Florian Schmaltz
"Ein
Kollege aus Deutschland ... wegen Bad Kleinen ... ... ob wir uns auf 'Selbsttötung
im Rahmen eines Entwindungsgriffs' einigen könnten ..."
Aus BKA-Kreisen war noch vor Bildung der "Ermittlungsgruppe Bad Kleinen"
die Empfehlung an die Staatsanwaltschaft in Schwerin ergangen, rasch eine Reihe
kriminalistischer Untersuchungen nach Zürich abzugeben - aus "Neutralitätsgründen".
Aufgrund des öffentlichen Drucks mußte schnell gehandelt werden.
In
solchen Situationen, in denen offensichtliche Widersprüche staatlicherseits
dreist vertuscht werden, ist der Anschein der "Unabhängigkeit"
der Vertuscherbehörden nicht mehr aufrechtzuerhalten. Wenn es dann auch
noch um einen Mordvorwurf geht, muß das Ausland helfend einspringen, um
den geschädigten Ruf der Repressionsbehörden und des Rechtsstaates von
"unabhängiger Seite" wieder herzustellen. Ein Mittel dazu sind
Selbstmordthesen.
Zwei frühere Fälle sind bekannt in denen der
Wissenschaftliche Dienst der Züricher Stadtpolizei (WD) bzw. das
kooperierende Institut für Rechtsmedizin der Universität Zürich,
in Angelegenheiten, die die RAF, bzw. Gefangene aus der RAF betrafen, als
Gutachter herangezogen wurden.
Die gute Zusammenarbeit in heiklen gutachterlichen Angelegenheiten von den
bundesdeutschen Repressionsorganen und dem Züricher Institut für
Rechtsmedizin geht bis in das Jahr 1977 zurück. Bei der Untersuchung der
Todesfälle der RAF-Gefangenen Andreas Baader, Gudrun Ensslin und Jan Raspe
im Hochsicherheitstrakt in Stammheim am 18. Oktober 1977 war das Züricher
Institut in die Obduktion der Toten involviert.
Im "Vorläufigen
Bericht der Landesregierung von Baden-Württemberg über die Ereignisse
vom 18. Oktober 1977 in der Vollzugsanstalt Stuttgart-Stammheim" heißt
des dazu: "Zur Teilnahme an der Leichenschau sowie der später
erfolgten Leichenöffnung konnten aufgrund entsprechender Bemühungen
der Staatsanwaltschaft und des Justizministeriums auch ausländische
international anerkannte Sachverständige der Gerichtsmedizin, nämlich
Prof. Dr. Hartmann von der Universität Zürich (...) gewonnen werden."1 Die Ankunft der VertreterInnen von amnesty international,
die auf Wunsch der Rechtsanwälte an der Obduktion teinehmen sollten, wurde
nicht mehr abgewartet. Die in Windeseile verbreitete, staatlich sanktionierte
Version vom angeblichen Suizid der RAF-Gefangenen wurde von dem Züricher
Gutachter Hartmann mitgetragen. Sie ist bis heute bekanntermaßen
umstritten, weil nach wie vor von staatlicher Seite relevante Akten unter
Verschluß gehalten werden.
Die in den Medien nach Bad Kleinen stereotyp verbreitete Behauptung von der
Objektivität der gerichtsmedizinischen Gutachten des WD Zürich
entpuppt sich als Propaganda, die längst widerlegt ist. Selbst die Richter
der Stammheimer Staatsschutzjustiz, bekannt und berüchtigt aufgrund ihres
politischen Verurteilungswillens, mußten anerkennen, daß vom WD Zürich
falsche und unhaltbare Gutachten geliefert wurden. So geschehen im Urteil gegen
Peter-Jürgen Boock und Christian Klar vor dem Oberlandesgericht in
Stuttgart 1992. Verhandelt wurde u.a. der Tod einer Passantin in Folge eines
Schußwechsels nach einem Banküberfall der RAF im Jahre 1979 in Zürich.
Die Mordanklage gegen Peter-Jürgen Boock und Christian Klar basierte
in wichtigen Punkten auf einem vom WD Zürich angefertigten Gutachten,
aufgrund dessen 1980 bereits Rolf Clemens Wagner von dem Geschworenengericht des
Kantons Zürich zu lebenslanger Haft verurteilt worden war. Die Gutachter
Dr. Halonbrenner und Dr. Jakob vom WD Zürich schlossen damals als den
Todesschützen ihren Züricher Polizeikollegen Pfister aus und
behaupteten, das tödliche Projektil stamme aus einer Waffe der flüchtenden
Bankräuber. Entscheidend waren dabei drei von der Bundesanwaltschaft (BAW) übernommenen
Prämissen:
Insgesamt mußte der Staatsschutzsenat im Prozeß im Jahre 1992
eingestehen, daß die Beweisaufnahme "nicht zu einer vollständigen
und zuverlässigen Klärung des Gesamtgeschehens" führte.2 Die
Gutachten des WD der Stadtpolizei Zürich wurden nicht als "sicherer
Nachweis" gewertet, wer die Passantin erschossen hat.
Entgegen der
ersten Behauptung der Züricher Gutachter urteilte das Gericht, mit "objektiven
Beweismitteln" könne "nicht mehr geklärt werden, welches
Geschoß aus welcher Waffe"2 die Passantin tödlich getroffen
habe. Es könne sogar "nicht ausgeschlossen werden, daß Frau Kl.
[die Passantin d. Verf.] durch ein 9 mm Projektil des Beamten Pfister getroffen
worden ist."2 Mit anderen Worten: auch die
Kugeln aus der Polizeiwaffe könnten die tödlichen gewesen sein.
Auch die zweite Behauptung des Wissenschaftlichen Dienstes, aufgrund der Geschoßgröße
seien die Ein- und Auschußverletzungen eindeutig festellbar, hielt vor dem
Staatsschutzsenat in Stammheim, nach den Ausführungen von vier weiteren
Gutachtern nicht mehr stand und wurden von dem Gericht verworfen: "Bei der
hier gegebenen Sachlage sei eine zuverlässige Zuordnung nicht möglich.
(...) Sie Ausführungen der Sachverständigen waren verständlich
und nachvollziehbar. Der Senat ist ihnen gefolgt."3
Die dritten Behauptung, aufgestellt von dem Beamten des WD, Dr.
Hallonbrenner, von einer bestimmten Gehrichtung der Passantin wurde vom OLG
Stuttgart zurückgewiesen. Im Gegensatz zu dem in den Medien verbreiteten
Bild der abwägenden vorsichtig urteilenden Wissenschaftlichkeit der Beamten
des WD der Schweizer Staatspolizei formulierten die bundesdeutschen
Staatsschutzrichter sogar eine Gutachterschelte. An den Gutachten von
Hallobrenner wurde bemängelt, daß mit "nicht belegbaren Mutmaßungen"
operiert werde, da die Passantin von keinem Zeugen vor dem Schußwechsel
gesehen wurde: "Seine Schlußfolgerung sie [die Passantin] müsse
von einer Täterkugel getroffen worden sein, weil bei der angenommenen
Gehrichtung ein Treffer der rechts von ihr stehenden Täter naheliege,
beruht deshalb auf einer nicht belegbaren Mutmaßung. Es liegt sogar näher,
daß sich Edith Kl. in umgekehrter Richtung dem zentralen Platz durch den nördlichen
Durchgang näherte."4
Um die gewünschte öffentlichkeitswirksame Entlastung der GSG
9-Beamten von dem Vorwurf einer gezielten Exekution Wolfgang Grams in Bad
Kleinen zu erreichen, bestellte die Staatsanwaltschaft Schwerin auf Anraten des
Bundeskrimnalamtes ein Gutachten beim Wissenschaftlichen Dienst in Zürich,
dessen Ergebnis für die in Verruf geratenen bundesdeutschen Behörden
letztendlich zu einem Krisenbewältigungserfolg wurde.
Mit der
arbeitsteiligen Gutachtertätigkeit wurde die Spurenvernichtung
internationalisiert. In Zürich übernahmen der WD die ballistischen
Gutachten und das Institut für Rechtsmedizin die serolgischen
Untersuchungen. Die Story von Bad Kleinen als einem "Kommunikationsproblem"
und einer angeblichen Kette von "Schlampereien" und "Pannen"
setzte sich hierbei fort.
Obwohl die Gutachten des WD als Entlastungsbeweis
der GSG 9 öffentlichkeitswirksam präsentiert wurden, galten sie als so
brisant, daß nicht einmal die Mitglieder des Innenausschusses im Bundestag
sie zu Gesicht bekamen, geschweige denn die Öffentlichkeit. Während
der immer wieder angekündigte und verzögerte Abschluß der
Untersuchungen des WD in den Medien als besondere Sorgfalt ausgelegt wurde,
lancierten interessierte Stellen vor der Fertigstellung des Schlußgutachtens
gezielt entlastende Passagen aus den Züricher Teilgutachten.
Als das
Schlußgutachten Ende November 1993 vorlag, wurde die Kombination aus
Geheimhaltung und selektiver Veröffentlichungspraxis entlastender
Teilergebnisse von dem Innenminister von Mecklenburg-Vorpommern, Helmrich (CDU),
auf die Spitze getrieben. Statt Einsicht in das Gutachtens zu gewähren,
wurde die Öffentlichkeit mit einer fünfseitigen Presserklärung
abgespeist.5
Der angebliche Suizid von Wolfgang Grams wird, wie gewünscht, im
Gutachten nicht ausgeschlossen und damit eine Entlastung der GSG 9 nahegelegt: "Es
gibt somit auch aus unserer Sicht keine neuen Erkenntnisse, die zwingend gegen
eine Selbstbeibringung des Nahschusses durch Grams sprechen."6 Um völlige Entlastungsthesen bemüht,
interpretierten PolitikerInnen die negativ formulierte Aussage um und
verbreiteten die These, die Gutachten des WD zeigten zwingend, Wolfgang Grams
habe sich selbst erschossen. Die Aussagen der Zeugin Baron und die Aussagen
aller GSG 9-Beamten vor der Schweriner Staatsanwaltschaft stehen dazu im krassen
Widerspruch. Keiner der GSG 9-Beamten will den nun per Gutachten nahegelegten
Suizid von Wolfgang Grams gesehen haben.
Es blieb dem Anwalt der Eltern von Wolfgang Grams, Andreas Groß ,überlassen,
darauf hinzuweisen, daß die Veröffentlichung der entlastenden
Teilerkenntnisse "die Öffentlichkeit auf eine baldige Einstellung des
Ermittlungsverfahrens einstimmen" solle. Groß erklärt sich die
Zurückhaltung der Gutachten daraus, daß sie Hinweise auf eine "vorsätzliche
Vertuschung der tatsächlichen Geschehensabläufe enthalten".7
Auch wenn so gut wie nichts aus den Gutachten öffentlich bekannt ist,
als medienwirksames politisches Entlastungsmaterial haben sie ihre Funktion
allemal erfüllt. FDP-Generalsekretär Werner Hoyer freute sich über
die "gute Botschaft" aus Zürich. "Ein Rechtsstaat im
Zwielicht wäre das letzte, was wir gebrauchen können", deshalb
sei es für die "Hygiene des Staates" wichtig, daß es ein völlig
unabhängiges Gutachten gegeben habe.8 Die
Saubermänner des Rechtsstaates haben wieder weiße Westen, die "Hygiene
des Staates" ist wiederhergestellt.
Nach diesem Vollwaschgang konnte
auf Schonprogramm umgeschaltet werden. Die Bundesregierung erteilte den GSG
9-Beamten die Absolution, die Schweriner Staatsanwaltschaft beantragte die
Einstellung des Verfahrens.