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Wed Dec  4 17:38:13 1996
 

Gegen die Kriminalisierung linker Politik


Redaktionsgruppe


Bundesweite Demonstration zur Ermordung von Wolfgang Grams am 10.7.93 in Wiesbaden


Nach dem Schlag gegen die RAF in Bad Kleinen nutzen die staatlichen Repressionsorgane die durch den Spitzel-Erfolg entstandene Verunsicherung, um legale linke Zusammenhänge und AktivistInnen unter Druck zu setzen, einzuschüchtern und zu lähmen.
Im Schutz der wieder abflauenden öffentlichen Aufregung über den Mord an Wolfgang Grams lancieren die Sicherheitsapparate scheibchenweise und medienwirksam dosiert sogenannte "Ermittlungsergebnisse". Mit Hilfe der Aussagen des Spitzels Klaus Steinmetz und durch die "Interpretation" von Funden, die sie bei Birgit Hogefeld und Wolfgang Grams gemacht haben, wird 1) die Beteiligung von legal kämpfenden Linken an Anschlägen der RAF und ihre Unterstützung konstruiert und 2) linke Diskussion auf "Vorbereitung von Anschlägen" und "Unterstützung der RAF" umgewidmet und damit kriminalisierbar gemacht.
Schon kurz nach den Ereignissen von Bad Kleinen wurde die mögliche Beteiligung der "Nahtstellenperson" Klaus Steinmetz an der Aktion der RAF gegen den Knastneubau in Weiterstadt behauptet. Grundlage ist die von den Sicherheitsapparaten schon lange forcierte "Ebenen"-Theorie, wonach die RAF auch legal lebende Mitglieder habe, die zu Anschlägen kurzfristig abtauchten. Für diese Theorie gab es nie einen Beweis und sie wurde von der RAF oft genug dementiert; ihr einziger Sinn war und ist die Kriminalisierung und Einknastung mißliebiger Linker, wie z.B. bei der Verurteilung von Luitgard Hornstein 1991 und bei den 1991 eingeleiteten 129a-Verfahren gegen Stuttgarter GenossInnen, deren Arbeitsweg sich zu ihrem Pech mit dem bekannter Wirtschaftsbosse kreuzte (= Ausspähung anschlagsrelevanter Personen im Dienste der RAF).
Ende Juli '93 ist in der Presse zu lesen, daß Wolfgang Grams und Birgit Hogefeld BahnCards bei sich hatten, die in einem Göttinger Reisebüro gekauft worden waren - allerdings nicht von ihnen selbst. Daß die Sicherheitsbehörden dieses Detail ihrer Ermittlungen in der Medien-Öffentlichkeit lancieren, macht nur einen Sinn, nämlich, daß es just in Göttingen mit der Autonomen Antifa (M) eine sehr aktive antifaschistische Gruppe gibt, die den Repressionsorganen wegen ihres regionalen Erfolgs und ihrer Initiativen zum Aufbau einer bundesweiten Organisation ein Dorn im Auge ist. Sie ist deshalb schon seit Jahren mit 129a-Verfahren überzogen worden. Als im Juli '94 15 Wohnungen, mehrere Büros des Asta der Uni Göttingen und andere Räume im Rahmen dieser Verfahren durchsucht wurden, stand die Lokalpresse wieder mit der Verdächtigung wegen der Bahncards publizistisch hilfreich zur Seite. In offiziellen Verlautbarungen tauchte diese Story wohlweislich nicht auf, da die Ermittlungsbehörden selbst wissen, daß sie jeder Grundlage entbehrt.
Anfang August '94 wurden 900 Exemplare einer vor 7 Jahren erschienenen und seither über 10.000 mal verkauften Broschüre "Dokumente der Zeitgeschichte: Bundesrepublik Deutschland (BRD)/ Rote Armee Fraktion (RAF)" auf Antrag der Generalstaatsanwaltschaft Düsseldorf beschlagnahmt. Begründung war, daß in der Broschüre die RAF zitiert werde, ohne daß eine Distanzierung seitens der Herausgeber erfolge. Hintergrund dieser überraschenden Aktion ist vermutlich ein Ermittlungsverfahren wegen Unterstützung der RAF gegen 2 Mitglieder der Göttinger Autonomen Antifa (M), das sich auf den Verkauf eben dieser Broschüre an einem Büchertisch der Gruppe stützt. Bei der Durchsicht ihrer Akten muß die StA Celle festgestellt haben, daß besagte Broschüre zwar schon mehrere tausend Mal verkauft, aber noch nie kriminalisiert wurde. Das ist nun nachgeholt.
Am 30.8.93 veröffentlicht die taz Auszüge aus Briefen, die bei Birgit und Wolfgang gefunden wurden, und rückt eine weitere Gruppe, die eine Initiative für eine bundesweite Organisierung der radikalen Linken in's Leben gerufen hat, in das `Umfeld' der RAF, nämlich die Berliner Gruppe F.e.l.S. (Für eine linke Strömung). In einem der Briefe wurde über eine bundesweite Arbeitstagung berichtet, zu der F.e.l.S. öffentlich eingeladen hatte. Daraus macht der interessierte taz-Redakteur dann gleich mal eine "enge Abstimmung mit den Illegalen" beim "Aufbau einer Gegenmacht von unten". F.e.l.S. hat sich dagegen in einer Pressekonferenz zur Wehr gesetzt und unter anderem zu Bedenken gegeben, daß ihr Treffen öffentlich war und es nicht erstaunlich ist, wenn sich die RAF für linke Diskussionen interessiert.
Nach der gleichen Logik machen die Staatssicherheitsapparate aus einem in einem Brief angeblich erwähnten "Projekt" prompt einen Anschlag, an dessen Vorbereitung wiederum legal lebende Linke beteiligt seien - schon ist die Allzweckwaffe `Ebenen-Theorie' wieder in Stellung gebracht.
Einen weiteren bundesweiten Arbeitszusammenhang denunzierte die Welt Anfang '94 mit ihrem Artikel: "RAF spinnt Spinnennetz bis in die Türkei". Beim Spinnennetz handelt es sich um eine bundesweite Vernetzung von Computer-Mailboxen mit dem Ziel des schnellen Informationsaustauschs und der Kommunikation linker Personen und Gruppen. Spinnennetz ist an den europäischen Mailbox-Verbund European Counter Network angeschlossen. Auch das Spinnenetz ist völlig legal organisiert, die über Telefonnetz verschickten Informationen sind sämtlich unverschlüsselt und für die Sicherheitsdienste leicht zu beobachten. Der Zusammenhang zur RAF ist also absurd, er gründet lediglich darauf, daß auch Spinnennetz sich die Themen linker Diskussion nicht vom Staatsschutz bestimmen läßt.
Mit der auszugsweisen Veröffentlichung des intimen Briefwechsels von Birgit Hogefeld und Wolfgang Grams mit ihren Eltern wurde aufgrund dieses Briefkontakts die Denunzierung der Gruppe der Angehörigen der politischen Gefangenen in der BRD betrieben. Die Angehörigen stehen mit ihrem Kampf gegen die Isolationsfolter an den Gefangenen aus RAF und Widerstand dem staatlichen Vernichtungsinteresse schon lange entgegen. Die Angehörigen nahmen dazu in einer Presseerklärung Stellung: "Zu der Medienhetze gegen eine Angehörige, die aber in Wirklichkeit gegen uns alle zielt, und von der wir auch alle betroffen sind, haben wir folgendes zu sagen: Es geht in den lancierten Medienberichten darum, unsere Angehörigenarbeit unglaubwürdig zu machen und uns zu kriminalisieren. Das ist für uns nichts Neues. Schliesslich haben wir in unserer mehr als 20 Jahre langen Arbeit nahezu alle Register staatlicher Verfolgungswut kennengelernt: Terrorobserva-tion, Hausdurchsuchungen, Festnahmen, Ermittlungsverfahren, Prozesse, Druck auf Vermieter und Arbeitgeber, Versuche, uns zur Zusammenarbeit mit dem Staatsschutz zu erpressen, Drohungen und, und, und (...)"
Bei der Welt macht man sich Gedanken über die Rechtslage in diesem Fall: Angehörige dürfen die Strafverfolgung vereiteln, sie machen sich aber strafbar, wenn sie geplante Straftaten nicht anzeigen. Offen bleibt auch die mögliche Kriminalisierung angeblicher "Kuriere" zwischen den Eltern und der RAF. Diese Drohung schwebt erstmal über allen, die zu den Eltern von Birgit und Wolfgang Kontakt hatten und haben.
Nebenbei ist die Veröffentlichung der Briefe einige Wochen nach Bad Kleinen auch ein Beispiel für das Timing in der Öffentlichkeitsarbeit des Staatsschutzes. Im Spiegel wird im gleichen Atemzug mit der voyeuristischen Ausbreitung dieser privaten Briefe aus der Ermordung von Wolfgang Grams ein "bei einem Schußwechsel um's Leben gekommen" - zwei Wochen vorher hatte er noch "Hinrichtung" getitelt; das neue Propagandamaterial machte auch eine Umwertung der Ereignisse von Bad Kleinen möglich.
Anfang September '93 nimmt Focus noch einmal die sogenannten "Nahtstellenpersonen" in's Visier. Das Blatt schreibt, daß den `Fahndungsbehörden' dieses Frühjahr der Sprachcode, mit dem sich die RAF und ihre Unterstützer unterhielten, transparenter geworden sei, daß sie ihn "womöglich gar geknackt" hätten. Den Ermittlungsbehörden seien derzeit 30 Personen bekannt, "die am Informationsaustausch zwischen aktiven und inhaftierten RAF-Mitgliedern sowie ihren Unterstützern beteiligt sind. Etliche Kuriere stammen offenbar aus radikalen autonomen Kreisen, dem sogenannten schwarzen Block. Aktivitäten dieser Personen, darunter Top-Kuriere, sind in BKA-Lagebildern vermerkt. Klaus Steinmetz, der aufgeflogene V-Mann, war auch ein TOP-Kurier." Der Spiegel (30.8.93) spricht von "wohl mehr als 50 Details über Personen aus der RAF-Szene, die in den Briefen zwischen Marianne und Birgit Hogefeld erwähnt werden."
Aus allen Erfahrungen über den Staatsschutz und die politische Justiz in der BRD ist es keine böswillige Unterstellung, wenn man davon ausgeht, daß dieses Material nun benutzt wird, um Codes in einer Weise zu `knacken' , die zu den gewünschten Ergebnissen führt - und wie leicht kann z.B. aus einer vom BKA gespeicherten Abwesenheit zuhause ein Treffen mit der RAF gemacht werden.

Mit der Lancierung eines 18-seitigen BKA-Papiers - passenderweise mit dem Vermerk "Intern- nicht gerichtsverwertbar" - im Februar '94 schlugen die Sicherheitsapparate eine schärfere Gangart ein. Zum ersten Mal wurden legal lebende Linke namentlich in Verbindung mit der RAF gebracht, auch wenn die Grundlage des Papiers wilde Spekulation war.
In den folgenden Monaten wurden dann drei 129a-Verfahren wegen Unterstützung und sogar Mitgliedschaft in der RAF bekannt, die zum Teil schon seit August '93 liefen. Diese Verfahren stützen sich auf waghalsig interpretierte Aussagen des Spitzels Steinmetz. In einem Verfahren gab es schon mehrere Zeugenvorladungen, die die Betroffenen bei Aussageverweigerung mit der Bedrohung durch Bußgelder und Beugehaft konfrontieren.
Ebenfalls im Frühjahr '94 ging das BKA mit einem angeblichen Sprengstoffund im Auto von Klaus Steinmetz - wie weiland in des Kronzeugen Siegfried Nonnes Keller - an die Öffentlichkeit. Dieses Auto hatten sie im Februar "gefunden" und beschlagnahmt, nachdem es ein halbes Jahr lang in Wiesbaden sozusagen vor ihrer Haustür weiterbenutzt worden war. Die Beschlagnahme erfolgte bezeichnenderweise erst nach Einstellung des Weiterstadt-Verfahrens gegen Steinmetz. Die Bundesanwaltschaft eröffnete aufgrund des angeblichen Sprengstoffunds ein neues Weiterstadt-Verfahren "gegen Unbekannt". Eine Computeranlage und ein Motorrad, die im Verfahren gegen Steinmetz beschlagnahmt und ihm zugeordnet wurden, wurden ebenfalls in dieses Verfahren gegen Unbekannt eingeführt. Zur Begründung führt die BAW an, daß aus der Ermittlung weiterer Nutzer dieser Gegenstände möglicherweise Rückschlüsse auf die Weiterstadt-Täter gezogen werden könnten. Die BAW bastelt da an einem mustergültigen Staatsschutzkonstrukt, mit dem sie nach Belieben Menschen bedrohen kann.
Steinmetz, von dem der Sicherheitsapparat noch im Februar '94 behauptete, er sei nach Einstellung des Verfahrens gegen ihn aus dem Zeugenschutzprogramm des BKA entlassen worden und unbekannt verzogen, ist wenige Monate später wieder zu Vernehmungen aufgetaucht.
Die von vielen erwartete "große Abräume" ist erstmal ausgeblieben. Das muß zwar nichts heißen, denn auch Staatsschutzmühlen mahlen mitunter recht langsam. Vor allem aber hat der Staatsschutz gewisse Zwänge zu berücksichtigen und auch andere Möglichkeiten als Verhaftungen im großen Stil.
Ein Auftritt Steinmetz' vor Gericht ist für die Repressionsorgane sicher nicht wünschenswert, würde er doch unangenehme Erinnerungen an Bad Kleinen wecken, die Frage nach Weiterstadt und nach Steinmetz' eigener kriminelle Geschichte wieder aufwerfen und Vergleiche zu anderen V-Männern wie z.B. in Solingen provozieren. Das kann dem Verfassungsschutz auch im Hinblick auf seine anderen Spitzel und für zukünftige Anwerbeversuche nicht gelegen kommen. Dagegen könnte Steinmetz bei einer Kriminalisierung über Konstrukte wie z.B. den angeblichen Sprengstoffund in seinem Auto eher rausgehalten werden. Sicher ist das aber auch nicht.
Vielleicht verfolgt der Staatsschutz deshalb gegenwärtig eine Salamitaktik: hier ein paar Namen an die Presse lanciert, da ein Verfahren öffentlich gemacht, dort ein Konstrukt drohend in den Raum gestellt. Damit zielt er ziemlich eindeutig auf anhaltende und dauerhafte Verunsicherung und Lähmung, um den notwendigen Prozess der Reflektion und Neubestimmung nach der Katastrophe mit dem Spitzel Steinmetz zu untergraben. Auch der Staatsschutz weiß, daß diese Aufarbeitung für die Zukunft linksradikaler Politik wichtig ist.
Ebenso zielgerichtet werden die wenigen linksradikalen Organisierungsansätze angegriffen.
Schließlich kann der Staatsschutz das Druckmittel drohender Kriminalisierung auch einsetzen, um neue Spitzel zu pressen. Dazu wird ihm der insgesamt desolate Zustand der Linken und die unverarbeitete Katastrophe von Steinmetz und Bad Kleinen nur recht sein.
Zur Entwarnung nach dem Motto "Ist ja doch nichts passiert" besteht also kein Anlaß. Linke Diskussion und öffentliche Wachsamkeit bleiben angesagt.


August 1994