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Wed Dec  4 17:38:05 1996
 

Ein Mythos

Der gute Ruf des Wissenschaftlichen Dienstes der Stadtpolizei Zürich


Florian Schmaltz



"Ein Kollege aus Deutschland ... wegen Bad Kleinen ... ... ob wir uns auf 'Selbsttötung im Rahmen eines Entwindungsgriffs' einigen könnten ..."

Aus BKA-Kreisen war noch vor Bildung der "Ermittlungsgruppe Bad Kleinen" die Empfehlung an die Staatsanwaltschaft in Schwerin ergangen, rasch eine Reihe kriminalistischer Untersuchungen nach Zürich abzugeben - aus "Neutralitätsgründen". Aufgrund des öffentlichen Drucks mußte schnell gehandelt werden.
In solchen Situationen, in denen offensichtliche Widersprüche staatlicherseits dreist vertuscht werden, ist der Anschein der "Unabhängigkeit" der Vertuscherbehörden nicht mehr aufrechtzuerhalten. Wenn es dann auch noch um einen Mordvorwurf geht, muß das Ausland helfend einspringen, um den geschädigten Ruf der Repressionsbehörden und des Rechtsstaates von "unabhängiger Seite" wieder herzustellen. Ein Mittel dazu sind Selbstmordthesen.
Zwei frühere Fälle sind bekannt in denen der Wissenschaftliche Dienst der Züricher Stadtpolizei (WD) bzw. das kooperierende Institut für Rechtsmedizin der Universität Zürich, in Angelegenheiten, die die RAF, bzw. Gefangene aus der RAF betrafen, als Gutachter herangezogen wurden.

Stammheim 1977: Die "Selbstmordversion" wird abgesegnet

Die gute Zusammenarbeit in heiklen gutachterlichen Angelegenheiten von den bundesdeutschen Repressionsorganen und dem Züricher Institut für Rechtsmedizin geht bis in das Jahr 1977 zurück. Bei der Untersuchung der Todesfälle der RAF-Gefangenen Andreas Baader, Gudrun Ensslin und Jan Raspe im Hochsicherheitstrakt in Stammheim am 18. Oktober 1977 war das Züricher Institut in die Obduktion der Toten involviert.
Im "Vorläufigen Bericht der Landesregierung von Baden-Württemberg über die Ereignisse vom 18. Oktober 1977 in der Vollzugsanstalt Stuttgart-Stammheim" heißt des dazu: "Zur Teilnahme an der Leichenschau sowie der später erfolgten Leichenöffnung konnten aufgrund entsprechender Bemühungen der Staatsanwaltschaft und des Justizministeriums auch ausländische international anerkannte Sachverständige der Gerichtsmedizin, nämlich Prof. Dr. Hartmann von der Universität Zürich (...) gewonnen werden."1 Die Ankunft der VertreterInnen von amnesty international, die auf Wunsch der Rechtsanwälte an der Obduktion teinehmen sollten, wurde nicht mehr abgewartet. Die in Windeseile verbreitete, staatlich sanktionierte Version vom angeblichen Suizid der RAF-Gefangenen wurde von dem Züricher Gutachter Hartmann mitgetragen. Sie ist bis heute bekanntermaßen umstritten, weil nach wie vor von staatlicher Seite relevante Akten unter Verschluß gehalten werden.

Banküberfall der RAF in Zürich 1979:
Ein Gutachten des WD Zürich basiert auf Mutmaßungen

Die in den Medien nach Bad Kleinen stereotyp verbreitete Behauptung von der Objektivität der gerichtsmedizinischen Gutachten des WD Zürich entpuppt sich als Propaganda, die längst widerlegt ist. Selbst die Richter der Stammheimer Staatsschutzjustiz, bekannt und berüchtigt aufgrund ihres politischen Verurteilungswillens, mußten anerkennen, daß vom WD Zürich falsche und unhaltbare Gutachten geliefert wurden. So geschehen im Urteil gegen Peter-Jürgen Boock und Christian Klar vor dem Oberlandesgericht in Stuttgart 1992. Verhandelt wurde u.a. der Tod einer Passantin in Folge eines Schußwechsels nach einem Banküberfall der RAF im Jahre 1979 in Zürich.
Die Mordanklage gegen Peter-Jürgen Boock und Christian Klar basierte in wichtigen Punkten auf einem vom WD Zürich angefertigten Gutachten, aufgrund dessen 1980 bereits Rolf Clemens Wagner von dem Geschworenengericht des Kantons Zürich zu lebenslanger Haft verurteilt worden war. Die Gutachter Dr. Halonbrenner und Dr. Jakob vom WD Zürich schlossen damals als den Todesschützen ihren Züricher Polizeikollegen Pfister aus und behaupteten, das tödliche Projektil stamme aus einer Waffe der flüchtenden Bankräuber. Entscheidend waren dabei drei von der Bundesanwaltschaft (BAW) übernommenen Prämissen:

  1. Behauptet wurde, daß das Projektil einen größeren Durchmesser als die polizeiüblichen 9 mm habe.
  2. waren eindeutige Ein- und Ausschußrichtungen aufgrund der Obduktionsergebnisse behauptet worden und
  3. wurde eine bestimmte Gehrichtung, in der sich die tödlich getroffene Passantin in einer Fußgängerzone bewegt haben soll, angenommen.

Insgesamt mußte der Staatsschutzsenat im Prozeß im Jahre 1992 eingestehen, daß die Beweisaufnahme "nicht zu einer vollständigen und zuverlässigen Klärung des Gesamtgeschehens" führte.2 Die Gutachten des WD der Stadtpolizei Zürich wurden nicht als "sicherer Nachweis" gewertet, wer die Passantin erschossen hat.
Entgegen der ersten Behauptung der Züricher Gutachter urteilte das Gericht, mit "objektiven Beweismitteln" könne "nicht mehr geklärt werden, welches Geschoß aus welcher Waffe"2 die Passantin tödlich getroffen habe. Es könne sogar "nicht ausgeschlossen werden, daß Frau Kl. [die Passantin d. Verf.] durch ein 9 mm Projektil des Beamten Pfister getroffen worden ist."2 Mit anderen Worten: auch die Kugeln aus der Polizeiwaffe könnten die tödlichen gewesen sein.
Auch die zweite Behauptung des Wissenschaftlichen Dienstes, aufgrund der Geschoßgröße seien die Ein- und Auschußverletzungen eindeutig festellbar, hielt vor dem Staatsschutzsenat in Stammheim, nach den Ausführungen von vier weiteren Gutachtern nicht mehr stand und wurden von dem Gericht verworfen: "Bei der hier gegebenen Sachlage sei eine zuverlässige Zuordnung nicht möglich. (...) Sie Ausführungen der Sachverständigen waren verständlich und nachvollziehbar. Der Senat ist ihnen gefolgt."3

Die dritten Behauptung, aufgestellt von dem Beamten des WD, Dr. Hallonbrenner, von einer bestimmten Gehrichtung der Passantin wurde vom OLG Stuttgart zurückgewiesen. Im Gegensatz zu dem in den Medien verbreiteten Bild der abwägenden vorsichtig urteilenden Wissenschaftlichkeit der Beamten des WD der Schweizer Staatspolizei formulierten die bundesdeutschen Staatsschutzrichter sogar eine Gutachterschelte. An den Gutachten von Hallobrenner wurde bemängelt, daß mit "nicht belegbaren Mutmaßungen" operiert werde, da die Passantin von keinem Zeugen vor dem Schußwechsel gesehen wurde: "Seine Schlußfolgerung sie [die Passantin] müsse von einer Täterkugel getroffen worden sein, weil bei der angenommenen Gehrichtung ein Treffer der rechts von ihr stehenden Täter naheliege, beruht deshalb auf einer nicht belegbaren Mutmaßung. Es liegt sogar näher, daß sich Edith Kl. in umgekehrter Richtung dem zentralen Platz durch den nördlichen Durchgang näherte."4

Bad Kleinen 1993:

Nach der Internationalisierung der Spurenvernichtung kann der Öffentlichkeit ein Selbstmord-Gutachten präsentiert werden


Um die gewünschte öffentlichkeitswirksame Entlastung der GSG 9-Beamten von dem Vorwurf einer gezielten Exekution Wolfgang Grams in Bad Kleinen zu erreichen, bestellte die Staatsanwaltschaft Schwerin auf Anraten des Bundeskrimnalamtes ein Gutachten beim Wissenschaftlichen Dienst in Zürich, dessen Ergebnis für die in Verruf geratenen bundesdeutschen Behörden letztendlich zu einem Krisenbewältigungserfolg wurde.
Mit der arbeitsteiligen Gutachtertätigkeit wurde die Spurenvernichtung internationalisiert. In Zürich übernahmen der WD die ballistischen Gutachten und das Institut für Rechtsmedizin die serolgischen Untersuchungen. Die Story von Bad Kleinen als einem "Kommunikationsproblem" und einer angeblichen Kette von "Schlampereien" und "Pannen" setzte sich hierbei fort.
Obwohl die Gutachten des WD als Entlastungsbeweis der GSG 9 öffentlichkeitswirksam präsentiert wurden, galten sie als so brisant, daß nicht einmal die Mitglieder des Innenausschusses im Bundestag sie zu Gesicht bekamen, geschweige denn die Öffentlichkeit. Während der immer wieder angekündigte und verzögerte Abschluß der Untersuchungen des WD in den Medien als besondere Sorgfalt ausgelegt wurde, lancierten interessierte Stellen vor der Fertigstellung des Schlußgutachtens gezielt entlastende Passagen aus den Züricher Teilgutachten.
Als das Schlußgutachten Ende November 1993 vorlag, wurde die Kombination aus Geheimhaltung und selektiver Veröffentlichungspraxis entlastender Teilergebnisse von dem Innenminister von Mecklenburg-Vorpommern, Helmrich (CDU), auf die Spitze getrieben. Statt Einsicht in das Gutachtens zu gewähren, wurde die Öffentlichkeit mit einer fünfseitigen Presserklärung abgespeist.5

Der angebliche Suizid von Wolfgang Grams wird, wie gewünscht, im Gutachten nicht ausgeschlossen und damit eine Entlastung der GSG 9 nahegelegt: "Es gibt somit auch aus unserer Sicht keine neuen Erkenntnisse, die zwingend gegen eine Selbstbeibringung des Nahschusses durch Grams sprechen."6 Um völlige Entlastungsthesen bemüht, interpretierten PolitikerInnen die negativ formulierte Aussage um und verbreiteten die These, die Gutachten des WD zeigten zwingend, Wolfgang Grams habe sich selbst erschossen. Die Aussagen der Zeugin Baron und die Aussagen aller GSG 9-Beamten vor der Schweriner Staatsanwaltschaft stehen dazu im krassen Widerspruch. Keiner der GSG 9-Beamten will den nun per Gutachten nahegelegten Suizid von Wolfgang Grams gesehen haben.

Es blieb dem Anwalt der Eltern von Wolfgang Grams, Andreas Groß ,überlassen, darauf hinzuweisen, daß die Veröffentlichung der entlastenden Teilerkenntnisse "die Öffentlichkeit auf eine baldige Einstellung des Ermittlungsverfahrens einstimmen" solle. Groß erklärt sich die Zurückhaltung der Gutachten daraus, daß sie Hinweise auf eine "vorsätzliche Vertuschung der tatsächlichen Geschehensabläufe enthalten".7
Auch wenn so gut wie nichts aus den Gutachten öffentlich bekannt ist, als medienwirksames politisches Entlastungsmaterial haben sie ihre Funktion allemal erfüllt. FDP-Generalsekretär Werner Hoyer freute sich über die "gute Botschaft" aus Zürich. "Ein Rechtsstaat im Zwielicht wäre das letzte, was wir gebrauchen können", deshalb sei es für die "Hygiene des Staates" wichtig, daß es ein völlig unabhängiges Gutachten gegeben habe.8 Die Saubermänner des Rechtsstaates haben wieder weiße Westen, die "Hygiene des Staates" ist wiederhergestellt.
Nach diesem Vollwaschgang konnte auf Schonprogramm umgeschaltet werden. Die Bundesregierung erteilte den GSG 9-Beamten die Absolution, die Schweriner Staatsanwaltschaft beantragte die Einstellung des Verfahrens.




  1. Vorläufiger Bericht der Landesregierung von Baden-Württemberg über die Ereignisse vom 18. Oktober 1977 in der Vollzugsanstalt Stuttgart Stammheim, S.22
  2. vgl.: Urteil des OLG Stuttgart in der Strafsache gegen Peter-Jürgen Boock und Christian Klar vom 3. November 1992 (2-2 StE 5/91), S.67 ff
  3. a.a.O.
  4. a.a.O.
  5. Auszugsweise dokumentiert in: Frankfurter Rundschau 22.11.93
  6. zitiert nach: Der Spiegel, Nr.48/1993
  7. zitiert nach: Frankfurter Rundschau, 30.10.93.
  8. zitiert nach: Frankfurter Rundschau 23.11.93