Rolf Gössner 1
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Signum
Wir leben offenbar in einem Land, in dem hoch spezialisierte und
professionelle staatliche Organe nicht nur eine vorbereitete Festnahme zum mörderischen
Unternehmen werden lassen und in dem die beteiligten Top-Terror-Spezialisten
sich als hochgradig wahrnehmungsgeschädigt erweisen und vom kollektiven
Blackout geplagt werden. Wir leben auch in einem Lande, in dem staatliche Organe
in eigener Sache ermitteln, in dem staatliche Superspezialisten plötzlich,
da sie selbst involviert und verdächtigt sind, wundersamerweise die
einfachsten Spurensicherungsmaßnahmen nicht beherrschen; und wir leben in
einem Land, in dem BKA-Spezialisten Beweise vernichten und verantwortliche
Stellen eine beispiellose Vertuschungs- und Desinformationspolitik betreiben;
wir leben in einem Land, in dem sich der Bundeskanzler erdreistet, sich trotz
des schweren Mordverdachts demonstrativ vor die Männer der GSG 9 zu
stellen, die "unsere Sympathie und unsere Unterstützung" brauche.
Nun, das Signal wurde verstanden, neben den beweiserheblichen Kleidungsstücken
wurden auch ihre Träger gleich spurenvernichtend mitgereinigt. Der
lancierte Selbstmord hat Methode, auch wenn ihn keiner gesehen hat - was können
da zwei Zeugen ausrichten, die einen Mord, eine regelrechte Exekution gesehen
haben wollen?
Bad Kleinen ist meines Erachtens ein Lehrstück dafür,
wie ein Rechtsstaat den ungeheuerlichen Vorwurf eines staatlichen Mordes
kleinarbeiten und in einen nicht bewiesenen Selbstmord umdefinieren kann, ohne
daß sich die demokratische Öffentlichkeit darüber empört.
Insofern ist Bad Kleinen kein bloßer Einzelfall, sondern Symptom. Bad
Kleinen ist keine "Panne", sondern hat System.
Dieser möglicherweise
größte Polizei- und Geheimdienstskandal in der Geschichte der BRD ist
Ausdruck für eine fatale Entwicklung dessen, was hierzulande gerne mit "Innerer
Sicherheit" bezeichnet wird. Bad Kleinen offenbarte die Auswirkungen dieser
Gesamtentwicklung in gebündelter Form und in besonders krasser Weise. Ich
wurde von den Veranstaltern gebeten, über die GSG 9 bzw. die Problematik
von polizeilichen Spezialeinsatzkommandos sowie über die "Koordinierungsgruppe
Terrorismus" (KGT) zu sprechen. Ich möchte meine Eingangsthesen an
diesen beiden staatlichen Einrichtungen verdeutlichen und belegen.
Mit Erlaß des Bundesinnenministeriums vom September 1972 wurde die
Aufstellung der "Anti-Terror"-Einheit beim Bundesgrenzschutz (BGS),
der paramilitärischen Truppenpolizei des Bundes, angeordnet; laut
Dienstanweisung soll die Truppe vor allem auf die Bekämpfung von "Mord
und Totschlag, Menschenraub, Geiselnahme und räuberische Erpressung"
spezialisiert sein. Aber auch bei "schweren Ausschreitungen,
Demonstrationen und zum Schutz besonders gefährdeter Staatsgäste und
deutscher Politiker" wird die GSG 9 eingesetzt. Sie hat einen "offensiven
Zugriffsauftrag in Fällen von besonderer Bedeutung" und ist in ständiger
Alarmbereitschaft. Sie besteht ausschließlich aus Freiwilligen und hat
eine Soll-Stärke von 220 Mann; die Ist-Stärke 1992: 180; inzwischen
sollen auch Frauen zugelassen werden, was die Sache nicht besser machen wird.
Der damalige Bundesinnenminister Hans-Dietrich Genscher (FDP) gilt als "Vater"
der Spezialtruppe. Einem anderen hohen Verfassungsschützer (nicht Genscher,
wie vielfach behauptet) werden die aufmunternden Worte zugeschrieben: die GSG 9
müsse "Elitebewußtsein entwickeln" und "mit dem Willen
kämpfen, den Gegner zu vernichten" - "kampfunfähig schießen
ist Quatsch". Und Hessens früherer FDP-Innenminister Hanns-Heinz
Bielefeld ergänzte einfühlsam: "Auch Terroristen sind Menschen,
sie totzuschießen will geübt und gelernt sein". Solchermaßen
moralisch gestärkt ging die GSG 9 unter Führung ihres ersten
Kommandeurs Ulrich Wegener ans Werk. Bald war sie die bestausgerüstete und
-ausgebildete Spezialeinheit der Bundesrepublik und auch international gehörte
sie zur "Spitze" ihrer Spezies.
Vier GSG-9-Einheiten wurden
aufgestellt: zwei Observationseinheiten, eine Fallschirmspringer-Einheit und später
die nach der Entführung des italienischen Luxus-Kreuzfahrtschiffes "Achille
Lauro" (1985) geschaffene "GSG-9-Marine" - GSG 9 also zu Wasser,
zu Lande und in der Luft. Die Einheiten sind gegliedert in Führungs- und
Spezialeinsatztrupps mit jeweils fünf Leuten; dieses operative Konzept mit
kleinsten taktischen Einheiten ist dem "Minihandbuch des Stadtguerilleros"
des Brasilianers Carlos Marighella entlehnt. Hinzu kommen technische Einheiten,
wie die "Fernmelde- und Dokumentationseinheit", der auch die
Beweissicherung und Einsatz-Dokumentation per Video obliegt - Aufgaben, die während
des Einsatzes in Bad Kleinen offensichtlich so sträflich vernachlässigt
wurden, daß selbst der Münchner Polizeipsychologe Georg Sieber argwöhnt,
dieses Versäumnis könne auf "böser Absicht" beruht
haben, "um eine spätere Rekonstruktion des Hergangs zu verhindern".2
In den frühen siebziger Jahren begann unter der sozialliberalen Regierung eine sicherheitspolitische Entwicklung, die einen starken Ausbau, eine drastische Aufrüstung und Umstrukturierung der staatlichen Sicherheitsapparate zur Folge hatte. Dabei hat sich eine verhängnisvolle Tendenz zur polizeilichen Spezialisierung herausgebildet, deren Spannbreite von der hart trainierten "Anti-Terror-Einheit" bis zum freundlichen "bürgernahen" Kontaktbereichsbeamten reicht. Geradezu inflationär gestaltete sich die Entwicklung von Spezialeinheiten und Sonderkommandos, die sich als Keimzellen einer neuen geheimen Sonderpolizei herausstellten:
Die Freiwilligen der Polizei-Sondereinsatzkommandos, die mittlerweile auch
in den neuen Bundesländern existieren, trainieren ähnlich hart wie die
GSG 9 und erhalten ebenfalls eine (geheim-) polizeiliche und geheimdienstliche
Sonderausbildung (verdeckte Ermittlungen, operative Fahndungen) mit besonderem
Schießtraining, dessen Schwerpunkt der gezielte Todesschuß bildet.
Ihre gemischt präventive wie repressive Verwendung ist allerdings
wesentlich alltäglicher und umfassender: nicht nur bei Einsätzen gegen
"Terroristen", sondern auch bei jeder größeren
Demonstration, wo SEK-Mitglieder, mit geschwärzten Gesichtern, häufig
als besonders brutale Schläger- und Greiftrupps auffallen; aber auch bei
Fahndungen im Bereich der politischen und "gewöhnlichen"
(insbesondere der sog. organisierten) Kriminalität: Dabei durchbrechen die
MEKs mit ihrem geheimpolizeilich-konspi- rativen Auftrag (u.a. Einsätze als
under-cover-Agenten und agents provocateurs; Lausch- und Spähangriffe) das
verfassungsmäßige Gebot der Trennung von Polizei und Geheimdiensten
und sie unterlaufen eine effektive öffentliche Kontrolle. In erschreckend
vielen Fällen erweisen sich Mitglieder dieser Spezialkommandos als Todesschützen;
auf der Strecke ihrer tödlichen Fahndungen blieben "Terrorismus"-Verdächtige,
flüchtige Tatverdächtige und Gefangene, aber auch vollkommen
Unbeteiligte. 3
Zurück zur GSG 9: Ihren ersten aufsehenerregenden Auftritt hatte die
seit 1973 einsatzbereite "Anti-Terror-Einheit" bei der geglückten
Geiselbefreiung aus der Lufthansamaschine in Mogadischu (1977), in deren Verlauf
drei der Entführer erschossen worden sind. Nach dem anfänglichen
Rummel wurde es ziemlich ruhig um die "Superhelden von Mogadischu".
Auf die Frage, was die GSG 9 danach eigentlich getrieben habe, gab
Polizeihauptkommissar Tutter vier Jahre später in der Zeitschrift des BGS
eine simple Antwort: "Die GSG 9 trainiert". Für den Tag X.
Die Ausbildung dauert 8 Monate und setzt den einjährigen Grunddienst beim
BGS voraus sowie den "Willen zur Leistung und Kameradschaft". Diese
Sonderausbildung ist außergewöhnlich hart: "sie kann nicht hart
genug sein", so der langjährige Kommandeur, Ulrich Wegener, "denn
wir müssen davon ausgehen, daß es sich beim potentiellen Gegner um
militante Gruppen handelt." Nur etwa 10 bis 30 Prozent der Bewerber für
die GSG 9 genügen den strengen Anforderungen und bewältigen die rigide
Personalselektion.
Kernziel der GSG-9-Ausbildung ist der "motivierte
Einzelkämpfer" mit "höchster Kampfmoral und körperlicher
Fitneß". Nach dem Grundlehrgang folgt eine neunwöchige
Spezialausbildung "gegen Guerillas und Terroristen".
Geländelauf, Krafttraining, Leistungs- und Härteausbildung,
Karate, aber auch Psychologie-Seminare und Streßbewältigung (u.a.
Desensibilisierungstherapien, Angstbewältigung und
Hemmschwellen-Absenkung), ferner Waffenübungen in allen Situationen bei Tag
und bei Nacht, auch unter Belastung und Streß, sowie ständiger "Kontakt"
mit der Waffe gehören zum Konditionierungsprogramm. "Der Ablauf vom
Ziehen der Waffe bis zur Abgabe des Schusses darf ein Limit von einer Sekunde
nicht überschreiten", offenbart der GSG 9-Vertraute Rolf Tophoven
bewundernd. Bei diesen Vorgaben bleibt weder Zeit für Skrupel noch zum
Nachdenken, was auch systematisch abgebaut werden soll. Gleichwohl soll neben "extrem
gutem Reaktionsverhalten" auch "Besonnenheit für den Schützen
oberstes Gebot" sein - "Killertypen und schießwütige
Gesellen" seien nicht gefragt.
Der Münchner Polizei-Psychologe
Georg Sieber weiß aus eigener Erfahrung, daß
Polizei-Spezialeinheiten wie die GSG 9 darauf gedrillt werden, selbst einen am
Boden liegenden Tatverdächtigen weiter als gefährlich anzusehen, weil
er sich möglicherweise nur totstellt und blitzschnell eine Waffe ziehen könnte.
Deshalb muß auch eine solche Person "passiv gestellt" werden: "Das
bedeutet im Zweifel erschießen", so der Polizei-Psychologe im stern.
Die GSG 9 ist mit den modernsten Geräten und Waffen der Welt ausgerüstet.
Sie benutzt u.a., wie auch in Bad Kleinen, einen besonderen Geschoßtyp:
die "Action-1-Munition" mit dem sog. Mann-Stop-Effekt, der aufgrund
eines hydrostatischen Schocks zur sofortigen Handlungsunfähigkeit führt
- nicht selten über den Tod: Denn diese Munition verformt sich beim
Auftreffen auf die Haut und reißt schwere Wunden im Körper des oder
der Getroffenen; insoweit hat diese Munition große Ähnlichkeit mit
den völkerrechtlich - für Kriegszwecke - geächteten "Dum-Dum-Geschossen".
Geübt wird auch an Waffen des Gegners: u.a. mit Sturmkarabinern vom
sowjetischen Typ AK 47-Kalaschnikow, "bevorzugte Waffe vieler
Guerillabewegungen und Terroristen", so Tophoven, "getreu den Lehrsätzen
Mao Tse-tungs, daß eine Waffe vom Feind erbeutet wird und sich dann gegen
diesen selbst richtet". Da auch bei Einsätzen mitunter
nicht-dienstliche Sekundär-Schußwaffen mitgeführt werden - wie
auch, lange Zeit verschwiegen, in Bad Kleinen -, war es durchaus denkbar, daß
Wolfgang Grams und möglichweise sogar der GSG 9-Angehörige Michael
Newrzella mit einer solchen (vielleicht früher sichergestellten) Waffe des "Gegners"
erschossen worden sind - oder aber mit Munition aus einem sog. schwarzen,
nichtregistrierten Magazin.
Die Beamten der GSG 9 befinden sich durch das ständige Hochleistungs-
und Härtetraining in Dauer-Höchstform, was zwangsläufig zu
Frustrationen und Motivationsverlusten führen muß, wenn über
Jahre hinaus keine Einsatzmöglichkeit in Sicht ist: "Wenn ein hochgezüchtetes
Rennpferd zu lang im Stall steht und nicht 'bewegt' wird, erlahmen seine
Spritzigkeit und sein Leistungsvermögen", meint der einfühlsame
GSG 9-Experte Rolf Tophoven. Schlagzeilen wie "Die Helden stehen weiter im
Schatten" und "GSG 9 führt nur noch Schattendasein" machten
den Angehörigen der Spezialeinheit in den 80er Jahren schwer zu schaffen -
zumal sie für ihren Dienst lediglich eine Härte-Zulage von 200 DM
brutto erhalten.
Vermutlich um die Hochmotivation gleichwohl zu erhalten,
hat die Einheit eine grundlegende Umorientierung durchgemacht. So fand sie
mitunter auch wesentlich unterhalb der Schwelle des "Anti-Terror"-Einsatzes
Verwendung: etwa bei Großdemonstrationen (bislang eher die Ausnahme), wie
1986 gegen die Wiederaufbereitungsanlage in Wackersdorf (26 GSG 9-Beamte im
Einsatz), anläßlich des Weltwirtschaftsgipfels oder in Solingen wegen
der "Ausschreitungen" von Türken nach den neonazistischen Morden
an fünf Türkinnen - verdeckte Einsatzbereitschaft, die angesichts des
Härtedrills und Schießtrainings zu einer Katastrophe mit tödlichen
Folgen führen könnte.
Die GSG 9 findet inzwischen Verwendung u.a.
beim Personenschutz, zur Überwachung von deutschen Einrichtungen im
Ausland, zum Schutz von kerntechnischen Anlagen und millionenschweren
Geldtransporten der Bundeszentralbank, bei Observationen und Festnahmeaktionen
im Bereich der "organisierten Kriminalität". Darüber hinaus
werden GSG 9-Angehörige als "Anti-Terror"-Ausbilder ins Ausland
geschickt. So beriet etwa der erste GSG-9-Kommandeur Wegener zusammen mit
weiteren BGS-Beamten die Regierung von Saudi-Arabien bei der Fortentwicklung der
2.000 Mann starken "Anti-Terror"-Einheit "Special Security Forces".
Eine direkte Zusammenarbeit fand u.a. mit den amerikanischen Special Forces und
Delta Force, dem britischen FBI, der Anti-IRA-Truppe "Special
Air-Service-Regiment" (SAS), sowie mit israelischen und türkischen "Anti-Terror"-Sondereinheiten
statt. Verdeckt wurde die GSG 9 auch in Krisengebieten, wie im Libanon und in El
Salvador, eingesetzt.
Wie steht es nun um die öffentliche Kontrolle dieser vielseitig
verwendbaren Spezialeinheit? Angesichts der praktizierten Abschottung, des
geheimpolizeilich-konspirativen Auftrags, des ausgeprägten Korpsgeistes und
angesichts der Anonymität der eingesetzten GSG 9-Kämpfer "ohne
Gesicht" (ruß-geschwärzt oder maskiert) laufen die üblichen
Kontrollmechanismen ins Leere. Hinzu kommt das Problem, daß - wie im Fall
Grams - Polizei und Staatsanwaltschaft quasi in eigener Sache ermitteln. Deshalb
haben Todesschützen der Polizei auch häufig eine aussichtsreiche
Position bei der späteren gerichtlichen "Klärung" der Vorfälle,
falls es überhaupt so weit kommt.
Haben Mitglieder von
Sondereinsatzkommandos bei der "Terroristen"-Fahndung einen Menschen
erschossen oder schwer verletzt, so werden die Namen der beteiligten
Polizeibeamten von den Sicherheitsbehörden auch den Angehörigen der
Opfer nicht bekanntgegeben. Ihre Vernehmung erfolgt unter Code-Nummern. So
geschehen u.a. im Fall des schwer verletzten Rolf Heißler sowie des von
einem Sonderkommando erschossenen, völlig unbeteiligten Taxifahrers Günter
Jendrian und nun auch im Fall Grams. Die an der Schießerei in Bad Kleinen
beteiligten GSG 9-Beamten, die gemeinsam und vermummt zu den Verhören
flogen, hatten die Möglichkeit der Zeugenabsprache, wurden betreut und
lediglich unter Nummern vernommen. Die Verdunkelungsgefahr ist hier geradezu
programmiert.
Im Zusammenhang mit Bad Kleinen ist viel die Rede von Dilletantismus,
Pannen, Konkurrenzen, Kompetenzwirrwarr und Koordinierungsproblemen der
beteiligten Sicherheitsbehörden. Diese Begriffe haben Entlastungsfunktion.
Die angeblichen "Pannen" sind mit individuellem Fehlleistungen nicht
mehr erklärbar; ihnen liegt eine gewisse Systematik zugrunde, die die
Dimension von Bad Kleinen im Vorfeld und in der Nachbereitung erst zu offenbaren
vermag. Wir müssen also Bad Kleinen in einen größeren
Zusammenhang stellen.
Gegenwärtig sehen wir uns einer wahren "Sicherheitsoffensive"
ausgesetzt. Sie wird geführt unter den Legitimationsformeln wachsende
Kriminalität, "organisierte Kriminalität" und neonazistische
Gewalt. Eine regelrechte Law-and-Order-Orgie wird veranstaltet: Dabei geht es um
Strafrechts- und Strafprozeßrechtsverschärfungen sowie um die Nachrüstung
von Polizei und Geheimdiensten. Die Sicherheitspolitiker der CDU/CSU, aber auch
der SPD schrecken längst nicht mehr davor zurück, dabei auch tragende
Verfassungsprinzipien, die Substanz von Bürgerrechten und rechtsstaatliche
Strukturen offen anzugreifen. Nur ein paar Beispiele, die für unser Thema
von Bedeutung sind und die das prekäre Verhältnis von Polizei und
Geheimdiensten betreffen: Aufbauend auf die sicherheitspolitische Entwicklung
der 70er und 80er Jahre gibt es gegenwärtig konkrete Pläne, die
Aufgabenfelder des Inlandsgeheimdienstes "Verfassungsschutzes" (VS)
und des Bundesnachrichtendienstes vollkommen systemwidrig auszudehnen auf die
Bekämpfung der "organisierten Kriminalität" und des "Internationalen
Terrorismus" - also auf originär polizeiliches Tätigkeitsgebiet;
dabei sollen den Geheimdiensten ggfls. auch polizeiliche Befugnisse, also
Exekutivbefugnisse zustehen. Das würde eine verfassungswidrige Vermischung
von Aufgaben und Funktionen der Polizei und der Geheimdienste bedeuten. Und
andererseits sollen im neuen BKA-Gesetz nachrichtendienstliche Befugnisse zur
geheimen Ausforschung von Personen verankert werden; Verdeckte Ermittler, die
bereits legalisiert wurden, sollen "milieubedingte Straftaten" begehen
dürfen; die bereits zu beobachtende staatliche Mitorganisierung der
(organisierten) Kriminalität bekäme damit die Gesetzesweihe.
Der
Präsident des Bundesamtes für Verfassungsschutz (BfV) forderte
bereits, ein sog. Bundessicherheitsamt zu schaffen und hierüber die anderen
Sicherheitsapparate - Bundeskriminalamt (BKA), Bundesgrenzschutz,
Bundesnachrichtendienst, Generalbundesanwalt (GBA) - stärker zu vernetzen.4 Vorläufer einer solchen Koordinierungs-,
Zentralisierungs- und Vernetzungsinstanz jenseits der Verfassung gibt es längst:
die "Koordinierungsgruppen Terrorismusbekämpfung" (KGT). Die KGT "Linksterrorismus"
besteht seit 1991 und ist beim BKA angesiedelt; hier sind sowohl das Bundesamt für
Verfassungsschutz, die einzelnen VS-Landesämter, der GBA und die einzelnen
Innenminister vertreten. Nach der Beschlußniederschrift der
Innenministerkonferenz (IMK) vom 3. Mai 1991 hat diese Einrichtung u.a. folgende
Funktionen, die in der Vor- und Nachbereitungsphase des Polizeieinsatzes in Bad
Kleinen zum Tragen gekommen sind:
Mittlerweile ist nach gleichem Muster auch eine "Koordinierungsgruppe
Rechtsextremismus" eingerichtet worden.
Eine solche Entwicklung der Zusammenführung von Geheimdiensten und
Polizei/Staatsschutz sollte ursprünglich in der Bundesrepublik eigentlich
von Anfang an und vom Ansatz her unmöglich gemacht werden. Aufgrund der
leidvollen Erfahrungen mit der faschistischen GeStaPo, der Geheimen
Staatspolizei im Nationalsozialismus, die allumfassend nachrichtendienstlich und
vollziehend tätig war, sollte nach 1945 eine strikte Trennung zwischen
polizeilicher und geheimdienstlicher Tätigkeit, eine Entflechtung von
Polizeiapparat und Geheimdiensten vollzogen werden. Es sollte damit eine
undemokratische staatliche Machtkonzentration, das Wiederaufleben eines
staatsterroristischen Systems von vornherein verhindert werden. Seitdem gilt das
sog. Trennungsgebot nach überwiegender Ansicht zwar als verfassungskräftiges
"essential", obwohl es - entgegen den historischen Erwartungen - keine
direkte Aufnahme ins Grundgesetz fand.
Doch das allmähliche Verblassen der Erinnerungen an die Schrecken der
NS-Herrschaft und die wiedereinsetzende Einschwörung auf das neu-alte
Feindbild Kommunismus, später "Linksextremismus und Terrorismus",
ließen den Blick für die Gefahren einer wiedervereinigten und übermächtigen
Sicherheitsbürokratie immer mehr verschwimmen.
Längst ist eine
zunehmende Verschmelzung der geheimdienstlichen und polizeilichen Tätigkeitsbereiche
und Methoden zu beobachten und ein intensives Zusammenwirken zwischen
Geheimdiensten ("Verfassungsschutz", Militärischer Abschirmdienst
und Bundesnachrichtendienst) und der auf dem Gebiet des Staatsschutzes und der
allgemeinen Kriminalitätsbekämpfung präventiv wie repressiv tätigen
Polizei.
Innerhalb des Polizeibereichs gibt es längst eine unheilvolle
Verquickung zu verzeichnen. Die Aufgabenfelder der Polizei wurden in der Praxis
wesentlich erweitert - weit hinein in das Vorfeld von strafbaren Handlungen und
konkreten Gefahren - und mittlerweile unter den Begriffen "Gefahrenvorsorge"
und "Straftaten-Verhütung" in den Polizeigesetzen der Länder
verrechtlicht.
Parallel mit dieser Präventionsstrategie wurden
geheimpolizeiliche Strukturen, Mittel und Methoden der Informationsbeschaffung
zunächst im rechtsfreien Raum institutionalisiert: So ist auf verschiedenen
Ebenen, etwa beim Bundeskriminalamt und bei verschiedenen Landeskriminalämtern
ein Polizeiapparat mit Spezialabteilungen innerhalb des Polizeiapparates
etabliert worden, abgeschottet gegenüber dem normalen Polizeibetrieb und
jeglicher öffentlichen, aber nicht selten auch innerbehördlichen
Kontrolle entzogen.
Mit Hilfe von nachrichtendienstlichen Mitteln und Methoden, die der
Polizei eigentlich prinzipiell versagt sind, wie z.B.
wird weit im Vorfeld des Verdachts aktive Informationsbeschaffung betrieben
mit dem Ziel der systematischen "Verdachtsgewinnung" und "Verdachtsverdichtung",
u.a. durch die Infiltration von "verdächtigen" Gruppen und
Szenen.
Die Polizei hat also inzwischen in ihren Händen exekutive
(vollziehende) und geheimdienstliche (nachrichtendienstliche) Machtmittel angehäuft,
deren Gebrauch der öffentlichen Kontrolle weitgehend entzogen ist.
Die "Wiedervereinigung" von Polizei und Geheimdiensten im Sinne einer
neuen Geheim-Polizei ist also zunächst nicht primär synthetisch
zwischen diesen beiden Sicherheitsorganen erfolgt, sondern innerhalb des
Polizeiapparates selbst, der sich damit in gewisser Weise insbesondere vom "Verfassungsschutz"
(VS) emanzipiert hat. Die Vorverlagerung der polizeilichen Tätigkeit sowie
die Annäherung von Geheimdiensten und Polizei im Vorfeld, wie sie gegenwärtig
noch forciert wird, sowie die unterschiedlichen Erkenntnis-Interessen von
Polizei und Geheimdiensten führen zwangsläufig zu großflächigen
Überschneidungen und Konkurrrenzen, so z.B. bei der "Terrorismusbekämpfung":
Sowohl der VS als auch der polizeiliche Staatsschutz haben hierfür
Spezialabteilungen installiert; beide bedienen sich bei ihrer Arbeit
nachrichtendienstlicher Mittel. Polizei und VS machen sich folglich in denselben
Bereichen des vorverlagerten Staatsschutzes ("Terrorismus"/"politischer
Extremismus") praktisch mit den gleichen Mitteln Konkurrenz - etwa auch bei
dem Versuch der Infiltration politisch-oppositioneller Gruppierungen oder bei
Observationen - was gelegentlich schon zu regelrechten "Pannen" geführt
hat. Die unausweichlich scheinende Konsequenz: Diese Entwicklung zwingt
praktisch zur permanenten Kooperation und Koordination. Deshalb wird in der
gegenwärtigen Sicherheitsdebatte das Trennungsgebot offen zur Disposition
gestellt; seine Überwindung wird nach und nach institutionalisiert. Die
politische Nonchalance, mit der die beschriebene Funktions- und
Methodenvermengung sowie die Koordinierung per KGT etc. betrieben wird,
offenbart jedoch einen eklatanten Mangel an Sensibilität gegenüber der
geschichtlichen Erfahrung und Verantwortung in Deutschland.
Wir müssen uns diese verhängnisvollen Struktur-Entwicklungen sehr
genau anschauen und einer grundsätzlichen Kritik unterziehen; ich vermisse
in diesem Zusammenhang - leider - eine starke politische Opposition, aber ebenso
vermisse ich eine Opposition gegen die Nicht-Aufklärung von Bad Kleinen.
Angesichts der nach wie vor mysteriösen Todesumstände und der skandalösen
Vertuschungsmanöver ist es dringend geboten, begleitend zu den Aktivitäten
der AnwältInnen von Birgit Hogefeld und Wolfgang Grams Eltern eine unabhängige
internationale Expertenkommission einzusetzen sowie aus den genannten
strukturellen Gründen die abgeschottet arbeitenden und unkontrollierbaren
Sondereinsatzkommandos aufzulösen und mit den "Helden von Bad Kleinen"
den Anfang zu machen.