Redaktionsgruppe Jitarra
Wolfgang Grams wurde wehrlos am Boden liegend von einem Angehörigen
der GSG 9 durch einen Schuß in den Kopf ermordet.
Das ergibt sich aus der Recherche und den in diesem Buch dargestellten
Fakten und Zusammenhängen.
Dies entspricht im Kern den Aussagen der
Kioskverkäuferin Baron, dem anonymen Spiegel-Zeugen und dem BKA-Beamten im
Stellwerk, der die Situation bis kurz vor dem Schuß genauso schildert wie
die beiden anderen Zeugen, im entscheidenden Moment jedoch angeblich wegsieht.
Aus den Zeugenvernehmmungen geht hervor, daß Frau Baron nicht die einzige
zivile Zeugin des Mordes ist. Aber sie ist die Einzige, die von Anfang an
aufrecht und ehrlich zu ihren Beobachtungen steht, während die anderen
Zeugen ihren Frieden mit dne Mördern machen und nicht gesehen haben wollen,
was sie gesehen haben.
Für Mord spricht auch die sofort nach dem Schußwechsel
einsetzende gezielte und systematische Vernichtung genau der Spuren, die den
Mord mit großer Wahrscheinlichkeit bewiesen hätten. So die Reinigung
der Hände von Wolfgang Grams, die viel gründlicher war, als zum
angeblichen Zweck der Abnahme der Fingerabdrücke notwendig. Diese Reinigung
erfolgte noch vor der Obduktion, so daß eventuell vorhandene Spuren nicht
mehr gesichert werden konnten.
Danach setzte die allgemeine Vertuschungs- und Vernichtungsmaschinerie ein.
Die Behauptung, durch einen verstümmelten Funkspruch sei der Zugriff ausgelöst
worden, diente lediglich dazu, die öffentliche Aufmerksamkeit in eine
andere Richtung zu lenken. Am Schluß stand schließlich die
Behauptung, Wolfgang Grams habe Selbstmord begangen - getreu dem Prinzip "erst
Verwirrung stiften und dann die Öffentlichkeit gezielt konditionieren".
Untermauert wurde die Selbstmord-Behauptung vor allem durch das Gutachten des
Rechtsmedizinischen Institutes Zürich. Daß dieses Institut Selbstmord
keineswegs feststellte, sondern lediglich als Möglichkeit ansah, störte
zu diesem Zeitpunkt nicht mehr. PolitikerInnen und der Öffentlichkeit wurde
eine Erklärung aufgetischt, die von den Medien bereitwillig aufgenommen
wurde.
Einen entscheidenden Widerspruch wollten diese nun nicht mehr
wahrnehmen: Hätte Wolfgang Grams Selbstmord begangen, hätten dies
BKA-Beamte sowie andere ZeugInnen zweifellos gesehen, in jedem Fall aber die GSG
9-Beamten, die ihn schließlich im Visier hatten. Keiner hat aber einen
Selbstmord gesehen. Die Polizei-Zeugen und die politisch Verantwortlichen hätten
es sich mit Sicherheit nicht nehmen lassen, einen Selbstmord medienwirksam in
den schillerndsten Farben auszuschlachten. Auch die Schweriner
Staatsanwaltschaft schloß nach ihren ersten Ermittlungen einen Selbstmord
aus.
Bei der Recherche und dem Versuch, die Ereignisse von Bad Kleinen und
insbesondere die Todesumstände von Wolfgang Grams zu rekonstruieren und zu
bewerten, haben wir uns oft gefragt, warum die Kräfte der GSG 9 so
offensichtlich logen, warum das BKA Spuren so offensichtlich vernichtete. Wir
sind zu dem Schluß gekommen, daß der Zweck der Vertuschung der war,
das tatsächliche Geschehen nicht mehr rekonstruierbar zu machen. Daß
dies durchschaubar war für alle, nehmen sie in Kauf.
Wir mußten
also die Beweise, die noch existierten und die Fakten, die noch bekannt waren,
in ein Verhältnis setzen zu dem, was nicht mehr existierte. Wir konnten
also teilweise nur Rückschlüsse ziehen aus der Tatsache, daß
und wie vertuscht und vernichtet wurde.
Die meisten der sogenannten "Pannen" waren keine. Dies wird in dem
Buch schon an anderen Stellen ausgeführt. Deshalb jetzt nur kurz: Das
einzige, was sicher als Panne bezeichnet werden kann, ist der tote GSG 9-Mann.
Sein Tod war sicher nicht eingeplant. Ansonsten wurde von Politikern, "Sicherheits"behörden
und in den Medien der Begriff der "Panne" geliefert, wenn andere Erklärungsmuster
fehlten. Die Tatsache, daß Birgit Hogefeld ihre Waffe erst etwa eine halbe
Stunde später abgenommen wurde und der angeblich mißverstandene
Funkspruch "wenn Zugriff erfolgt, kontrolliert den Kadett", ebenso wie
die anschließende Verwischung von Spuren waren keine Pannen, sondern
hatten - wie wir deutlich gemacht haben - System. Als öffentliche Version
bleibt übrig: Eigentlich hätte aus dem Polizeieinsatz in Bad Kleinen
ein langersehnter "Fahndungserfolg" werden sollen, der allerdings
durch allerlei technische Schwierigkeiten, "menschliches Versagen", "Kommunikationsschwierigkeiten"
zwischen den Behörden usw. vereitelt wurde. Das Muster dieser
Argumentationen war leicht durchschaubar: Es war das Ablenkungsmanöver von
dem Mord an Wolfgang Grams.
Eine Seite dieser Argumentation ("Fahndungserfolg")
stimmt allerdings: Die Festnahme in Bad Kleinen war eine lange und sehr
detailliert vorbereitete Aktion. Spätestens seit Anfang Mai 1993 wußten
die "Sicherheits"behörden durch ihren V-Mann, daß ein
weiteres Treffen mit Birgit Hogefeld geplant war. Bereits Mitte Mai wurde die
Operation in der KGT besprochen und Einsatzkriterien festgelegt. Seit dem
22.06.93, fünf Tage vor dem Einsatz, waren Einsatzkräfte in
Bereitschaft gehalten worden.Das Ganze war also keinesfalls eine kurzfristige
Angelegenheit, bei der die Einsatzkräfte "überfordert" waren
und "Pannen" passieren konnten.
Die Behauptung der
Bundesregierung, Birgit Hogefeld hätte bereits in Wismar festgenommen
werden sollen, aufgrund der "Freunde", die noch erwartet würden,
sei die Festnahme jedoch verschoben worden, versucht, genau diese
Kurzfristigkeit glauben zu machen, um die "Pannen" plausibel
erscheinen zu lassen. Wie wir dargestellt haben, ist diese Behauptung eine
Finte.
Was ist aber tatsächlich für den Apparat "schiefgegangen"?
Hierüber wurden in den Medien und zum Teil auch in der Linken die
unterschiedlichsten Hypothesen aufgestellt, auf die wir im folgenden näher
eingehen wollen.
Eine der nach Bad Kleinen geäußerten Theorien war die der
Verwechslung von Wolfgang Grams mit dem V-Mann. Deshalb sei der GSG 9-Mann
Newrzella ohne gezogene Waffe hinter Wolfgang Grams hergerannt. Als dieser auf
Newrzella schoß, sei einer seiner GSG 9-Kollegen "durchgeknallt"
und habe deshalb aus Rache Wolfgang Grams ermordet. Die Verwechslungstheorie
tauchte irgendwann in den bürgerlichen Medien auf und wurde von Linken übernommen.
Wir schließen diese Version nicht aus, halten sie aber auch nicht für
die wahrscheinlichste. Die Annahme, daß Newrzella seine Waffe tatsächlich
nicht gezogen hat, ist nicht bewiesen, sondern beruht lediglich auf Aussagen
seiner Kollegen. Auch die Todesumstände Newrzellas sind bis heute im
Dunkeln geblieben. Zum einen ist auffallend, mit welcher Schnelligkeit Obduktion
und Beerdigung vonstatten gingen. Zum anderen ist festzuhalten, daß im
Obduktionsbericht Newrzellas keine genauen Feststellungen zu den in seinem Körper
gefundenen Geschossen und deren Verbleib bzw. Weitergabe getroffen werden.
Wir halten eine Verwechslung auch deshalb für unwahrscheinlich, weil die
Einsatzkräfte über das Aussehen von Steinmetz genauestens informiert
waren. Selbst die Angehörigen der GSG 9 bekunden, daß ihnen vor dem
Einsatz nicht nur Fotos von Steinmetz vorgelegt, sondern auch Videos von ihm für
Bewegungsstudien gezeigt sowie eine Beschreibung seiner Kleidung gegeben wurde -
die grün war, während Wolfgang Grams rote Kleidung trug. Selbst wenn
nicht sicher gewesen sein sollte, daß es sich bei dem weiteren Mann um
Wolfgang Grams handelte, ist davon auszugehen, daß die Einsatzkräfte "ihren"
Mann erkannt haben.
Eine weitere Version besagt, daß es unter den GSG 9-Beamten einen "Racheschwur"
gibt, der da lautet: Kommt einer der ihren ums Leben, soll auch der Gegner den
Ort nicht lebend verlassen. Zwar ist der GSG 9 ein solcher Racheschwur schon als
Moment ihrer inneren Stabilität durchaus zuzutrauen, er allein vermag aber
Aufwand und Ausmaß der anschließenden systematischen Vertuschung
nicht zu erklären. Zu beiden Theorien (Rache- und Verwechslungs-Theorie)
ist zu sagen, daß sie in den Medien zur Schadensbegrenzung lanciert
wurden. Wenn nur ein GSG 9-Mann durchdreht, stellt sich nur die Frage nach einer
juristischen Verfolgung der einzelnen Tat, keinesfalls aber die der politischen
Konsequenzen des gesamten Einsatzes. Beide Theorien waren also Ablenkungsmanöver.
Selbst die Forderung nach Auflösung der GSG 9, die von der Spiegel und
einigen Politikern aufgestellt wurde, folgt dem selben Muster. Auch wenn die
Forderung natürlich richtig ist, für sich alleine genommen ist sie
kurzsichtig und funktionalisierbar. Tatsächlich wurde aus der Forderung
nach Auflösung der GSG 9 schnell eine nach Effektivierung bzw. Erweiterung
dieser Einheit und sie wurde in den Zusammenhang der öffentlichen
Diskussion um Versetzungen von hohen Beamten, Umstrukturierung des BKA und der
Sicherheitspolitik insgesamt gestellt. Gefordert wurde auch eine weitergehende
Zentralisierung von Entscheidungsstrukturen der verschiedenen
Repressionsapparate. Damit wären die notwendigen Konsequenzen aus den Vorgängen
in Bad Kleinen auf den Kopf gestellt: Statt Auflösung von Strukturen, die
solche Ereignisse ermöglichen, würden sie noch perfektioniert, die
Verselbständigung der Sicherheitsapparate wäre einen entscheidenden
Schritt weiter.
Es spricht viel dafür, daß die Erschießung von Wolfgang
Grams geplant war.
Wie wir bereits dargestellt haben, drängt sich die
Vermutung auf, daß der Bahnsteig 3/4 bewußt als einziger Fluchtweg
offengehalten wurde. Dafür sprechen u.a. einige Zeugenaussagen, das
Verhalten des ominösen GSG 9 Nr. 4 und die Tatsache, daß ausgerechnet
Züge, die an diesem Bahnsteig zum fraglichen Zeitpunkt hätten ankommen
müssen, außerhalb des Bahnhofs angehalten wurden. Da von allen Seiten
Einsatzkräfte auf ihn zustürmten, konnte Wolfgang Grams nur noch die
Treppe zu diesem Bahnsteig hochlaufen. Sollte die Erschießung dort
stattfinden?
Für die Planung sprechen außerdem die sofort nach
Ende des Schußwechsels einsetzenden Vertuschungen, Spurenvernichtungen und
Lügen. Die Tatortarbeit, d.h. die Spurensicherung des BKA, läßt
sich nicht mit einer "Panne" erklären. Nach allem, was aus den
Lehrbüchern und Vorschriften zur Spurensicherung sowie der tatsächlichen
Spurensicherung des BKA in anderen Fällen bekannt ist, war die Tatortarbeit
in Bad Kleinen offensichtlich gewollter Dilettantismus.
Selbst in
unbedeutenderen Fällen kam es schon vor, daß die Beamten auf der
Suche nach verwertbaren Spuren mit Wattebäuschen eine Straße abtupfen
oder Schmutz aus einem Auto sogar biologisch untersuchen lassen. Daß mit
vergleichbarer Genauigkeit in Bad Kleinen durchgehend nicht gearbeitet wurde,
kann nur heißen, daß die verantwortlichen Behörden etwas zu
verbergen haben. Umgekehrt gehen die gleichen Beamten sehr wohl äußerst
sorgfältig vor, wenn es gilt, Belastungsmaterial gegen politische
GegnerInnen zu finden. Beispielsweise wird im Verfahren gegen Birgit Hogefeld
akribisch selbst nach der Herkunft von Socken geforscht. Exemplarisch wird
deutlich, daß es keine objektiven Ermittlungen gibt. Dies zeigen auch
einige andere Ereignisse aus der jüngsten Vergangenheit: Da verlieren
Polizisten einen Bus mit Faschisten "aus den Augen", die dann später
die Gedenkstätte in Buchenwald und dortige Angestellte attackieren. Da können
in Solingen seelenruhig Akten, also Beweismaterial, aus der
Nazi-Kampfsportschule abtransportiert werden, ohne daß eingeschritten
wird. Nebenbei war der Leiter dieser Sportschule ein V-Mann des
Verfassungsschutzes und ein Angehöriger der GSG 9 trainierte dort.
Das
Fazit heißt: Die Polizei sieht bzw. findet das, was sie will. Die
Tatortarbeit in Bad Kleinen ist weder eine Panne noch ein Skandal, sie hat
System.
Kanzler Kohl wollte und mußte der GSG 9 Rückendeckung geben. Bewußt
fuhr er zu einem Zeitpunkt zum Standort der GSG 9 nach Hangelar und sprach ihr
sein volles Vertrauen aus, als der genaue Ablauf in Bad Kleinen selbst aus
offizieller Sicht noch ungeklärt war. Gemeint war damit: Egal, was tatsächlich
passiert ist, es wird von den politisch Verantwortlichen als konform mit den
Inhalten und Zielen dieses Staates mitgetragen. In der letzten Konsequenz
bedeutet dies, daß selbst die Erschießung eines kampfunfähigen
politischen Gegners zur Staatsraison erklärt wird.
Dies ist auch eine
denkbare Erklärung für Seiters' Rücktritt als Innenminister, mit
dem er nach eigenen Worten die politische Verantwortung für den Einsatz übernommen
hat. Bleibt die Frage, für was konkret. Nach offizieller Version gab es
schließlich keinen den Rücktritt erklärenden Skandal. Wollte er
möglicherweise die politische Verantwortung für das tatsächliche
Geschehen oder das eigentliche Ziel des Einsatzes in Bad Kleinen gerade nicht übernehmen?
Gottfried Benrath (SPD), Vorsitzender des Bundestagsinnenausschusses, stand
anfangs als einer derjenigen da, die vehement eine Aufklärung der
Ereignisse von Bad Kleinen forderten und dabei auch kritische Fragen an die
Verantwortlichen stellten. Nachdem bekannt wurde, daß es sich bei
Steinmetz um einen V-Mann des Verfassungsschutzes im SPD-regierten
Rheinland-Pfalz handelte, kam der große Schwenk. Öffentlich äußerte
er, daß er im Innenausschuß weniger kritisch gefragt hätte, wäre
ihm dieser Sachverhalt bekannt gewesen. In einem Interview mit der Bild am
Sonntag vom 18.07.93 äußerte er dann auch dementsprechend: "Wir
wissen, daß RAF-Terroristen immer wieder darüber diskutiert haben, daß
ein Selbstmord nach Möglichkeit wie ein Mord aussehen soll."
Dabei spielt sicher eine Rolle, daß 1994 Wahlen stattfinden, bei denen der
Ministerpräsident von Rheinland-Pfalz, Scharping, als Kanzlerkandidat
auftritt. Er ist unter anderem mitverantwortlich für die kleineren und größeren
"Straftaten", die der Spitzel Steinmetz im Lauf der Jahre begangen
hat. Die CDU hätte ihr ideales Wahlkampfthema, um Scharping zu demontieren.
Somit folgt Benrath der Staatsdoktrin, wonach nur dann Aufklärung gefordert
wird, wenn sie einem selbst, das heißt staats- oder parteipolitischen
Interessen, dient.
Wir gehen davon aus, daß Ziel und Absicht des Einsatzes einen völlig
anderen Ablauf als den tatsächlich stattgefundenen vorsahen. Es gibt jedoch
derzeit keine Version über das eigentliche Ziel, die wir als die
wahrscheinlichste ansehen. Es gibt lediglich verschiedene mehr oder weniger
glaubhafte Hypothesen, die nebeneinander gestellt werden können.
Sämtliche
weiteren Hypothesen, neben den oben genannten Verwechslungs- bzw. Rachetheorien,
haben als Ausgangspunkt, daß der Einsatz im Kern so geplant war, wie er
dann auch abgelaufen ist und zwar einschließlich der systematischen
Vertuschung und Vernichtung von Spuren nach dem Ende des Schußwechsels.
Auch die Redaktionsgruppe kann keine der genannten Versionen als zutreffend
benennen. Selbst darüber, welche der Versionen am ehesten wahrscheinlich
ist, gibt es in der Gruppe keine Einigkeit. Sicher und einig sind wir uns aber
darüber:
Wolfgang Grams ist ermordet worden.
September 1994