Redaktionsgruppe
Bundesweite Demonstration zur Ermordung von Wolfgang Grams am
10.7.93 in Wiesbaden
Nach dem Schlag
gegen die RAF in Bad Kleinen nutzen die staatlichen Repressionsorgane die durch
den Spitzel-Erfolg entstandene Verunsicherung, um legale linke Zusammenhänge
und AktivistInnen unter Druck zu setzen, einzuschüchtern und zu lähmen.
Im Schutz der wieder abflauenden öffentlichen Aufregung über den
Mord an Wolfgang Grams lancieren die Sicherheitsapparate scheibchenweise und
medienwirksam dosiert sogenannte "Ermittlungsergebnisse". Mit Hilfe
der Aussagen des Spitzels Klaus Steinmetz und durch die "Interpretation"
von Funden, die sie bei Birgit Hogefeld und Wolfgang Grams gemacht haben, wird
1) die Beteiligung von legal kämpfenden Linken an Anschlägen der RAF
und ihre Unterstützung konstruiert und 2) linke Diskussion auf "Vorbereitung
von Anschlägen" und "Unterstützung der RAF" umgewidmet
und damit kriminalisierbar gemacht.
Schon kurz nach den Ereignissen von Bad
Kleinen wurde die mögliche Beteiligung der "Nahtstellenperson"
Klaus Steinmetz an der Aktion der RAF gegen den Knastneubau in Weiterstadt
behauptet. Grundlage ist die von den Sicherheitsapparaten schon lange forcierte
"Ebenen"-Theorie, wonach die RAF auch legal lebende Mitglieder habe,
die zu Anschlägen kurzfristig abtauchten. Für diese Theorie gab es nie
einen Beweis und sie wurde von der RAF oft genug dementiert; ihr einziger Sinn
war und ist die Kriminalisierung und Einknastung mißliebiger Linker, wie
z.B. bei der Verurteilung von Luitgard Hornstein 1991 und bei den 1991
eingeleiteten 129a-Verfahren gegen Stuttgarter GenossInnen, deren Arbeitsweg
sich zu ihrem Pech mit dem bekannter Wirtschaftsbosse kreuzte (= Ausspähung
anschlagsrelevanter Personen im Dienste der RAF).
Ende Juli '93 ist in der
Presse zu lesen, daß Wolfgang Grams und Birgit Hogefeld BahnCards bei sich
hatten, die in einem Göttinger Reisebüro gekauft worden waren -
allerdings nicht von ihnen selbst. Daß die Sicherheitsbehörden dieses
Detail ihrer Ermittlungen in der Medien-Öffentlichkeit lancieren, macht nur
einen Sinn, nämlich, daß es just in Göttingen mit der Autonomen
Antifa (M) eine sehr aktive antifaschistische Gruppe gibt, die den
Repressionsorganen wegen ihres regionalen Erfolgs und ihrer Initiativen zum
Aufbau einer bundesweiten Organisation ein Dorn im Auge ist. Sie ist deshalb
schon seit Jahren mit 129a-Verfahren überzogen worden. Als im Juli '94 15
Wohnungen, mehrere Büros des Asta der Uni Göttingen und andere Räume
im Rahmen dieser Verfahren durchsucht wurden, stand die Lokalpresse wieder mit
der Verdächtigung wegen der Bahncards publizistisch hilfreich zur Seite. In
offiziellen Verlautbarungen tauchte diese Story wohlweislich nicht auf, da die
Ermittlungsbehörden selbst wissen, daß sie jeder Grundlage entbehrt.
Anfang August '94 wurden 900 Exemplare einer vor 7 Jahren erschienenen und
seither über 10.000 mal verkauften Broschüre "Dokumente der
Zeitgeschichte: Bundesrepublik Deutschland (BRD)/ Rote Armee Fraktion (RAF)"
auf Antrag der Generalstaatsanwaltschaft Düsseldorf beschlagnahmt. Begründung
war, daß in der Broschüre die RAF zitiert werde, ohne daß eine
Distanzierung seitens der Herausgeber erfolge. Hintergrund dieser überraschenden
Aktion ist vermutlich ein Ermittlungsverfahren wegen Unterstützung der RAF
gegen 2 Mitglieder der Göttinger Autonomen Antifa (M), das sich auf den
Verkauf eben dieser Broschüre an einem Büchertisch der Gruppe stützt.
Bei der Durchsicht ihrer Akten muß die StA Celle festgestellt haben, daß
besagte Broschüre zwar schon mehrere tausend Mal verkauft, aber noch nie
kriminalisiert wurde. Das ist nun nachgeholt.
Am 30.8.93 veröffentlicht
die taz Auszüge aus Briefen, die bei Birgit und Wolfgang gefunden
wurden, und rückt eine weitere Gruppe, die eine Initiative für eine
bundesweite Organisierung der radikalen Linken in's Leben gerufen hat, in das
`Umfeld' der RAF, nämlich die Berliner Gruppe F.e.l.S. (Für eine linke
Strömung). In einem der Briefe wurde über eine bundesweite
Arbeitstagung berichtet, zu der F.e.l.S. öffentlich eingeladen hatte.
Daraus macht der interessierte taz-Redakteur dann gleich mal eine "enge
Abstimmung mit den Illegalen" beim "Aufbau einer Gegenmacht von unten".
F.e.l.S. hat sich dagegen in einer Pressekonferenz zur Wehr gesetzt und unter
anderem zu Bedenken gegeben, daß ihr Treffen öffentlich war und es
nicht erstaunlich ist, wenn sich die RAF für linke Diskussionen
interessiert.
Nach der gleichen Logik machen die Staatssicherheitsapparate
aus einem in einem Brief angeblich erwähnten "Projekt" prompt
einen Anschlag, an dessen Vorbereitung wiederum legal lebende Linke beteiligt
seien - schon ist die Allzweckwaffe `Ebenen-Theorie' wieder in Stellung
gebracht.
Einen weiteren bundesweiten Arbeitszusammenhang denunzierte die
Welt Anfang '94 mit ihrem Artikel: "RAF spinnt Spinnennetz bis in
die Türkei". Beim Spinnennetz handelt es sich um eine bundesweite
Vernetzung von Computer-Mailboxen mit dem Ziel des schnellen
Informationsaustauschs und der Kommunikation linker Personen und Gruppen.
Spinnennetz ist an den europäischen Mailbox-Verbund European Counter
Network angeschlossen. Auch das Spinnenetz ist völlig legal organisiert,
die über Telefonnetz verschickten Informationen sind sämtlich
unverschlüsselt und für die Sicherheitsdienste leicht zu beobachten.
Der Zusammenhang zur RAF ist also absurd, er gründet lediglich darauf, daß
auch Spinnennetz sich die Themen linker Diskussion nicht vom Staatsschutz
bestimmen läßt.
Mit der auszugsweisen Veröffentlichung des
intimen Briefwechsels von Birgit Hogefeld und Wolfgang Grams mit ihren Eltern
wurde aufgrund dieses Briefkontakts die Denunzierung der Gruppe der Angehörigen
der politischen Gefangenen in der BRD betrieben. Die Angehörigen stehen mit
ihrem Kampf gegen die Isolationsfolter an den Gefangenen aus RAF und Widerstand
dem staatlichen Vernichtungsinteresse schon lange entgegen. Die Angehörigen
nahmen dazu in einer Presseerklärung Stellung: "Zu der Medienhetze
gegen eine Angehörige, die aber in Wirklichkeit gegen uns alle zielt, und
von der wir auch alle betroffen sind, haben wir folgendes zu sagen: Es geht in
den lancierten Medienberichten darum, unsere Angehörigenarbeit unglaubwürdig
zu machen und uns zu kriminalisieren. Das ist für uns nichts Neues.
Schliesslich haben wir in unserer mehr als 20 Jahre langen Arbeit nahezu alle
Register staatlicher Verfolgungswut kennengelernt: Terrorobserva-tion,
Hausdurchsuchungen, Festnahmen, Ermittlungsverfahren, Prozesse, Druck auf
Vermieter und Arbeitgeber, Versuche, uns zur Zusammenarbeit mit dem Staatsschutz
zu erpressen, Drohungen und, und, und (...)"
Bei der Welt
macht man sich Gedanken über die Rechtslage in diesem Fall: Angehörige
dürfen die Strafverfolgung vereiteln, sie machen sich aber strafbar, wenn
sie geplante Straftaten nicht anzeigen. Offen bleibt auch die mögliche
Kriminalisierung angeblicher "Kuriere" zwischen den Eltern und der
RAF. Diese Drohung schwebt erstmal über allen, die zu den Eltern von Birgit
und Wolfgang Kontakt hatten und haben.
Nebenbei ist die Veröffentlichung
der Briefe einige Wochen nach Bad Kleinen auch ein Beispiel für das Timing
in der Öffentlichkeitsarbeit des Staatsschutzes. Im Spiegel wird im
gleichen Atemzug mit der voyeuristischen Ausbreitung dieser privaten Briefe aus
der Ermordung von Wolfgang Grams ein "bei einem Schußwechsel um's
Leben gekommen" - zwei Wochen vorher hatte er noch "Hinrichtung"
getitelt; das neue Propagandamaterial machte auch eine Umwertung der Ereignisse
von Bad Kleinen möglich.
Anfang September '93 nimmt Focus noch
einmal die sogenannten "Nahtstellenpersonen" in's Visier. Das Blatt
schreibt, daß den `Fahndungsbehörden' dieses Frühjahr der
Sprachcode, mit dem sich die RAF und ihre Unterstützer unterhielten,
transparenter geworden sei, daß sie ihn "womöglich gar geknackt"
hätten. Den Ermittlungsbehörden seien derzeit 30 Personen bekannt, "die
am Informationsaustausch zwischen aktiven und inhaftierten RAF-Mitgliedern sowie
ihren Unterstützern beteiligt sind. Etliche Kuriere stammen offenbar aus
radikalen autonomen Kreisen, dem sogenannten schwarzen Block. Aktivitäten
dieser Personen, darunter Top-Kuriere, sind in BKA-Lagebildern vermerkt. Klaus
Steinmetz, der aufgeflogene V-Mann, war auch ein TOP-Kurier." Der Spiegel
(30.8.93) spricht von "wohl mehr als 50 Details über Personen aus der
RAF-Szene, die in den Briefen zwischen Marianne und Birgit Hogefeld erwähnt
werden."
Aus allen Erfahrungen über den Staatsschutz und die
politische Justiz in der BRD ist es keine böswillige Unterstellung, wenn
man davon ausgeht, daß dieses Material nun benutzt wird, um Codes in einer
Weise zu `knacken' , die zu den gewünschten Ergebnissen führt - und
wie leicht kann z.B. aus einer vom BKA gespeicherten Abwesenheit zuhause ein
Treffen mit der RAF gemacht werden.
Mit der Lancierung eines 18-seitigen BKA-Papiers - passenderweise mit dem
Vermerk "Intern- nicht gerichtsverwertbar" - im Februar '94 schlugen
die Sicherheitsapparate eine schärfere Gangart ein. Zum ersten Mal wurden
legal lebende Linke namentlich in Verbindung mit der RAF gebracht, auch wenn die
Grundlage des Papiers wilde Spekulation war.
In den folgenden Monaten wurden
dann drei 129a-Verfahren wegen Unterstützung und sogar Mitgliedschaft in
der RAF bekannt, die zum Teil schon seit August '93 liefen. Diese Verfahren stützen
sich auf waghalsig interpretierte Aussagen des Spitzels Steinmetz. In einem
Verfahren gab es schon mehrere Zeugenvorladungen, die die Betroffenen bei
Aussageverweigerung mit der Bedrohung durch Bußgelder und Beugehaft
konfrontieren.
Ebenfalls im Frühjahr '94 ging das BKA mit einem
angeblichen Sprengstoffund im Auto von Klaus Steinmetz - wie weiland in des
Kronzeugen Siegfried Nonnes Keller - an die Öffentlichkeit. Dieses Auto
hatten sie im Februar "gefunden" und beschlagnahmt, nachdem es ein
halbes Jahr lang in Wiesbaden sozusagen vor ihrer Haustür weiterbenutzt
worden war. Die Beschlagnahme erfolgte bezeichnenderweise erst nach Einstellung
des Weiterstadt-Verfahrens gegen Steinmetz. Die Bundesanwaltschaft eröffnete
aufgrund des angeblichen Sprengstoffunds ein neues Weiterstadt-Verfahren "gegen
Unbekannt". Eine Computeranlage und ein Motorrad, die im Verfahren gegen
Steinmetz beschlagnahmt und ihm zugeordnet wurden, wurden ebenfalls in dieses
Verfahren gegen Unbekannt eingeführt. Zur Begründung führt die
BAW an, daß aus der Ermittlung weiterer Nutzer dieser Gegenstände möglicherweise
Rückschlüsse auf die Weiterstadt-Täter gezogen werden könnten.
Die BAW bastelt da an einem mustergültigen Staatsschutzkonstrukt, mit dem
sie nach Belieben Menschen bedrohen kann.
Steinmetz, von dem der
Sicherheitsapparat noch im Februar '94 behauptete, er sei nach Einstellung des
Verfahrens gegen ihn aus dem Zeugenschutzprogramm des BKA entlassen worden und
unbekannt verzogen, ist wenige Monate später wieder zu Vernehmungen
aufgetaucht.
Die von vielen erwartete "große Abräume"
ist erstmal ausgeblieben. Das muß zwar nichts heißen, denn auch
Staatsschutzmühlen mahlen mitunter recht langsam. Vor allem aber hat der
Staatsschutz gewisse Zwänge zu berücksichtigen und auch andere Möglichkeiten
als Verhaftungen im großen Stil.
Ein Auftritt Steinmetz' vor Gericht
ist für die Repressionsorgane sicher nicht wünschenswert, würde
er doch unangenehme Erinnerungen an Bad Kleinen wecken, die Frage nach
Weiterstadt und nach Steinmetz' eigener kriminelle Geschichte wieder aufwerfen
und Vergleiche zu anderen V-Männern wie z.B. in Solingen provozieren. Das
kann dem Verfassungsschutz auch im Hinblick auf seine anderen Spitzel und für
zukünftige Anwerbeversuche nicht gelegen kommen. Dagegen könnte
Steinmetz bei einer Kriminalisierung über Konstrukte wie z.B. den
angeblichen Sprengstoffund in seinem Auto eher rausgehalten werden. Sicher ist
das aber auch nicht.
Vielleicht verfolgt der Staatsschutz deshalb gegenwärtig
eine Salamitaktik: hier ein paar Namen an die Presse lanciert, da ein Verfahren
öffentlich gemacht, dort ein Konstrukt drohend in den Raum gestellt. Damit
zielt er ziemlich eindeutig auf anhaltende und dauerhafte Verunsicherung und Lähmung,
um den notwendigen Prozess der Reflektion und Neubestimmung nach der Katastrophe
mit dem Spitzel Steinmetz zu untergraben. Auch der Staatsschutz weiß, daß
diese Aufarbeitung für die Zukunft linksradikaler Politik wichtig ist.
Ebenso zielgerichtet werden die wenigen linksradikalen Organisierungsansätze
angegriffen.
Schließlich kann der Staatsschutz das Druckmittel
drohender Kriminalisierung auch einsetzen, um neue Spitzel zu pressen. Dazu wird
ihm der insgesamt desolate Zustand der Linken und die unverarbeitete Katastrophe
von Steinmetz und Bad Kleinen nur recht sein.
Zur Entwarnung nach dem Motto
"Ist ja doch nichts passiert" besteht also kein Anlaß. Linke
Diskussion und öffentliche Wachsamkeit bleiben angesagt.
August 1994