etwas nach unten links. Das
korrespondiert mit der Stanzmarke, die nur oben und rechts sichtbar ist. Genau
hierdurch sind auch die beiden Wundrandeinrisse unten und links zu erklären,
aus welchen nun in der Tat Blut/Gewebe außerhalb der Kontaktfläche
der Waffe abspritzen konnte. Hierdurch ist zugleich erklärt, weshalb die
Waffe nur auf der linken Seite und obenauf bespritzt wurde. Prof. Brinkmann
irrt, wenn er behauptet, daß Blut/Gewebe genau oder auch nur annähernd
senkrecht nach oben spritzen mußte. Ein Abschleudem konnte nur nach links
und unten erfolgen.
Die Annahme einer sofortigen Lähmung ist nach der einschlägigen
Literatur keineswegs gerechtfertigt. Hierzu ein Zitat: "Ganz abgesehen von
der oft erstaunlich langen Überlebenszeit nach den schwersten Verletzungen
(Kopfschüssen, Herzverletzungen) besteht mit ganz wenigen Ausnahmen auch in
den meisten Fällen eine ausgedehntere oder geringere Handlungsfähigkeit.
Eine sichere Verneinung der Frage, ob der Verletzte noch bestimmte Handlungen
vollbracht haben kann, ist nur möglich bei hochsitzenden Rückenmarksläsionen,
ausgedehnter Zertrümmerung des Schädels und vollständiger
Unterbrechung der cerebralen Blutversorgung".1
Hirnverletzungen, aus welchen eine sofortige Handlungsunfähigkeit
abzuleiten ist, sind dem Gutachten der Züricher Universität nicht zu
entnehmen.
Damit soll nicht behauptet werden, Wolfgang Grams wäre noch zu bewußten
und gesteuerten Handlungen in der Lage gewesen. Aber es gibt verschiedene Stufen
der Handlungsfähigkeit. Hier geht es ausschließlich um die Frage, ob
ihm notwendigerweise wegen einer in Bruchteilen von Sekunden einsetzenden Atonie
und damit Handlungsunfähigkeit die Waffe sofort aus der Hand fallen mußte,
wie es von Prof. Brinkmann unterstellt wird. Das ist sicher nicht der Fall. Das
Argument einer sofort einsetzenden atonischen Lähmung ist demnach nicht
stichhaltig.
Ein Element von Prof. Brinkmanns Selbstmord-Argumentation ist die
angebliche Abwesenheit von Blutanhaftungen im Inneren des Laufs der Czeska von
Wolfgang Grams.
Dieses Argument ist schon deshalb nicht stichhaltig, weil es keine
wissenschaftliche Untersuchung gibt, die einen Zusammenhang zwischen
Kontaktdauer und Blutmenge im Laufinnern belegt. Im Gegenteil ist in einer
Untersuchung von sicheren Selbstmorden in 20 Fällen von aufgesetztem
Kopfschuß wurden nur einmal Gewebespritzer in der Waffe nachgewiesen.
Chemische Tests führten in 8 der 20 Fälle zu einem positiven
Blutnachweis.
Blut im Lauf der Waffe ist also auch bei aufgesetztem Schuß kein
Regelbefund. Aus der Blutmenge im Laufinnern können folglich keine Rückschlüsse
gezogen werden.
Ungeachtet der Tatsache, daß das Nichtvorhandensein dieser Spuren
nichts beweist, ist noch nicht einmal sicher, daß es diese Spuren wirklich
nicht gab. Prof. Brinkmann drückt sich in seinem Schlußgutachten sehr
vage aus, indem er von "geringfügigsten Blutanhaftungen" und
sogar von "Anhaftungen mit geringfügigen Blutanteilen" spricht.
Es wurde aber keine genaue Quantifizierung durchgeführt, was die Aussage "geringfügigste
Blutanhaftungen" ja nahelegt. Eine Mischspur mit quantitativ belegtem
Anteil von Blut ist erst recht nicht nachgewiesen. Besonders nebensächlich
wird Prof. Brinkmanns Argumentation aber, weil die Waffe schon beschossen wurde,
bevor er das Laufinnere auf Spuren untersuchte!
Prof. Brinkmann hat überraschende Vorstellungen von der
Fluggeschwindigkeit von Blut-und Gewebsspritzern.
In amerikanischen Untersuchungen wird zwischen "low, medium, and high
velocity blood-splatter" (langsame, mittelschnelle und sehr schnelle
Blutspritzer) unterschieden. Von "low velocity" spricht man, wenn Blut
allein durch die Schwerkraft herabfällt. "Medium velocity" haben
Spritzer, die beim Schlag auf eine bereits blutende Nase entstehen. "High
velocity" kann nur durch Projektile aus Feuerwaffen erzeugt werden. Zum
Vergleich: "High velocity" wird nur von aus Langwaffen verfeuerten
Geschossen erreicht. Diese sind etwa viermal schneller, als Geschosse aus
Faustwaffen.
Es fällt schwer, anhand dieser Beobachtungen eine Zeitschä-tzung
vorzunehmen. Daß es sich aber nur um Millisekunden handeln kann, ergibt
sich aus Folgendem: Ursache der Blut- und Gewebsabspritzung ist die Druckerhöhung
im Augenblick des Einschusses. Diese Druckwelle läuft mit einer
Geschwindigkeit von etwa 1600 m/sec, ist also wesentlich schneller als das
Geschoß. Die Geschwindigkeit der Blutteilchen ist dadurch ebenfalls
wesentlich größer als die des Geschosses.
Ebenso schwer kann die Zeit eingeschätzt werden, die eine sofort
herabfallende Waffe bis zum annähernden Bodenkontakt benötigt. Da
indes im wesentlichen die Schwerkraft eine Rolle spielen dürfte, ist nach
dem vorigen von einer "low velocity" auszugehen.
Die Annahme von Prof. Brinkmann, daß die letztere Zeit kürzer
ist, als die erstere, ist eine durch nichts belegte Fiktion. Wenigstens bei schräg
oder horizontal abspritzenden Teilchen ist zu erwarten, daß diese den
Boden der näheren Umgebung weit schneller erreichen als eine aus der Hand
fallende Waffe.
Interessant ist in diesem Zusammenhang eine Bemerkung im abschließenden
Gutachten von Prof. Brinkmann, die freilich in einem anderen Zusammenhang steht
(Frage der Endlage des rechten Arms): "Hinzu kommt die Unwägbarkeit,
wie fest im Augenblick der Schußauslösung die Schußhand mit der
Waffe verbunden war bzw. wann sie sich löste und wie lange damit die
Bewegung des Arms passiv durch die Bewegung der Waffe bestimmt war".
Umgekehrt wird bei der Frage nach der Endlage der Waffe erklärt: "Je
nachdem, wie lange die Waffe in der Hand des Grams noch fixiert war und ihre
Bewegung durch die Armbewegung beeinflußt wurde (...)". Hier werden
also Unsicherheiten hinsichtlich des Zeitpunktes der Lösung der Hand von
der Waffe deutlich. Gleichwohl soll die Waffe schneller den Boden erreicht
haben, als die mit "high velocity" fliegenden Partikel. Prof.
Brinkmann widerspricht sich hier selbst.
In seinem Abschlußgutachten behauptet Prof. Brinkmann, Blutspuren hätten
sich lediglich auf der linken Seite der Waffe von Wolfgang Grams gefunden. Auf
seiner eigenen Handskizze sind jedoch auch auf der Oberseite der Waffe mehrere
Blutspritzer auf der linken Seite des Korns eingezeichnet. Auch auf den Fotos
der Waffe ist auf der Laufoberfläche oberhalb des "D" von "MODEL
75" eine rötliche Anhaftung zu erkennen. Und Prof. Bär von der
Universität Zürich beschreibt eine "wenige mm große
Blutspur ab Laufoberseite über Riffelung direkt vor Visier".
Das Spritzmuster der Blutspuren an der Czeska beschreibt Prof. Brinkmann
in seinem Zwischengutachten mit "spritzartig", "rundlich", "ovalär
ausgezogen" und in einem Fall "ausrufezeichenartig ausgezogen".
Prof. Brinkmann schließt insbesondere aus der ausrufezeichenförmigen
Spur auf einen aufgesetzten Schuß. Noch auf einer Sachbearbeiterkonferenz,
die der WD Zürich im Rahmen seiner Untersuchungen einberufen hat, erwähnt
Prof. Brinkmann ein "laufparalleles Spritzspurenmuster", das
spezifisch für einen absoluten Nahschuß sei.
In seinem abschließenden Gutachten spricht Prof. Brinkmann dagegen
von "ganz überwiegend sogenannten Sprayspuren mit rundlicher
Konfiguration. Nur ganz vereinzelt läßt sich eine leicht ovaläre
Konfiguration erkennen". Bei der hierzu nicht passende ausrufungszeichenförmige
Spur findet er nun auf Detailaufnahmen, "daß die Kontur des
Anfangsteils des Ausrufungszeichens möglicherweise sekundäre Veränderungen
aufweist". Die bloße Möglichkeit reicht nachfolgend aus, diese
Spur aus den Überlegungen auszuklammern.
Daraus entwickelt Prof. Brinkmann nun ganz andere Schlußfolgerungen
als in seinem vorläufigen Gutachten, freilich ohne seine Meinungsänderung
kenntlich zu machen: "Das Spurenbild mit den zahlreichen punktförmigen
runden Spuren ist dadurch zu erklären, daß entsprechende Blutpartikel
senkrecht gegen die Ebene der linken Seite geprallt sind" Und andersherum: "Das
Blutspurenmuster an der Waffe läßt sich nicht dadurch erklären,
daß das primär aus den Wunden austretende Blut tangential gegen den
Lauf prallte. Form und Verteilung der Spuren sprechen eindeutig hiergegen".
So bleibt angeblich nur die Möglichkeit, daß die bereits auf dem
Boden liegende oder sich dahin bewegende Waffe von einem herabregnenden Spray
getroffen wurde.
Prof. Brinkmann ignoriert also seine eigenen Beobachtungen, um zum gewünschten
Ergebnis zu kommen.
Aber das ist noch nicht alles. Die Annahme, daß die Bespritzung der
auf dem Boden liegenden Waffe ein zwingendes Indiz für Selbstmord sei, ist
nur bei oberflächlicher Betrachtung plausibel. Was für die Waffe gilt,
muß nämlich auch für die Opfer-Hand gelten. Es gibt keinen Grund
anzunehmen, daß die Waffe den Boden grundsätzlich eher erreicht, als
die Hand. Das würde bedeuten, daß auch die Hand sekundär
bespritzt werden kann. Wäre es so, dann hätte allerdings eine
allgemein akzeptierte rechtsmedizinische Regel keine Berechtigung, die in allen
Lehrbüchern nachzulesen ist: die Regel nämlich, daß Blut-und
Gewebespritzer auf der Hand des Opfers Selbsttäterschaft beweisen. Es sind
ja zahlreiche Konstellationen vorstellbar, bei welchen die Opferhand - folgt man
der Argumentation von Prof. Brinkmann - auch bei Fremdtäterschaft sekundär
bespritzt wird. Prof. Brinkmann setzt sich hier also in Widerspruch zu der
rechtsmedizinischen Lehrmeinung.
Bei den Blutspuren an der Waffe von Wolfgang Grams handelt sich um einen
Regelbefund bei direkte, auch streifendem Anspritzen. Die Schlußfolgerung,
daß das Spurenmuster nur durch sekundäres "Herabregnen"
erklärt werden kann, ist falsch.
Damit sind aber alle Glieder der Argumentationskette von Prof.
Brinkmann widerlegt! Die Waffe wurde noch beim Ansetzen an die Schläfe mit
Blut- und Gewebsteilen bespritzt. Alle anderen Überlegungen sind abwegig
und überflüssig. Auch die Lokalisation der Spuren auf der Waffe ist
mit einer normalen Handhaltung ohne weiteres vereinbar. Ein Rückschluß
auf Selbsttäterschaft ist wissenschaftlich nicht haltbar.
Aus einem Vermerk des LKA Mecklenburg-Vorpommern ergibt sich, daß die
auf Blutspuren untersuchte Bekleidung der Beamten der GSG 9 auf eigene
Initiative der RM Münster auch auf Fremdfasern untersucht worden ist. Es
ist aus dem Gutachten des Münsteraner Professors Brinkmann an keiner Stelle
ersichtlich, was diese Untersuchung auf Fremdfasern gebracht haben soll.
Stattdessen hat sie frühzeitig Untersuchungen unmöglich gemacht, die
von zentraler Bedeutung gewesen wären, vor allem die Bestimmung der Schußentfernung
der GSG 9 zu Wolfgang Grams und die genauere Untersuchung der Blutspuren von
Wolfgang Grams an der Jacke von GSG 9 Nr. 6, die ihn möglicherweise als Täter
hätten überführen können.
Im Zusammenhang damit, daß Prof. Brinkmann der einzige Gutachter
ist, der die Schweriner Selbstmord-Behauptung mit einem "Beweis" stützt
- ein Beweis, der vollständig unhaltbar ist und in dem er sich an einigen
Stellen über seine eigenen Untersuchungsergebnisse hinwegsetzt - ergibt
sich ein sehr zwielichtiges Bild dieses "Experten".
Schon der Erstobduzent der StA Schwerin, Prof. Oehmichen, entdeckte eine "streifenförmige,
getreidekorngroße Oberhautabschürfung (...) an der Außenseite
der Schwimmhaut zwischen Zeigefinger und Daumen, praktisch querfingerbreit
oberhalb des Handgelenks gelegen. Von hier aus erkennt man eine streifenförmige
Rötung". Auch Prof. Bär vom IRM Zürich beschreibt diese
Verletzung: "Die Haut innerhalb des Daumen-Zeigefingerwinkels zwischen 1.
und 2. Strahl am Handrücken mit streifiger, halbovaler, oberflächlich
geschürfter Hautveränderung von ca. 4 cm maximaler Schenkellänge
und ca. 4 mm Breite; eine Schürfungsrichtung kann nicht bestimmt werden".
Links die
Pistole Czeska 75 Brunner, rechts die Schürfung an der Hand
Prof. Bär stellt auch Überlegungen zum möglichen Ursprung
dieser Verletzung an: "Die Waffe CZ 75 des Grams weist hinten am Griffstück
oben eine zungenartige metallene Kontur auf, die teils leicht kantig gestaltet
ist. Zusätzlich muß, da Grams ja aus seiner Waffe Schüsse
abgegeben hatte, der Schlaghammer in gespannter Stellung gestanden haben. (...)
Bei Drehung der Waffe in der sogenannten Hochachse überstreicht dieser
Schlaghammer eine Zone, die dem Bereich der an der rechten Hand des Grams
festgestellten Schürfung in etwa entspricht. Bei entsprechend grosser
Kraftaufwendung, etwa beim brüsken Nachhinten- und -obendrücken des
Waffenlaufes und bei gleichzeitiger Verdrehung der Waffe in der Hochachse kann
es zu einem gewaltsamen Kontakt mit Reiben des Schlaghammers an der Haut kommen
(...) Diese Schürfung an der rechten Hand des Grams könnte nach diesen
Überlegungen deshalb durch den Schlaghammer am Waffenrücken der CZ 75
infolge eines sehr engen, gewaltsamen und eventuell unfreiwilligen Kontakts der
rechten Hand des Grams mit diesem Schlaghammer entstanden sein. Es ist dabei
auch an einen sogenannten Griff zur Entwindung der Waffe (= Entwindungsgriff)
aus der Hand zu denken".
Während Prof. Bär in seinem Gutachten für die StA diesen
Gedanken entwickelt, geht es in der veröffentlichten Auseinandersetzung
noch um die Frage, ob die Waffe links oder rechts neben Wolfgang Grams lag, den
kein GSG 9-Beamter je überhaupt berührt haben will.
Der wissenschaftlich gestützte Beweis, daß dies gelogen ist und
die Öffentlichkeit mit Scheindiskussionen eingeschläfert wird, hätte
damals vielleicht noch das glanzlose Ende der Selbstmord-Behauptung bedeuten können.
Und so ergibt es sich, daß Prof. Bär seinem Gutachten auch eine
entschärfende Alternativargumentation beilegt 2:
"Andererseits ist (...) aus einer Videoaufnahme des am Boden liegenden
Grams (...) aber ersichtlich, daß die rechte Hand des Grams in jenem
Zeitpunkt der notärztlichen Behandlung unterhalb des rechten Gesäßes
- scheinbar wie eingeklemmt und mit dem Handrücken bodenwärts
(schotterwärts) verdreht - gelegen hatte. Damit ist nicht mehr auszuschließen,
daß die angesprochene halbovaläre Hautabschürfung am rechten
daumenseitigen Handrücken durch einen Kontakt mit einem Schotterstein, etwa
beim Hervorziehen, respektive Hervordrehen des rechten Vorderarmes (zur anschließenden
Blutdruckmessung ?), entstanden war".
In heiklen Fällen hat die StA Schwerin öfter noch einen weiteren
Gutachter hinzugezogen, so auch dieses Mal und zwar wieder Prof. Sellier: "Dreht
man aber die Waffe um ihre Hochachse im Uhrzeigersinn (von oben her gesehen), so
verliert der Hahn nach etwa 30 Grad Drehung zwangsläufig den Kontakt mit
der Haut, (...) so daß zwar möglicherweise der imponierende Teil der
Hautveränderung erklärt werden kann, nicht aber die übrigen
bogenförmigen (...) Ich meine, daß sie ( die Hautveränderung, d.
Verf.) durch Berührungen des Handrückens mit dem Schotter sehr gut
erklärt werden kann, denn Grams ist durch die Rettungsmaßnahmen
mehrfach gewendet worden. Dabei lag die (rechte) Hand auch unter seinem Körper
und wurde dabei (durch seine Körpermasse) gepreßt mit den
entsprechenden Folgen."
Die Anwälte der Eltern Grams haben dieses Untersuchungsergebnis von
Prof. Bonte überprüfen lassen. Prof. Bonte kommt aufgrund eigener
experimenteller Untersuchungen zu dem Ergebnis, daß die Verletzung aller
Wahrscheinlichkeit von einem Entwindungsgriff herrührt. Er hat dazu
verschiedene denkbare Versionen eines Entwindungsgriffes durchgespielt 3, bei denen er im Prinzip vergleichbare Ergebnisse
erzielte. Es zeigte sich indes, daß das Versuchsergebnis durch zwei
Faktoren entscheidend beeinflußt wurde: dem Ausmaß der Anhebung des
Laufs nach oben und dem Grad der lokalen Gewalteinwirkung durch das Hahnende.
Wird der Lauf nur wenig nach oben gedrückt , dann stellt sich der von
Prof. Sellier beschriebene Effekt ein: sowohl das Hahnende, als auch die Lippe
des oberen Griffrückens werden auf den Handrücken gedrückt.
Sowohl die Lippe als auch das Hahnende hinterlassen kurze, gering bogenförmige,
und durchbrochene Abblassungen.
Bei stärkerer Anhebung des Laufs berührt indes ausschließlich
das Hahnende den Handrücken. Welche lokale Veränderung sich unter
dieser Voraussetzung einstellt, hängt jetzt nur noch vom Grad der
Gewalteinwirkung ab. Immer zu sehen ist eine bogige Abblassung, deren
Konfiguration weitgehend der Rötung auf dem rechten Handrücken von
Wolfgang Grams entspricht. Wird die Waffe mit äußerster Kraft
entwunden, dann entsteht ebenfalls zunächst eine bogige Abblassung, die am
Beginn der Spur unter Umständen deutlich, im übrigen Verlauf aber äußerstenfalls
ganz oberflächlich angeschürft ist.
Der Sellier'sche Einwand gilt also nur, wenn der Lauf gering oder gar
nicht angehoben wird. Um eine sichtbare Spur zu hinterlassen, muß ferner
erhebliche Gewalt eingesetzt werden. Forcieren läßt sich dieses, wenn
im Rahmen der Entwindung der Daumen zwischen Hahn und Lauf gelegt wird - wie es
sinnvoll wäre, um eine unbeabsichtigte Schußauslösung während
der Entwindung zu verhindern - , wodurch lokal ein zusätzlicher Druck ausgeübt
wird.
Die von Prof. Bär entwickelte Alternative ist prinzipiell denkbar.
Tatsächlich ist auf Aufnahmen vom Tatort eine Lageänderung des rechten
Arms von Wolfgang Grams zu erkennen, auch wenn man deshalb nicht gleich, wie
Prof. Sellier, von "mehrfachem Wenden" sprechen kann. Zunächst
liegt die Hand unter dem Gesäß, sie ist stark nach außen zu
abgewinkelt, der Arm leicht gebeugt. Der vordere Handrücken zwischen den
Grundstrahlen von Daumen und Zeigefinger ist möglicherweise genau nach
unten gekehrt, liegt also dem Schotter auf. Auf der folgenden Aufnahme liegt der
Arm ausgestreckt neben dem Verletzten, könnte also in der Zwischenzeit
unsanft herausgezogen worden sein. Daß sie bei der letzteren Alternative
verletzt werden konnte, ist vorstellbar.4
Zur Verifizierung führte Prof. Bonte auch mehrere Versuche mit
Gleisschotter durch. Dabei konnten zwar im Selbstversuch regelmäßig
Hautabschürfungen erzeugt werden, die aber ein anderes Aussehen hatten, als
der Befund auf dem rechten Handrücken von Wolfgang Grams. Es enstanden
haarfeine Schürflinien, oftmals mehrere, die streng parallel liefen. Sie
waren von einer unregelmäßigen Hautrötung umgeben. Eine andere
Frage war, ob beim Herausziehen der Hand unter dem Gesäß ein so
auffallender, geometrisch regelmäßiger Befund erzeugt werden kann,
wie er auf dem Handrücken von Wolfgang Grams festgestellt wurde. Mit
Sicherheit kann gesagt werden, daß ein bloßes Herausziehen an der
Hand, am Ellenbogen oder an Hand und Ellenbogen gleichzeitig eine nahezu
Iineare, aber keine viertelelliptische Hautveränderung erzeugt. Theoretisch
vorstellbar wäre, daß ein fließender Übergang von einem
anfänglichen Zug an der Hand zu einem nachfolgendem Zug am Ellenbogen einen
solchen Befund hervorruft. Bei den Experimenten ist dieses nicht gelungen, nicht
einmal annähernd.
Prof. Bonte weist noch auf ein weiteres wichtiges Indiz hin, daß
gegen die von Prof. Bär entwickelt Theorie spricht: "Wenn man auf den
- unwahrscheinlichen Fall einer viertelellipsigen Hautveränderung abstellt,
muß man von einer Schürfrichtung ausgehen, die jener durch den Hahn
der Waffe genau entgegenläuft: Beginn am Daumengrundgelenk und Ende auf der
Schwimmfalte handgelenkwärts. Noch wichtiger ist die Beobachtung, daß
nur am Beginn der Hautveränderung eine eindeutige Hautabschürfung
entsteht, in diesem Fall also am Daumengrundgelenk und nicht im
Zeigefinger-Daumen-Winkel wie bei Wolfgang Grams. Das ist auch theoretisch
nachvollziehbar: Der primäre Auflageort der Hand auf dem Schotter ist der
stärksten (und längsten) Belastung durch das Gesäß
ausgesetzt; beim Herausziehen kommt es zu einer allmählichen Entlastung.
Auch wenn man also zwei jeweils für sich unwahrscheinliche und im
Experiment nicht bestätigte Verletzungsmechanismen unterstellt, gleichmäßig
breite oberflächliche Hautabschürfung oder Rötung und
viertelellipsige Schürffigur durch einen Schotterstein, bleibt ein
eindeutiger Widerspruch bestehen: die markante und lokal betonte Hautabschürfung
würde mit Sicherheit am daumennahen Ende der Verletzung liegen und nicht am
handgelenksnahen, wie im Fall Wolfgang Grams."
Prof. Bonte kommt daher zu folgendem Schluß: "Die auf dem
rechten Handrücken von Wolfgang Grams festgestellte bogenförmige
Hautabschürfung und -rötung läßt sich widerspruchsfrei
durch einen streifenden Kontakt mit dem Hahnende im Rahmen eines
Entwindungsgriffs erklären. Form und Aussehen der Hautveränderung sind
im Experiment in weitestgehender Annäherung reproduzierbar. Auch beim
Herausziehen der zwischen Schotterbett und Gesäß eingeklemmten Hand hätte
es im Prinzip zu einer Verletzung am gleichen Ort kommen können. Es ist
unwahrscheinlich, daß dabei eine regelmäßige viertelelliptische
Rötung ohne durchgehend sichtbare Hautabschürfung entstanden wäre.
Mit Sicherheit wäre es zu einer umschriebenen Hautabschürfung in der Nähe
des Daumengrundgelenks gekommen, nicht aber im handgelenksnahen Bereich, wie im
vorliegenden Fall."
Prof. Brinkmann kommt nach der spurenkundlichen Untersuchung der Bekleidung
der Einsatzkräfte zu folgendem Schluß: "Zusammenfassend ergibt
sich, daß nur an der Jacke von GSG-9 Nr. 6 humanes Blut nachgewiesen
werden kann, welches Herrn Grams zugeordnet werden kann." Diese Blutspur
ist seinen Angaben nach wenig aussagekräftig: "Die kontaktartige,
formlose Ausprägung dieser Spur und ihre Lokalisation an der Rückseite
des rechten Ärmels weisen nicht zwangsläufig auf einen bestimmten
Entstehungsmechanismus hin". Will sagen, sie hätten auch bei einer Berührung
von Wolfgang Grams durch den GSG 9-Beamten, etwa beim Abtransport in das
Krankenhaus, entstehen können. Daraus schließt er, daß GSG 9
Nr. 6 nicht der Mörder gewesen sein kann. Das ist aber ein doppelt falscher
Schluß.
Erstens gibt es noch eine andere Erklärung für die undeutliche
Ausprägung dieser Spur. Hierzu wurden Klebefolien-Abzüge hergestellt.
Es liegt auf der Hand, daß dadurch 1. Spuren ausgedünnt werden können,
danach also quantitativ nicht mehr erfaßbar sind und daß 2. gerade
feine Spritzspuren, wie sie durch das aus der Wunde herausgeschleuderte Blut-und
Gewebespray entstehen können, nach dem vollflächigen Abkleben der
Kleidung mit Adhäsionsfolie nicht mehr als solche erkennbar sind.
Die Frage ist also, ob die Abklebung der GSG 9-Bekleidung vor oder nach
der serologischen Untersuchung geschah. Bei der Untersuchung der Bekleidung von
Wolfgang Grams wurde folgendermaßen vorgegangen : "Zur Sicherung von
Mikrospuren (Kontakt- bzw. Faserspuren) wurden zuerst alle Kleidungsstücke
mit Adhäsionsfolie abgeklebt". Die Unterstreichung stammt von Prof.
Brinkmann. Er weist damit also ganz gezielt auf die aus seiner Sicht richtige
Reihenfolge hin. Sollte er entgegen seiner Überzeugung bei der Untersuchung
der Bekleidung der Einsatzkräfte anders vorgegangen sein? Ganz offenbar
nicht, denn Prof. Bär von der Züricher Universität entdeckt auf
den im Institut für Rechtsmedizin Münster entnommenen Klebefolien an
der Vorderseite der Jacke und der Hose von GSG 9 Nr. 6 eine Mischspur aus
Gewebe- und Blutkrüstchen. "In dieser Mischspur kann anteilmäßig
Grams nicht ausgeschlossen werden, da er zwei der drei Merkmale auch besitzt"
Daß Prof. Brinkmann diese Spuren nicht gefunden hat, muß demnach heißen,
daß er entweder nicht (sorgfältig) gesucht hat oder daß die
Kleidung vor der Untersuchung auf Blutspuren abgeklebt wurde. Sein negativer
Befund ist in beiden Fällen bedeutungslos.
Nun könnte man meinen, es sei gleichgültig, ob sich die Spuren
im Original auf der Bekleidung oder quasi als Abklatsch auf der Folie befinden.
Aber, wie Prof. Bär es ausdrückt "Da der genaue Entnahmeort (nur
Vorderseite der Jacke, respektive Hose) dieser Klebefolien nicht rekonstruierbar
ist und somit eine genauere Zuordnung der in den Klebefolien haftenden
Gewebepartikel an bestimmte Partien an der Vorderseite der Kleider nicht möglich
ist, (...) sind weitergehende Interpretationen aus unserer Sicht nicht möglich."
Wichtig ist auch, daß die Unterlagen des Züricher Gutachtens
darauf hindeuten, daß eine Hälfte der Klebefolien zuerst zur
Schmauchspurenbestimmung an den WD Zürich gingen. Darauf weist jedenfalls
die Bemerkung im Gutachten des WD der Stadtpolizei hin, es sei versucht worden,
"je auf der halben Abklebefolie allfällig vorhandene Schmauchpartikel
sichtbar zu machen". An anderer Stelle im WD-Gutachten heißt es: "Am
30.8.1993 erhielten wir vom IRM Münster unter anderem zwei Abklebefolien,
mit denen an diesem Institut ab der Jacke des GSG 9-Beamten Nr. 6 Mikrospuren
gesichert worden waren". Dann folgen Ausführungen, wie diese Folien
behandelt wurden. Die Weinsäure/Natriumrhodizonat-Methode wird beschrieben.
Sie ist unzweifelhaft geeignet, biologische Spuren zu zerstören oder zu
beseitigen. D.h. daß auf der Hälfte der Klebefolien eventuelle
Blutspuren ohne Untersuchung vernichtet wurden.
Die Ergebnisse der Blutspurenuntersuchung sind also wenig aussagekräftig.
Sie besagen nicht mehr, als daß die Bekleidung des GSG 9-Beamten Nr. 6
nicht nur an der Rückseite des rechten Ärmels, sondern auch an der
Vorderseite von Jacke und Hose Blutspuren aufwies, die Wolfgang Grams zugeordnet
werden können. Ob es sich ursprünglich um geringste sekundäre
Kontaktspuren oder um umfangreichere Anspritzungen gehandelt hat, ist angesichts
der insuffizienten Handhabung bereits im Vorfeld der Untersuchungen nicht mehr
zu entscheiden.
Zweitens: Es ist nach den vorliegenden mangelhaften Untersuchungsergebnissen
nicht zwingend abzuleiten, daß sich der Beamte Nr. 6 in unmittelbarer Nähe
von Wolfgang Grams aufhielt, als der Kopfschuß fiel, was für seine Täterschaft
Voraussetzung wäre. Prof. Brinkmann dreht das Problem nun aber genau in die
andere Richtung. Er erklärt kategorisch: "Jedenfalls scheidet insoweit
eine Entstehung durch das unmittelbare Schußgeschehen aus. Der Unterarm
des rechten Ärmels sowie die anderen Teile dieser Jacke sind frei von
Blutspuren". Selbst, wenn man die obigen Einwände gegen die Qualität
der Untersuchungen nicht gelten lassen will, ist diese Behauptung falsch. Prof.
Brinkmann geht bei seinen Schlüssen wiedereinmal unabhängig vom
konkreten Spurenbefund von falschen Voraussetzungen aus.
Zum einen stützt er sich auf die irrige Vorstellung "des ideal
hinter der Waffe befindlichen Körpers" - in leicht vornübergebeugter
Haltung mit ausgestrecktem Arm und Lauf der Waffe quasi in der Verlängerung
des Arms, wie beim Übungsschießen, womöglich mit Abstützung
durch die andere Hand. In Wirklichkeit hätte ein Fremdtäter aber die
Hand stark zum Handrücken hin abwinkeln müssen. Die Waffe muß ja
bei Schußabgabe eine Winkel von äußerstenfalls 36 Grad gegen
den Erdboden gehabt haben, und das in einer Höhe von etwa 35 cm. Da nun
aber Blut und Gewebe nur nach hinten und unten abspritzen konnte, also vom Schützen
weg, befand sich der Körper in einem "toten Winkel" (der von
Prof. Brinkmann an ganz anderer Stelle bemüht wird). Es mußte also
keineswegs zwingend zu einer Bespritzung der Täterbekleidung kommen.
Das zweite Gegenargument geht in dieselbe Richtung, ist aber von
allgemeinerer Bedeutung. Es ist aus der einschlägigen Literatur zu
erfahren. Um Mißverständnissen vorzubeugen: es geht dabei um die Schußhand
von Selbstmördern. Was für die Hand des Selbstmörders gilt, gilt
aber logischerweise ebenso für die Schußhand eines Fremdtäters.
Und was für die Hand gilt, gilt schon gar für weiter vom Einschuß
entfernte Gegenstände, wie die Täterbekleidung. Hierzu zwei Zitate:
Prokop: "Wir warnen davor, aus dem Fehlen der Beschmauchung oder
Blutbespritzung der Schußhand zu weitgehende Schlüsse ziehen zu
wollen. Wir haben genügend Selbstmorde mit aufgesetzter Waffe gesehen, wo
diese Stigmata fehlten".5
Sellier: "Allerdings sind Blutspritzer bei einem aufgesetzten Schuß
nicht obligatorisch, d.h. das Fehlen von Spritzern schließt einen Schuß
mit aufgesetzter Waffe nicht aus (Beobachtung an eigenen Fällen von
sicherer Selbstbeibringung)".6
Auch wenn man also alle Einwände ignorieren möchte und davon
ausgeht, daß sich an der Jacke des Beamten keine tatrelevanten Spuren
befanden, ist aus dem Fehlen einer Bespritzung keineswegs zu schließen, daß
der Betreffende als Täter ausscheidet. Und das gilt natürlich auch für
alle anderen untersuchten Beamten.
Auch wenn es eigentlich nicht mehr wichtig ist, muß am Rande
noch einmal an den seltsamen Diebstahl einer blutbeschmierten Jacke aus den Räumen
des Wissenschaftlichen Dienstes im September 93 erinnert werden. Dieser
Diebstahl des Blousons von GSG 9 Nr. 6 erfolgte erst, als die Untersuchungen
schon abgeschlossen waren. Angesichts obiger Untersuchungsergebnisse stellt sich
die Frage, ob es sich bei diesem Diebstahl um eine Finte handelte, die auf eine
falsche Fährte führen sollte.
Die Kioskverkäuferin Baron hat in ihrer Vernehmung mehrfach ausgesagt,
daß zwei Männer nacheinander an den schon im Gleis liegenden Wolfgang
Grams herantraten und mehrere Schüsse auf ihn abgaben.
Dr.
Pfister, Leiter des Wissenschaftlichen Dienstes (WD) der Stadtpolizei Zürich
Eigentlich
hätte die Überprüfung dieser Aussage kein Problem sein müssen,
denn eine Besonderheit der von der GSG 9 eingesetzte Waffe Heckler & Koch P
7 ist, daß sie noch auf 10 m Entfernung einen ungewöhnlich genau
definierten Schmauchkegel erzeugt, anhand dessen die Schußentfernung gut
bestimmt werden kann. Daß eine genaue Schußentfernungsbestimmung
dennoch nicht möglich war, wird von Dr. Pfister vom Wissenschaftlichen
Dienst Zürich nach Versuchen folgendermaßen begründet: "Daraus
ergibt sich, daß eine vor der Schmauchspurenasservierung durchgeführten
Mikrospurensicherung mit Abklebefolie das Schmauchspurenbild derart verfälscht,
daß aufgrund der verbleibenden Schmauchspuren keine Schußdistanzbestimmung
mehr vorgenommen werden kann."
Dr. Pfister beschritt daher einen neuen Weg. Eine Besonderheit der von der
GSG 9 eingesetzten "Action"-Munition ist nämlich, daß das
Geschoß über eine Hohlspitze verfügt, der eine
Kunststoffabdeckung aufsitzt. Nach der Produktbeschreibung des Herstellers verläßt
diese Kunststoffabdeckung "die Laufmündung mit höherer
Geschwindigkeit, als das Geschoß. Durch ihren asymmetrischen Aufbau wird
sie sofort aus der Flugbahn des Geschosses gebracht und fällt einige Meter
vor der Mündung energielos zu Boden."
Diese Angabe scheint nach den Ergebnissen von Schußversuchen nicht
ganz zuzutreffen. Nach Dr. Pfister durchschlugen die Kunststoffabdeckungen "zum
Teil, selbst bei einer Schußdistanz von 6 Metern, zwei aufeinandergelegte
Kartons mit einer Dicke von je 2 mm". Dr. Pfister folgert hieraus: "Aufgrund
dieses Untersuchungsergebnisses sind die kleinen Perforationen in den Kleidern
und die korrespondierenden Hautdefekte am Körper von Wolfgang Grams erklärbar,
da sie unseres Erachtens durch die vorerwähnten Kunststoffabdeckungen
entstanden".
Dieser Ansatz ist im Prinzip schlüssig. Dr. Pfister macht aber bei der
praktischen Umsetzung zwei methodische Fehler. Erstens zieht er seine Schlüsse
aus einer Versuchsreihe von lediglich 20 Schuß, was aber für eine
statistisch sichere Aussage völlig unzureichend ist. Der von der
Staatsanwaltschaft Schwerin zusätzlich hinzugezogene Gutachter Prof.
Sellier begnügt sich sogar mit einer Versuchsreihe von nur neun Schüssen.
Zweitens geht er bei der Zuordnung der von den Kunststoffkappen
verursachten Hautdefekte etwas eigenwillig zu Werke. Eine sichere Zuordnung ist
zweifellos möglich, wenn nur ein Schuß gefallen ist und von diesem
ein Einschußloch und ein Kappendefekt verursacht wurde. Im vorliegenden
Fall wurden aber etwa dreißig Schüsse auf Wolfgang Grams abgegeben.
25 Projektile müssen an ihm vorbeigeflogen sein. Es ist aber keineswegs
auszuschließen, daß er von zugehörigen Kunststoffabdeckungen
getroffen wurde. Ebensowenig ist auszuschließen, daß er von einem
Projektil getroffen wurde, die zugehörige Kunststoffabdeckung aber an ihm
vorbeiflog. Dr. Pfister nimmt letzteres sogar für den streifenden Durchschuß
der linken Lende an. Beweisen läßt sich diese Annahme aber nicht.
Schließlich berücksichtigt er auch nicht, daß er seine
Versuchsreihe unter Laborbedingungen durchführte. Welchen Einfluß
z.B. die Windverhältnisse vor Ort auf die Flugbahn der 0,1 gr leichten
Plastikkappen haben, ist nicht geklärt.
Das Problem hat Dr. Pfister im Prinzip erkannt. Er wollte ihm dadurch
begegnen, daß er seiner Auswertung die jeweils kürzesten möglichen
Abstände zugrundelegt. Er kommt dabei zu Abständen von 12, 7, 10 und 8
cm.7
Dr. Pfister ignoriert letzten Endes die
auch von ihm selbst zur Sprache gebrachten großen prinzipiellen
Unsicherheiten der von ihm angewandten Methode und formuliert als Ergebnis, daß
die Schußdistanz in jedem Fall mindestens 1,5 m betragen haben muß.
Prof. Sellier glaubt nach nur 9 Schüssen sogar von einer Schußentfernung
von "mehreren Metern" sprechen zu können. Aber auch aus 1,5 m
Entfernung könnte ein über einer liegenden Person stehender Schütze
nur unter großen Verrenkungen schießen.
Die Staatsanwaltschaft Schwerin nimmt dieses Untersuchungsergebnis gerne
entgegen und informiert auch sogleich die Medien. Das objektive
wissenschaftliche Gutachten des unfehlbaren WD Zürich ist ihr ein
willkommener Beitrag zur Demontage der Zeugin Baron.
Im Mai 1994 ist eine
Untersuchung zu einem ähnlich gelagerten Fall erschienen, die sich auf eine
statistisch ausreichende Versuchsreihe von 250 Schüssen mit der von der GSG
9 benutzten Munition stützt. Die Autoren schossen aus Entfernungen von
einem bis zehn Metern jeweils 25 Mal. Aus 1 m Entfernung erzielten sie
Abweichungen 0 bis 10 cm, aus 2 m Entfernung 0 bis 13 cm, aus 3 m Entfernung 0
bis 16 cm usw. Daraus folgt, daß drei der vier vom WD Zürich
benannten Schüsse (7, 8 und 10 cm) aus einer Entfernung von 1 Meter und
weniger abgegeben worden sein können. Die Autoren weisen aber darauf hin,
daß diese Untersuchungsmethode in erster Linie zur Überprüfung
konkreter Zeugenbehauptungen in Frage komme, die in extremen Fällen bestätigt
oder widerlegt werden könnten.
Daß die Zeugen Baron durch diese Untersuchung eher bestätigt als
widerlegt, wird liegt auf der Hand. Damit wäre eigentlich eine neue
Pressekonferenz der Staatsanwaltschaft Schwerin fällig.
Der Versuch, auf der Tatwaffe Fingerabdruckspuren nachzuweisen, hat ein
negatives Ergebnis gebracht. Das muß erstaunen, da doch sicher davon
ausgegangen werden kann, daß mehrere Personen die Waffe in der Hand gehabt
haben und zumindest Wolfgang Grams, aber auch alle GSG 9-Männer haben keine
Handschuhe getragen. "Verständlich" wird es aber, wenn man
verfolgt, in welcher Reihenfolge die verschiedenen Untersuchungen an der Waffe
vorgenommen wurden.
Sie ging zunächst zum BKA, wo sie beschossen wurde. Ferner wurden
spurenkundliche Untersuchungen durchgeführt. Die Waffe wurde danach an
Prof. Brinkmann weitergereicht. Er führte eine ausführliche
spurenkundliche Untersuchung durch, bei der u.a. biologische Spuren für
analytische Zwecke abgenommen wurden. Sie wurde dann nach Zürich gebracht.
Der Wissenschaftliche Dienst Zürich asservierte zunächst biologische
Spuren. Die Waffe wurde dann mit Klebeband abgetupft und an Prof. Bär
weitergereicht, der wiederum biologische Spuren abnahm. Erst danach wurde sie
nach Fingerabdrücken untersucht. Dabei bleibt unklar, ob der Züricher
Beschuß der Waffe womöglich auch noch vorausging.
Natürlich müssen Fingerabdrucksspuren unter so einer Fülle
vorhergehender Untersuchungen leiden - obwohl sie sicher mit Schutzhandschuhen
erfolgten, sonst müßten ja Fingerabdrücke der Untersucher
vorhanden gewesen sein. Daß schließlich keine Fingerabdrücke
mehr vorhanden waren, kann nur heißen, daß sie über einen längeren
Zeitraum Stück für Stück vernichtet wurden. Auf diesem Weg kann
der letzte Schütze nicht mehr ermittelt werden.
Ein Hintergrund dieser gravierenden "Panne" könnte sein, daß
die GSG 9 in Bad Kleinen keine Handschuhe trug.
Prof. Oehmichen vermerkt bei der Erstobduktion von Wolfgang Grams zu dem
Durchschuß am linken Mittelbauch die rückwärtige Schußwunde
als Einschuß und die vordere als Ausschuß. Der von den Eltern Grams
beauftragte Zweitobduzent, Prof. Geserick, schließt sich dem unter
Vorbehalt "offenbar" an. Prof. Brinkmann meldet ebenfalls Vorbehalt an
aufgrund eines eventuellen Schürfsaumes (als Zeichen für einen Einschuß)
bei der vorderseitigen Schußwunde an. Hinsichtlich des Schürfsaumes
kommen Oehmichen, Geserick und Brinkmann aber zu drei unterschiedliche
Beobachtungen: nur hinten, vorne und hinten und nur vorne. Außerdem weist
Prof. Sellier darauf hin, daß auch am Ausschuß ein Schürfsaum
entstehen kann. Er ist daher doch kein sicheres Einschußzeichen.
Prof. Bär vom IRM Zürich findet keinen Unterschied in der
Schmauchkonzentration, beruft sich aber wegen Epithelfähnchen auf eine
andere Untersuchung, derzufolge das auf die Schußrichtung hindeute und
geht deshalb von der vorderen Wunde als Einschuß aus. Die angeführte
Untersuchung enhält indes nicht den geringsten Hinweis auf die von ihm
gezogene Schlußfolgerung.
Dr. Pfister vom WD Zürich bezieht die Umhängetasche von Wolfgang
Grams mit ein, deren Durchschuß in der Verlängerung des Schußkanals
liegt. Die Umhängetasche hing vor ihm. An ihrer Vorderseite meint er
eindeutig einen Einschuß feststellen zu können.
Die Schmauchspurenhäufigkeit ist in entgegengesetzter Richtung
abnehmend: am Pollunder hinten fünf Partikel, an der Rückseite der
Tasche drei, an der Vorderseite ein Partikel. Auch wenn keine quantitative
Schmauchbestimmung durchgeführt wurde, kann hieraus doch wohl abgeleitet
werden, daß die Schmauchkonzentration von hinten nach vorn abnimmt. Das
spricht für eine Schußrichtung von hinten nach vorn.