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Wed Dec  4 17:38:14 1996
 

Einschätzung und Bewertung


Redaktionsgruppe Jitarra





Wolfgang Grams wurde wehrlos am Boden liegend von einem Angehörigen der GSG 9 durch einen Schuß in den Kopf ermordet.

Das ergibt sich aus der Recherche und den in diesem Buch dargestellten Fakten und Zusammenhängen.
Dies entspricht im Kern den Aussagen der Kioskverkäuferin Baron, dem anonymen Spiegel-Zeugen und dem BKA-Beamten im Stellwerk, der die Situation bis kurz vor dem Schuß genauso schildert wie die beiden anderen Zeugen, im entscheidenden Moment jedoch angeblich wegsieht.
Aus den Zeugenvernehmmungen geht hervor, daß Frau Baron nicht die einzige zivile Zeugin des Mordes ist. Aber sie ist die Einzige, die von Anfang an aufrecht und ehrlich zu ihren Beobachtungen steht, während die anderen Zeugen ihren Frieden mit dne Mördern machen und nicht gesehen haben wollen, was sie gesehen haben.
Für Mord spricht auch die sofort nach dem Schußwechsel einsetzende gezielte und systematische Vernichtung genau der Spuren, die den Mord mit großer Wahrscheinlichkeit bewiesen hätten. So die Reinigung der Hände von Wolfgang Grams, die viel gründlicher war, als zum angeblichen Zweck der Abnahme der Fingerabdrücke notwendig. Diese Reinigung erfolgte noch vor der Obduktion, so daß eventuell vorhandene Spuren nicht mehr gesichert werden konnten.

Danach setzte die allgemeine Vertuschungs- und Vernichtungsmaschinerie ein. Die Behauptung, durch einen verstümmelten Funkspruch sei der Zugriff ausgelöst worden, diente lediglich dazu, die öffentliche Aufmerksamkeit in eine andere Richtung zu lenken. Am Schluß stand schließlich die Behauptung, Wolfgang Grams habe Selbstmord begangen - getreu dem Prinzip "erst Verwirrung stiften und dann die Öffentlichkeit gezielt konditionieren". Untermauert wurde die Selbstmord-Behauptung vor allem durch das Gutachten des Rechtsmedizinischen Institutes Zürich. Daß dieses Institut Selbstmord keineswegs feststellte, sondern lediglich als Möglichkeit ansah, störte zu diesem Zeitpunkt nicht mehr. PolitikerInnen und der Öffentlichkeit wurde eine Erklärung aufgetischt, die von den Medien bereitwillig aufgenommen wurde.
Einen entscheidenden Widerspruch wollten diese nun nicht mehr wahrnehmen: Hätte Wolfgang Grams Selbstmord begangen, hätten dies BKA-Beamte sowie andere ZeugInnen zweifellos gesehen, in jedem Fall aber die GSG 9-Beamten, die ihn schließlich im Visier hatten. Keiner hat aber einen Selbstmord gesehen. Die Polizei-Zeugen und die politisch Verantwortlichen hätten es sich mit Sicherheit nicht nehmen lassen, einen Selbstmord medienwirksam in den schillerndsten Farben auszuschlachten. Auch die Schweriner Staatsanwaltschaft schloß nach ihren ersten Ermittlungen einen Selbstmord aus.
Bei der Recherche und dem Versuch, die Ereignisse von Bad Kleinen und insbesondere die Todesumstände von Wolfgang Grams zu rekonstruieren und zu bewerten, haben wir uns oft gefragt, warum die Kräfte der GSG 9 so offensichtlich logen, warum das BKA Spuren so offensichtlich vernichtete. Wir sind zu dem Schluß gekommen, daß der Zweck der Vertuschung der war, das tatsächliche Geschehen nicht mehr rekonstruierbar zu machen. Daß dies durchschaubar war für alle, nehmen sie in Kauf.
Wir mußten also die Beweise, die noch existierten und die Fakten, die noch bekannt waren, in ein Verhältnis setzen zu dem, was nicht mehr existierte. Wir konnten also teilweise nur Rückschlüsse ziehen aus der Tatsache, daß und wie vertuscht und vernichtet wurde.

Über allen Vertuschungsmanövern steht der Begriff "Panne".

Die meisten der sogenannten "Pannen" waren keine. Dies wird in dem Buch schon an anderen Stellen ausgeführt. Deshalb jetzt nur kurz: Das einzige, was sicher als Panne bezeichnet werden kann, ist der tote GSG 9-Mann. Sein Tod war sicher nicht eingeplant. Ansonsten wurde von Politikern, "Sicherheits"behörden und in den Medien der Begriff der "Panne" geliefert, wenn andere Erklärungsmuster fehlten. Die Tatsache, daß Birgit Hogefeld ihre Waffe erst etwa eine halbe Stunde später abgenommen wurde und der angeblich mißverstandene Funkspruch "wenn Zugriff erfolgt, kontrolliert den Kadett", ebenso wie die anschließende Verwischung von Spuren waren keine Pannen, sondern hatten - wie wir deutlich gemacht haben - System. Als öffentliche Version bleibt übrig: Eigentlich hätte aus dem Polizeieinsatz in Bad Kleinen ein langersehnter "Fahndungserfolg" werden sollen, der allerdings durch allerlei technische Schwierigkeiten, "menschliches Versagen", "Kommunikationsschwierigkeiten" zwischen den Behörden usw. vereitelt wurde. Das Muster dieser Argumentationen war leicht durchschaubar: Es war das Ablenkungsmanöver von dem Mord an Wolfgang Grams.
Eine Seite dieser Argumentation ("Fahndungserfolg") stimmt allerdings: Die Festnahme in Bad Kleinen war eine lange und sehr detailliert vorbereitete Aktion. Spätestens seit Anfang Mai 1993 wußten die "Sicherheits"behörden durch ihren V-Mann, daß ein weiteres Treffen mit Birgit Hogefeld geplant war. Bereits Mitte Mai wurde die Operation in der KGT besprochen und Einsatzkriterien festgelegt. Seit dem 22.06.93, fünf Tage vor dem Einsatz, waren Einsatzkräfte in Bereitschaft gehalten worden.Das Ganze war also keinesfalls eine kurzfristige Angelegenheit, bei der die Einsatzkräfte "überfordert" waren und "Pannen" passieren konnten.
Die Behauptung der Bundesregierung, Birgit Hogefeld hätte bereits in Wismar festgenommen werden sollen, aufgrund der "Freunde", die noch erwartet würden, sei die Festnahme jedoch verschoben worden, versucht, genau diese Kurzfristigkeit glauben zu machen, um die "Pannen" plausibel erscheinen zu lassen. Wie wir dargestellt haben, ist diese Behauptung eine Finte.

Was ist aber tatsächlich für den Apparat "schiefgegangen"? Hierüber wurden in den Medien und zum Teil auch in der Linken die unterschiedlichsten Hypothesen aufgestellt, auf die wir im folgenden näher eingehen wollen.

"Verwechslungstheorie" und "Racheversion"

Eine der nach Bad Kleinen geäußerten Theorien war die der Verwechslung von Wolfgang Grams mit dem V-Mann. Deshalb sei der GSG 9-Mann Newrzella ohne gezogene Waffe hinter Wolfgang Grams hergerannt. Als dieser auf Newrzella schoß, sei einer seiner GSG 9-Kollegen "durchgeknallt" und habe deshalb aus Rache Wolfgang Grams ermordet. Die Verwechslungstheorie tauchte irgendwann in den bürgerlichen Medien auf und wurde von Linken übernommen. Wir schließen diese Version nicht aus, halten sie aber auch nicht für die wahrscheinlichste. Die Annahme, daß Newrzella seine Waffe tatsächlich nicht gezogen hat, ist nicht bewiesen, sondern beruht lediglich auf Aussagen seiner Kollegen. Auch die Todesumstände Newrzellas sind bis heute im Dunkeln geblieben. Zum einen ist auffallend, mit welcher Schnelligkeit Obduktion und Beerdigung vonstatten gingen. Zum anderen ist festzuhalten, daß im Obduktionsbericht Newrzellas keine genauen Feststellungen zu den in seinem Körper gefundenen Geschossen und deren Verbleib bzw. Weitergabe getroffen werden.
Wir halten eine Verwechslung auch deshalb für unwahrscheinlich, weil die Einsatzkräfte über das Aussehen von Steinmetz genauestens informiert waren. Selbst die Angehörigen der GSG 9 bekunden, daß ihnen vor dem Einsatz nicht nur Fotos von Steinmetz vorgelegt, sondern auch Videos von ihm für Bewegungsstudien gezeigt sowie eine Beschreibung seiner Kleidung gegeben wurde - die grün war, während Wolfgang Grams rote Kleidung trug. Selbst wenn nicht sicher gewesen sein sollte, daß es sich bei dem weiteren Mann um Wolfgang Grams handelte, ist davon auszugehen, daß die Einsatzkräfte "ihren" Mann erkannt haben.

Eine weitere Version besagt, daß es unter den GSG 9-Beamten einen "Racheschwur" gibt, der da lautet: Kommt einer der ihren ums Leben, soll auch der Gegner den Ort nicht lebend verlassen. Zwar ist der GSG 9 ein solcher Racheschwur schon als Moment ihrer inneren Stabilität durchaus zuzutrauen, er allein vermag aber Aufwand und Ausmaß der anschließenden systematischen Vertuschung nicht zu erklären. Zu beiden Theorien (Rache- und Verwechslungs-Theorie) ist zu sagen, daß sie in den Medien zur Schadensbegrenzung lanciert wurden. Wenn nur ein GSG 9-Mann durchdreht, stellt sich nur die Frage nach einer juristischen Verfolgung der einzelnen Tat, keinesfalls aber die der politischen Konsequenzen des gesamten Einsatzes. Beide Theorien waren also Ablenkungsmanöver. Selbst die Forderung nach Auflösung der GSG 9, die von der Spiegel und einigen Politikern aufgestellt wurde, folgt dem selben Muster. Auch wenn die Forderung natürlich richtig ist, für sich alleine genommen ist sie kurzsichtig und funktionalisierbar. Tatsächlich wurde aus der Forderung nach Auflösung der GSG 9 schnell eine nach Effektivierung bzw. Erweiterung dieser Einheit und sie wurde in den Zusammenhang der öffentlichen Diskussion um Versetzungen von hohen Beamten, Umstrukturierung des BKA und der Sicherheitspolitik insgesamt gestellt. Gefordert wurde auch eine weitergehende Zentralisierung von Entscheidungsstrukturen der verschiedenen Repressionsapparate. Damit wären die notwendigen Konsequenzen aus den Vorgängen in Bad Kleinen auf den Kopf gestellt: Statt Auflösung von Strukturen, die solche Ereignisse ermöglichen, würden sie noch perfektioniert, die Verselbständigung der Sicherheitsapparate wäre einen entscheidenden Schritt weiter.

Das System hinter den "Pannen"

Es spricht viel dafür, daß die Erschießung von Wolfgang Grams geplant war.
Wie wir bereits dargestellt haben, drängt sich die Vermutung auf, daß der Bahnsteig 3/4 bewußt als einziger Fluchtweg offengehalten wurde. Dafür sprechen u.a. einige Zeugenaussagen, das Verhalten des ominösen GSG 9 Nr. 4 und die Tatsache, daß ausgerechnet Züge, die an diesem Bahnsteig zum fraglichen Zeitpunkt hätten ankommen müssen, außerhalb des Bahnhofs angehalten wurden. Da von allen Seiten Einsatzkräfte auf ihn zustürmten, konnte Wolfgang Grams nur noch die Treppe zu diesem Bahnsteig hochlaufen. Sollte die Erschießung dort stattfinden?
Für die Planung sprechen außerdem die sofort nach Ende des Schußwechsels einsetzenden Vertuschungen, Spurenvernichtungen und Lügen. Die Tatortarbeit, d.h. die Spurensicherung des BKA, läßt sich nicht mit einer "Panne" erklären. Nach allem, was aus den Lehrbüchern und Vorschriften zur Spurensicherung sowie der tatsächlichen Spurensicherung des BKA in anderen Fällen bekannt ist, war die Tatortarbeit in Bad Kleinen offensichtlich gewollter Dilettantismus.
Selbst in unbedeutenderen Fällen kam es schon vor, daß die Beamten auf der Suche nach verwertbaren Spuren mit Wattebäuschen eine Straße abtupfen oder Schmutz aus einem Auto sogar biologisch untersuchen lassen. Daß mit vergleichbarer Genauigkeit in Bad Kleinen durchgehend nicht gearbeitet wurde, kann nur heißen, daß die verantwortlichen Behörden etwas zu verbergen haben. Umgekehrt gehen die gleichen Beamten sehr wohl äußerst sorgfältig vor, wenn es gilt, Belastungsmaterial gegen politische GegnerInnen zu finden. Beispielsweise wird im Verfahren gegen Birgit Hogefeld akribisch selbst nach der Herkunft von Socken geforscht. Exemplarisch wird deutlich, daß es keine objektiven Ermittlungen gibt. Dies zeigen auch einige andere Ereignisse aus der jüngsten Vergangenheit: Da verlieren Polizisten einen Bus mit Faschisten "aus den Augen", die dann später die Gedenkstätte in Buchenwald und dortige Angestellte attackieren. Da können in Solingen seelenruhig Akten, also Beweismaterial, aus der Nazi-Kampfsportschule abtransportiert werden, ohne daß eingeschritten wird. Nebenbei war der Leiter dieser Sportschule ein V-Mann des Verfassungsschutzes und ein Angehöriger der GSG 9 trainierte dort.
Das Fazit heißt: Die Polizei sieht bzw. findet das, was sie will. Die Tatortarbeit in Bad Kleinen ist weder eine Panne noch ein Skandal, sie hat System.

System hat auch das Verhalten aller involvierten Politiker.

Kanzler Kohl wollte und mußte der GSG 9 Rückendeckung geben. Bewußt fuhr er zu einem Zeitpunkt zum Standort der GSG 9 nach Hangelar und sprach ihr sein volles Vertrauen aus, als der genaue Ablauf in Bad Kleinen selbst aus offizieller Sicht noch ungeklärt war. Gemeint war damit: Egal, was tatsächlich passiert ist, es wird von den politisch Verantwortlichen als konform mit den Inhalten und Zielen dieses Staates mitgetragen. In der letzten Konsequenz bedeutet dies, daß selbst die Erschießung eines kampfunfähigen politischen Gegners zur Staatsraison erklärt wird.
Dies ist auch eine denkbare Erklärung für Seiters' Rücktritt als Innenminister, mit dem er nach eigenen Worten die politische Verantwortung für den Einsatz übernommen hat. Bleibt die Frage, für was konkret. Nach offizieller Version gab es schließlich keinen den Rücktritt erklärenden Skandal. Wollte er möglicherweise die politische Verantwortung für das tatsächliche Geschehen oder das eigentliche Ziel des Einsatzes in Bad Kleinen gerade nicht übernehmen?

Gottfried Benrath (SPD), Vorsitzender des Bundestagsinnenausschusses, stand anfangs als einer derjenigen da, die vehement eine Aufklärung der Ereignisse von Bad Kleinen forderten und dabei auch kritische Fragen an die Verantwortlichen stellten. Nachdem bekannt wurde, daß es sich bei Steinmetz um einen V-Mann des Verfassungsschutzes im SPD-regierten Rheinland-Pfalz handelte, kam der große Schwenk. Öffentlich äußerte er, daß er im Innenausschuß weniger kritisch gefragt hätte, wäre ihm dieser Sachverhalt bekannt gewesen. In einem Interview mit der Bild am Sonntag vom 18.07.93 äußerte er dann auch dementsprechend: "Wir wissen, daß RAF-Terroristen immer wieder darüber diskutiert haben, daß ein Selbstmord nach Möglichkeit wie ein Mord aussehen soll."
Dabei spielt sicher eine Rolle, daß 1994 Wahlen stattfinden, bei denen der Ministerpräsident von Rheinland-Pfalz, Scharping, als Kanzlerkandidat auftritt. Er ist unter anderem mitverantwortlich für die kleineren und größeren "Straftaten", die der Spitzel Steinmetz im Lauf der Jahre begangen hat. Die CDU hätte ihr ideales Wahlkampfthema, um Scharping zu demontieren. Somit folgt Benrath der Staatsdoktrin, wonach nur dann Aufklärung gefordert wird, wenn sie einem selbst, das heißt staats- oder parteipolitischen Interessen, dient.

Was war das Ziel des Einsatzes in Bad Kleinen?

Wir gehen davon aus, daß Ziel und Absicht des Einsatzes einen völlig anderen Ablauf als den tatsächlich stattgefundenen vorsahen. Es gibt jedoch derzeit keine Version über das eigentliche Ziel, die wir als die wahrscheinlichste ansehen. Es gibt lediglich verschiedene mehr oder weniger glaubhafte Hypothesen, die nebeneinander gestellt werden können.
Sämtliche weiteren Hypothesen, neben den oben genannten Verwechslungs- bzw. Rachetheorien, haben als Ausgangspunkt, daß der Einsatz im Kern so geplant war, wie er dann auch abgelaufen ist und zwar einschließlich der systematischen Vertuschung und Vernichtung von Spuren nach dem Ende des Schußwechsels.

  1. Eine theoretisch denkbare Version ist die in einem anonymen Brief an die Wochenzeitschrift Freitag von zwei angeblich hohen Beamten des Bundesinnenministeriums aufgestellte Behauptung. Danach ist alles bewußt und gewollt so abgelaufen wie geschehen, um die absolute Unfähigkeit und Desorganisation der Sicherheitsapparate zu demonstrieren. Es sollte im "Superwahljahr 1994" das Thema "Innere Sicherheit" für einen nach rechts mobilisierenden Wahlkampf genutzt werden. Die "Pannen" in Bad Kleinen sollten die Argumente liefern, um mit rechter Law-and-Order-Politik die Sicherheitsapparate wieder handlungsfähig machen zu können, sprich: sie aufzurüsten. Wir halten diese Theorie für wenig wahrscheinlich, zur Authentizität des Briefes können wir uns nicht äußern. Auffällig ist nur, daß er nach unserer Kenntnis ausschließlich in Freitag veröffentlicht wurde.

  2. Nach einer weiteren Variante war das Ziel des Einsatzes in Bad Kleinen, die RAF zu zerschlagen, bzw. ihr einen Schlag zu versetzen, von dem sie sich nicht oder nur langfristig wieder erholen würde. Wir halten diese Theorie für unsicher, da sich bei einem weiteren Einsatz des V-Mannes für dieses Ziel höchstwahrscheinlich günstigere Gelegenheiten ergeben hätten. Allerdings könnten die Sicherheitsbehörden, ausgehend von der Einschätzung, daß weitere Treffen der RAF mit Steinmetz fraglich seien, sich für schnelles Handeln entschieden haben.

  3. Ausgehend davon, daß der Staat seit der Kinkel-Initiative erstmals geheimdienstliche Methoden bei der Bekämpfung der RAF mehr Bedeutung einräumt, wurde eine weitere Hypothese in die Diskussion gebracht:
    Der Staat hat die RAF in ihrer über 20-jährigen Geschichte mehrmals polizeilich-militärisch zerschlagen (1972, 1974, 1984), trotzdem wurde sie immer wieder neu aufgebaut. Das Kalkül des Staates könnte deshalb sein, die RAF nicht mehr militärisch zu zerschlagen, sondern - unter Ausnutzung der derzeitigen politischen Schwäche der RAF wie der gesamten Linken - gezielt auf ihre Selbstauflösung hinzuarbeiten. Angestrebtes Ergebnis könnte ein nicht nur von außen militärisch erzwungenes, sondern ein politisches, von der RAF selbst erklärtes und dadurch dauerhaftes Ende des bewaffneten Kampfes sein. Die Absicht des Einsatzes von Bad Kleinen würde dann nicht die militärische Zerschlagung der RAF gewesen sein - für die es durch den Spitzel Steinmetz bessere Gelegenheiten gegeben hätte - sondern, analog zur Spaltungs-und Neutralisierungsabsicht der Kinkel-Initiative, ein dosierter Schlag, eine Schwächung.

  4. Die letzte Variante schließlich geht davon aus, daß geplant war, auch Birgit Hogefeld zu erschießen, da dies in der Situation die einzige Möglichkeit gewesen wäre, den V-Mann unenttarnt und weiter einsatzfähig zu lassen - letzteres wird durch Steinmetz' Briefe nach Wiesbaden belegt. Möglicherweise war geplant, daß auch Birgit Hogefeld den einzigen nicht von Einsatzkräften besetzten Aufgang - den zu Bahnsteig 3/4 - als Fluchtweg benutzt - entsprechend einem für sie und Wolfgang Grams gedachten Szenario: "auf der Flucht erschossen". Für diese Variante könnte auch sprechen, daß Birgit Hogefeld entgegen den elementarsten Regeln der Polizei erst nach ca. einer halben Stunde nach Waffen durchsucht und ihr die Pistole abgenommen wurde.

Auch die Redaktionsgruppe kann keine der genannten Versionen als zutreffend benennen. Selbst darüber, welche der Versionen am ehesten wahrscheinlich ist, gibt es in der Gruppe keine Einigkeit. Sicher und einig sind wir uns aber darüber:

Wolfgang Grams ist ermordet worden.


September 1994