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Wed Dec  4 17:38:06 1996
 

PANNEN, PECH & PLEITEN?

Die "Helden von Bad Kleinen" und der koordinierte "Anti-Terror"


Rolf Gössner 1


Bahnhofsunterführung mit Gedenktafel für Wolfgang Grams und behelmten Polizisten
Foto: Signum




Wir leben offenbar in einem Land, in dem hoch spezialisierte und professionelle staatliche Organe nicht nur eine vorbereitete Festnahme zum mörderischen Unternehmen werden lassen und in dem die beteiligten Top-Terror-Spezialisten sich als hochgradig wahrnehmungsgeschädigt erweisen und vom kollektiven Blackout geplagt werden. Wir leben auch in einem Lande, in dem staatliche Organe in eigener Sache ermitteln, in dem staatliche Superspezialisten plötzlich, da sie selbst involviert und verdächtigt sind, wundersamerweise die einfachsten Spurensicherungsmaßnahmen nicht beherrschen; und wir leben in einem Land, in dem BKA-Spezialisten Beweise vernichten und verantwortliche Stellen eine beispiellose Vertuschungs- und Desinformationspolitik betreiben; wir leben in einem Land, in dem sich der Bundeskanzler erdreistet, sich trotz des schweren Mordverdachts demonstrativ vor die Männer der GSG 9 zu stellen, die "unsere Sympathie und unsere Unterstützung" brauche. Nun, das Signal wurde verstanden, neben den beweiserheblichen Kleidungsstücken wurden auch ihre Träger gleich spurenvernichtend mitgereinigt. Der lancierte Selbstmord hat Methode, auch wenn ihn keiner gesehen hat - was können da zwei Zeugen ausrichten, die einen Mord, eine regelrechte Exekution gesehen haben wollen?
Bad Kleinen ist meines Erachtens ein Lehrstück dafür, wie ein Rechtsstaat den ungeheuerlichen Vorwurf eines staatlichen Mordes kleinarbeiten und in einen nicht bewiesenen Selbstmord umdefinieren kann, ohne daß sich die demokratische Öffentlichkeit darüber empört. Insofern ist Bad Kleinen kein bloßer Einzelfall, sondern Symptom. Bad Kleinen ist keine "Panne", sondern hat System.
Dieser möglicherweise größte Polizei- und Geheimdienstskandal in der Geschichte der BRD ist Ausdruck für eine fatale Entwicklung dessen, was hierzulande gerne mit "Innerer Sicherheit" bezeichnet wird. Bad Kleinen offenbarte die Auswirkungen dieser Gesamtentwicklung in gebündelter Form und in besonders krasser Weise. Ich wurde von den Veranstaltern gebeten, über die GSG 9 bzw. die Problematik von polizeilichen Spezialeinsatzkommandos sowie über die "Koordinierungsgruppe Terrorismus" (KGT) zu sprechen. Ich möchte meine Eingangsthesen an diesen beiden staatlichen Einrichtungen verdeutlichen und belegen.

"Kampfunfähig schießen ist Quatsch"

Mit Erlaß des Bundesinnenministeriums vom September 1972 wurde die Aufstellung der "Anti-Terror"-Einheit beim Bundesgrenzschutz (BGS), der paramilitärischen Truppenpolizei des Bundes, angeordnet; laut Dienstanweisung soll die Truppe vor allem auf die Bekämpfung von "Mord und Totschlag, Menschenraub, Geiselnahme und räuberische Erpressung" spezialisiert sein. Aber auch bei "schweren Ausschreitungen, Demonstrationen und zum Schutz besonders gefährdeter Staatsgäste und deutscher Politiker" wird die GSG 9 eingesetzt. Sie hat einen "offensiven Zugriffsauftrag in Fällen von besonderer Bedeutung" und ist in ständiger Alarmbereitschaft. Sie besteht ausschließlich aus Freiwilligen und hat eine Soll-Stärke von 220 Mann; die Ist-Stärke 1992: 180; inzwischen sollen auch Frauen zugelassen werden, was die Sache nicht besser machen wird. Der damalige Bundesinnenminister Hans-Dietrich Genscher (FDP) gilt als "Vater" der Spezialtruppe. Einem anderen hohen Verfassungsschützer (nicht Genscher, wie vielfach behauptet) werden die aufmunternden Worte zugeschrieben: die GSG 9 müsse "Elitebewußtsein entwickeln" und "mit dem Willen kämpfen, den Gegner zu vernichten" - "kampfunfähig schießen ist Quatsch". Und Hessens früherer FDP-Innenminister Hanns-Heinz Bielefeld ergänzte einfühlsam: "Auch Terroristen sind Menschen, sie totzuschießen will geübt und gelernt sein". Solchermaßen moralisch gestärkt ging die GSG 9 unter Führung ihres ersten Kommandeurs Ulrich Wegener ans Werk. Bald war sie die bestausgerüstete und -ausgebildete Spezialeinheit der Bundesrepublik und auch international gehörte sie zur "Spitze" ihrer Spezies.
Vier GSG-9-Einheiten wurden aufgestellt: zwei Observationseinheiten, eine Fallschirmspringer-Einheit und später die nach der Entführung des italienischen Luxus-Kreuzfahrtschiffes "Achille Lauro" (1985) geschaffene "GSG-9-Marine" - GSG 9 also zu Wasser, zu Lande und in der Luft. Die Einheiten sind gegliedert in Führungs- und Spezialeinsatztrupps mit jeweils fünf Leuten; dieses operative Konzept mit kleinsten taktischen Einheiten ist dem "Minihandbuch des Stadtguerilleros" des Brasilianers Carlos Marighella entlehnt. Hinzu kommen technische Einheiten, wie die "Fernmelde- und Dokumentationseinheit", der auch die Beweissicherung und Einsatz-Dokumentation per Video obliegt - Aufgaben, die während des Einsatzes in Bad Kleinen offensichtlich so sträflich vernachlässigt wurden, daß selbst der Münchner Polizeipsychologe Georg Sieber argwöhnt, dieses Versäumnis könne auf "böser Absicht" beruht haben, "um eine spätere Rekonstruktion des Hergangs zu verhindern".2

Spezialeinsatzkommandos als Gefahrenquelle

In den frühen siebziger Jahren begann unter der sozialliberalen Regierung eine sicherheitspolitische Entwicklung, die einen starken Ausbau, eine drastische Aufrüstung und Umstrukturierung der staatlichen Sicherheitsapparate zur Folge hatte. Dabei hat sich eine verhängnisvolle Tendenz zur polizeilichen Spezialisierung herausgebildet, deren Spannbreite von der hart trainierten "Anti-Terror-Einheit" bis zum freundlichen "bürgernahen" Kontaktbereichsbeamten reicht. Geradezu inflationär gestaltete sich die Entwicklung von Spezialeinheiten und Sonderkommandos, die sich als Keimzellen einer neuen geheimen Sonderpolizei herausstellten:

Die Freiwilligen der Polizei-Sondereinsatzkommandos, die mittlerweile auch in den neuen Bundesländern existieren, trainieren ähnlich hart wie die GSG 9 und erhalten ebenfalls eine (geheim-) polizeiliche und geheimdienstliche Sonderausbildung (verdeckte Ermittlungen, operative Fahndungen) mit besonderem Schießtraining, dessen Schwerpunkt der gezielte Todesschuß bildet. Ihre gemischt präventive wie repressive Verwendung ist allerdings wesentlich alltäglicher und umfassender: nicht nur bei Einsätzen gegen "Terroristen", sondern auch bei jeder größeren Demonstration, wo SEK-Mitglieder, mit geschwärzten Gesichtern, häufig als besonders brutale Schläger- und Greiftrupps auffallen; aber auch bei Fahndungen im Bereich der politischen und "gewöhnlichen" (insbesondere der sog. organisierten) Kriminalität: Dabei durchbrechen die MEKs mit ihrem geheimpolizeilich-konspi- rativen Auftrag (u.a. Einsätze als under-cover-Agenten und agents provocateurs; Lausch- und Spähangriffe) das verfassungsmäßige Gebot der Trennung von Polizei und Geheimdiensten und sie unterlaufen eine effektive öffentliche Kontrolle. In erschreckend vielen Fällen erweisen sich Mitglieder dieser Spezialkommandos als Todesschützen; auf der Strecke ihrer tödlichen Fahndungen blieben "Terrorismus"-Verdächtige, flüchtige Tatverdächtige und Gefangene, aber auch vollkommen Unbeteiligte. 3

"Die Helden von Mogadischu" trainieren

Zurück zur GSG 9: Ihren ersten aufsehenerregenden Auftritt hatte die seit 1973 einsatzbereite "Anti-Terror-Einheit" bei der geglückten Geiselbefreiung aus der Lufthansamaschine in Mogadischu (1977), in deren Verlauf drei der Entführer erschossen worden sind. Nach dem anfänglichen Rummel wurde es ziemlich ruhig um die "Superhelden von Mogadischu". Auf die Frage, was die GSG 9 danach eigentlich getrieben habe, gab Polizeihauptkommissar Tutter vier Jahre später in der Zeitschrift des BGS eine simple Antwort: "Die GSG 9 trainiert". Für den Tag X.
Die Ausbildung dauert 8 Monate und setzt den einjährigen Grunddienst beim BGS voraus sowie den "Willen zur Leistung und Kameradschaft". Diese Sonderausbildung ist außergewöhnlich hart: "sie kann nicht hart genug sein", so der langjährige Kommandeur, Ulrich Wegener, "denn wir müssen davon ausgehen, daß es sich beim potentiellen Gegner um militante Gruppen handelt." Nur etwa 10 bis 30 Prozent der Bewerber für die GSG 9 genügen den strengen Anforderungen und bewältigen die rigide Personalselektion.
Kernziel der GSG-9-Ausbildung ist der "motivierte Einzelkämpfer" mit "höchster Kampfmoral und körperlicher Fitneß". Nach dem Grundlehrgang folgt eine neunwöchige Spezialausbildung "gegen Guerillas und Terroristen".

Schießen im Sekundentakt

Geländelauf, Krafttraining, Leistungs- und Härteausbildung, Karate, aber auch Psychologie-Seminare und Streßbewältigung (u.a. Desensibilisierungstherapien, Angstbewältigung und Hemmschwellen-Absenkung), ferner Waffenübungen in allen Situationen bei Tag und bei Nacht, auch unter Belastung und Streß, sowie ständiger "Kontakt" mit der Waffe gehören zum Konditionierungsprogramm. "Der Ablauf vom Ziehen der Waffe bis zur Abgabe des Schusses darf ein Limit von einer Sekunde nicht überschreiten", offenbart der GSG 9-Vertraute Rolf Tophoven bewundernd. Bei diesen Vorgaben bleibt weder Zeit für Skrupel noch zum Nachdenken, was auch systematisch abgebaut werden soll. Gleichwohl soll neben "extrem gutem Reaktionsverhalten" auch "Besonnenheit für den Schützen oberstes Gebot" sein - "Killertypen und schießwütige Gesellen" seien nicht gefragt.
Der Münchner Polizei-Psychologe Georg Sieber weiß aus eigener Erfahrung, daß Polizei-Spezialeinheiten wie die GSG 9 darauf gedrillt werden, selbst einen am Boden liegenden Tatverdächtigen weiter als gefährlich anzusehen, weil er sich möglicherweise nur totstellt und blitzschnell eine Waffe ziehen könnte. Deshalb muß auch eine solche Person "passiv gestellt" werden: "Das bedeutet im Zweifel erschießen", so der Polizei-Psychologe im stern. Die GSG 9 ist mit den modernsten Geräten und Waffen der Welt ausgerüstet. Sie benutzt u.a., wie auch in Bad Kleinen, einen besonderen Geschoßtyp: die "Action-1-Munition" mit dem sog. Mann-Stop-Effekt, der aufgrund eines hydrostatischen Schocks zur sofortigen Handlungsunfähigkeit führt - nicht selten über den Tod: Denn diese Munition verformt sich beim Auftreffen auf die Haut und reißt schwere Wunden im Körper des oder der Getroffenen; insoweit hat diese Munition große Ähnlichkeit mit den völkerrechtlich - für Kriegszwecke - geächteten "Dum-Dum-Geschossen". Geübt wird auch an Waffen des Gegners: u.a. mit Sturmkarabinern vom sowjetischen Typ AK 47-Kalaschnikow, "bevorzugte Waffe vieler Guerillabewegungen und Terroristen", so Tophoven, "getreu den Lehrsätzen Mao Tse-tungs, daß eine Waffe vom Feind erbeutet wird und sich dann gegen diesen selbst richtet". Da auch bei Einsätzen mitunter nicht-dienstliche Sekundär-Schußwaffen mitgeführt werden - wie auch, lange Zeit verschwiegen, in Bad Kleinen -, war es durchaus denkbar, daß Wolfgang Grams und möglichweise sogar der GSG 9-Angehörige Michael Newrzella mit einer solchen (vielleicht früher sichergestellten) Waffe des "Gegners" erschossen worden sind - oder aber mit Munition aus einem sog. schwarzen, nichtregistrierten Magazin.

Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen

Die Beamten der GSG 9 befinden sich durch das ständige Hochleistungs- und Härtetraining in Dauer-Höchstform, was zwangsläufig zu Frustrationen und Motivationsverlusten führen muß, wenn über Jahre hinaus keine Einsatzmöglichkeit in Sicht ist: "Wenn ein hochgezüchtetes Rennpferd zu lang im Stall steht und nicht 'bewegt' wird, erlahmen seine Spritzigkeit und sein Leistungsvermögen", meint der einfühlsame GSG 9-Experte Rolf Tophoven. Schlagzeilen wie "Die Helden stehen weiter im Schatten" und "GSG 9 führt nur noch Schattendasein" machten den Angehörigen der Spezialeinheit in den 80er Jahren schwer zu schaffen - zumal sie für ihren Dienst lediglich eine Härte-Zulage von 200 DM brutto erhalten.
Vermutlich um die Hochmotivation gleichwohl zu erhalten, hat die Einheit eine grundlegende Umorientierung durchgemacht. So fand sie mitunter auch wesentlich unterhalb der Schwelle des "Anti-Terror"-Einsatzes Verwendung: etwa bei Großdemonstrationen (bislang eher die Ausnahme), wie 1986 gegen die Wiederaufbereitungsanlage in Wackersdorf (26 GSG 9-Beamte im Einsatz), anläßlich des Weltwirtschaftsgipfels oder in Solingen wegen der "Ausschreitungen" von Türken nach den neonazistischen Morden an fünf Türkinnen - verdeckte Einsatzbereitschaft, die angesichts des Härtedrills und Schießtrainings zu einer Katastrophe mit tödlichen Folgen führen könnte.
Die GSG 9 findet inzwischen Verwendung u.a. beim Personenschutz, zur Überwachung von deutschen Einrichtungen im Ausland, zum Schutz von kerntechnischen Anlagen und millionenschweren Geldtransporten der Bundeszentralbank, bei Observationen und Festnahmeaktionen im Bereich der "organisierten Kriminalität". Darüber hinaus werden GSG 9-Angehörige als "Anti-Terror"-Ausbilder ins Ausland geschickt. So beriet etwa der erste GSG-9-Kommandeur Wegener zusammen mit weiteren BGS-Beamten die Regierung von Saudi-Arabien bei der Fortentwicklung der 2.000 Mann starken "Anti-Terror"-Einheit "Special Security Forces". Eine direkte Zusammenarbeit fand u.a. mit den amerikanischen Special Forces und Delta Force, dem britischen FBI, der Anti-IRA-Truppe "Special Air-Service-Regiment" (SAS), sowie mit israelischen und türkischen "Anti-Terror"-Sondereinheiten statt. Verdeckt wurde die GSG 9 auch in Krisengebieten, wie im Libanon und in El Salvador, eingesetzt.

Öffentliche Kontrolle - ein Fremdwort

Wie steht es nun um die öffentliche Kontrolle dieser vielseitig verwendbaren Spezialeinheit? Angesichts der praktizierten Abschottung, des geheimpolizeilich-konspirativen Auftrags, des ausgeprägten Korpsgeistes und angesichts der Anonymität der eingesetzten GSG 9-Kämpfer "ohne Gesicht" (ruß-geschwärzt oder maskiert) laufen die üblichen Kontrollmechanismen ins Leere. Hinzu kommt das Problem, daß - wie im Fall Grams - Polizei und Staatsanwaltschaft quasi in eigener Sache ermitteln. Deshalb haben Todesschützen der Polizei auch häufig eine aussichtsreiche Position bei der späteren gerichtlichen "Klärung" der Vorfälle, falls es überhaupt so weit kommt.
Haben Mitglieder von Sondereinsatzkommandos bei der "Terroristen"-Fahndung einen Menschen erschossen oder schwer verletzt, so werden die Namen der beteiligten Polizeibeamten von den Sicherheitsbehörden auch den Angehörigen der Opfer nicht bekanntgegeben. Ihre Vernehmung erfolgt unter Code-Nummern. So geschehen u.a. im Fall des schwer verletzten Rolf Heißler sowie des von einem Sonderkommando erschossenen, völlig unbeteiligten Taxifahrers Günter Jendrian und nun auch im Fall Grams. Die an der Schießerei in Bad Kleinen beteiligten GSG 9-Beamten, die gemeinsam und vermummt zu den Verhören flogen, hatten die Möglichkeit der Zeugenabsprache, wurden betreut und lediglich unter Nummern vernommen. Die Verdunkelungsgefahr ist hier geradezu programmiert.

Pannen, Pech & Pleiten?

Im Zusammenhang mit Bad Kleinen ist viel die Rede von Dilletantismus, Pannen, Konkurrenzen, Kompetenzwirrwarr und Koordinierungsproblemen der beteiligten Sicherheitsbehörden. Diese Begriffe haben Entlastungsfunktion. Die angeblichen "Pannen" sind mit individuellem Fehlleistungen nicht mehr erklärbar; ihnen liegt eine gewisse Systematik zugrunde, die die Dimension von Bad Kleinen im Vorfeld und in der Nachbereitung erst zu offenbaren vermag. Wir müssen also Bad Kleinen in einen größeren Zusammenhang stellen.
Gegenwärtig sehen wir uns einer wahren "Sicherheitsoffensive" ausgesetzt. Sie wird geführt unter den Legitimationsformeln wachsende Kriminalität, "organisierte Kriminalität" und neonazistische Gewalt. Eine regelrechte Law-and-Order-Orgie wird veranstaltet: Dabei geht es um Strafrechts- und Strafprozeßrechtsverschärfungen sowie um die Nachrüstung von Polizei und Geheimdiensten. Die Sicherheitspolitiker der CDU/CSU, aber auch der SPD schrecken längst nicht mehr davor zurück, dabei auch tragende Verfassungsprinzipien, die Substanz von Bürgerrechten und rechtsstaatliche Strukturen offen anzugreifen. Nur ein paar Beispiele, die für unser Thema von Bedeutung sind und die das prekäre Verhältnis von Polizei und Geheimdiensten betreffen: Aufbauend auf die sicherheitspolitische Entwicklung der 70er und 80er Jahre gibt es gegenwärtig konkrete Pläne, die Aufgabenfelder des Inlandsgeheimdienstes "Verfassungsschutzes" (VS) und des Bundesnachrichtendienstes vollkommen systemwidrig auszudehnen auf die Bekämpfung der "organisierten Kriminalität" und des "Internationalen Terrorismus" - also auf originär polizeiliches Tätigkeitsgebiet; dabei sollen den Geheimdiensten ggfls. auch polizeiliche Befugnisse, also Exekutivbefugnisse zustehen. Das würde eine verfassungswidrige Vermischung von Aufgaben und Funktionen der Polizei und der Geheimdienste bedeuten. Und andererseits sollen im neuen BKA-Gesetz nachrichtendienstliche Befugnisse zur geheimen Ausforschung von Personen verankert werden; Verdeckte Ermittler, die bereits legalisiert wurden, sollen "milieubedingte Straftaten" begehen dürfen; die bereits zu beobachtende staatliche Mitorganisierung der (organisierten) Kriminalität bekäme damit die Gesetzesweihe.
Der Präsident des Bundesamtes für Verfassungsschutz (BfV) forderte bereits, ein sog. Bundessicherheitsamt zu schaffen und hierüber die anderen Sicherheitsapparate - Bundeskriminalamt (BKA), Bundesgrenzschutz, Bundesnachrichtendienst, Generalbundesanwalt (GBA) - stärker zu vernetzen.4 Vorläufer einer solchen Koordinierungs-, Zentralisierungs- und Vernetzungsinstanz jenseits der Verfassung gibt es längst: die "Koordinierungsgruppen Terrorismusbekämpfung" (KGT). Die KGT "Linksterrorismus" besteht seit 1991 und ist beim BKA angesiedelt; hier sind sowohl das Bundesamt für Verfassungsschutz, die einzelnen VS-Landesämter, der GBA und die einzelnen Innenminister vertreten. Nach der Beschlußniederschrift der Innenministerkonferenz (IMK) vom 3. Mai 1991 hat diese Einrichtung u.a. folgende Funktionen, die in der Vor- und Nachbereitungsphase des Polizeieinsatzes in Bad Kleinen zum Tragen gekommen sind:

Mittlerweile ist nach gleichem Muster auch eine "Koordinierungsgruppe Rechtsextremismus" eingerichtet worden.

Das Trennungsgebot

Eine solche Entwicklung der Zusammenführung von Geheimdiensten und Polizei/Staatsschutz sollte ursprünglich in der Bundesrepublik eigentlich von Anfang an und vom Ansatz her unmöglich gemacht werden. Aufgrund der leidvollen Erfahrungen mit der faschistischen GeStaPo, der Geheimen Staatspolizei im Nationalsozialismus, die allumfassend nachrichtendienstlich und vollziehend tätig war, sollte nach 1945 eine strikte Trennung zwischen polizeilicher und geheimdienstlicher Tätigkeit, eine Entflechtung von Polizeiapparat und Geheimdiensten vollzogen werden. Es sollte damit eine undemokratische staatliche Machtkonzentration, das Wiederaufleben eines staatsterroristischen Systems von vornherein verhindert werden. Seitdem gilt das sog. Trennungsgebot nach überwiegender Ansicht zwar als verfassungskräftiges "essential", obwohl es - entgegen den historischen Erwartungen - keine direkte Aufnahme ins Grundgesetz fand.

... und die Aufweichung des Prinzips

Doch das allmähliche Verblassen der Erinnerungen an die Schrecken der NS-Herrschaft und die wiedereinsetzende Einschwörung auf das neu-alte Feindbild Kommunismus, später "Linksextremismus und Terrorismus", ließen den Blick für die Gefahren einer wiedervereinigten und übermächtigen Sicherheitsbürokratie immer mehr verschwimmen.
Längst ist eine zunehmende Verschmelzung der geheimdienstlichen und polizeilichen Tätigkeitsbereiche und Methoden zu beobachten und ein intensives Zusammenwirken zwischen Geheimdiensten ("Verfassungsschutz", Militärischer Abschirmdienst und Bundesnachrichtendienst) und der auf dem Gebiet des Staatsschutzes und der allgemeinen Kriminalitätsbekämpfung präventiv wie repressiv tätigen Polizei.

Strukturen und Methoden einer neuen "Geheim"-Polizei

Innerhalb des Polizeibereichs gibt es längst eine unheilvolle Verquickung zu verzeichnen. Die Aufgabenfelder der Polizei wurden in der Praxis wesentlich erweitert - weit hinein in das Vorfeld von strafbaren Handlungen und konkreten Gefahren - und mittlerweile unter den Begriffen "Gefahrenvorsorge" und "Straftaten-Verhütung" in den Polizeigesetzen der Länder verrechtlicht.
Parallel mit dieser Präventionsstrategie wurden geheimpolizeiliche Strukturen, Mittel und Methoden der Informationsbeschaffung zunächst im rechtsfreien Raum institutionalisiert: So ist auf verschiedenen Ebenen, etwa beim Bundeskriminalamt und bei verschiedenen Landeskriminalämtern ein Polizeiapparat mit Spezialabteilungen innerhalb des Polizeiapparates etabliert worden, abgeschottet gegenüber dem normalen Polizeibetrieb und jeglicher öffentlichen, aber nicht selten auch innerbehördlichen Kontrolle entzogen.

Mit Hilfe von nachrichtendienstlichen Mitteln und Methoden, die der Polizei eigentlich prinzipiell versagt sind, wie z.B.

wird weit im Vorfeld des Verdachts aktive Informationsbeschaffung betrieben mit dem Ziel der systematischen "Verdachtsgewinnung" und "Verdachtsverdichtung", u.a. durch die Infiltration von "verdächtigen" Gruppen und Szenen.
Die Polizei hat also inzwischen in ihren Händen exekutive (vollziehende) und geheimdienstliche (nachrichtendienstliche) Machtmittel angehäuft, deren Gebrauch der öffentlichen Kontrolle weitgehend entzogen ist.
Die "Wiedervereinigung" von Polizei und Geheimdiensten im Sinne einer neuen Geheim-Polizei ist also zunächst nicht primär synthetisch zwischen diesen beiden Sicherheitsorganen erfolgt, sondern innerhalb des Polizeiapparates selbst, der sich damit in gewisser Weise insbesondere vom "Verfassungsschutz" (VS) emanzipiert hat. Die Vorverlagerung der polizeilichen Tätigkeit sowie die Annäherung von Geheimdiensten und Polizei im Vorfeld, wie sie gegenwärtig noch forciert wird, sowie die unterschiedlichen Erkenntnis-Interessen von Polizei und Geheimdiensten führen zwangsläufig zu großflächigen Überschneidungen und Konkurrrenzen, so z.B. bei der "Terrorismusbekämpfung": Sowohl der VS als auch der polizeiliche Staatsschutz haben hierfür Spezialabteilungen installiert; beide bedienen sich bei ihrer Arbeit nachrichtendienstlicher Mittel. Polizei und VS machen sich folglich in denselben Bereichen des vorverlagerten Staatsschutzes ("Terrorismus"/"politischer Extremismus") praktisch mit den gleichen Mitteln Konkurrenz - etwa auch bei dem Versuch der Infiltration politisch-oppositioneller Gruppierungen oder bei Observationen - was gelegentlich schon zu regelrechten "Pannen" geführt hat. Die unausweichlich scheinende Konsequenz: Diese Entwicklung zwingt praktisch zur permanenten Kooperation und Koordination. Deshalb wird in der gegenwärtigen Sicherheitsdebatte das Trennungsgebot offen zur Disposition gestellt; seine Überwindung wird nach und nach institutionalisiert. Die politische Nonchalance, mit der die beschriebene Funktions- und Methodenvermengung sowie die Koordinierung per KGT etc. betrieben wird, offenbart jedoch einen eklatanten Mangel an Sensibilität gegenüber der geschichtlichen Erfahrung und Verantwortung in Deutschland.

Fazit

Wir müssen uns diese verhängnisvollen Struktur-Entwicklungen sehr genau anschauen und einer grundsätzlichen Kritik unterziehen; ich vermisse in diesem Zusammenhang - leider - eine starke politische Opposition, aber ebenso vermisse ich eine Opposition gegen die Nicht-Aufklärung von Bad Kleinen. Angesichts der nach wie vor mysteriösen Todesumstände und der skandalösen Vertuschungsmanöver ist es dringend geboten, begleitend zu den Aktivitäten der AnwältInnen von Birgit Hogefeld und Wolfgang Grams Eltern eine unabhängige internationale Expertenkommission einzusetzen sowie aus den genannten strukturellen Gründen die abgeschottet arbeitenden und unkontrollierbaren Sondereinsatzkommandos aufzulösen und mit den "Helden von Bad Kleinen" den Anfang zu machen.


  1. Überarbeitete und erweiterte Fassung eines Vortrags, den RA Dr. R. Gössner am 24. 3. 1994 in Frankfurt/M. auf der Groß-Veranstaltung zu den Vorfällen in Bad Kleinen gehalten hat.
  2. taz 9.7.93
  3. s. dazu Beitrag zur tödlichen "Terroristen"-Bekämpfung in diesem Buch
  4. FR 24.10.1992; Die Welt 28.10.92