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Datum: 05.12.1996, Berliner Zeitung
Ressort: Reporter
Autor:Bo Adam, Lübeck

Eine verkohlte Uhr und die Ermittler
Ortstermin im Lübecker Prozeß zeigt Polizeipannen

Der 22.Verhandlungstag im Lübecker Brandstifterprozeß findet außerhalb des Gerichtssaales statt. Es sei unsicher, ob das ausgebrannte Haus in der Hafenstraße 52 - dort wo im Januar zehn Bewohner im Feuer umkamen und 38 weitere verletzt wurden - die Herbststürme überstehen werde, befand der Vorsitzende Richter Rolf Wilcken. Er setzte deshalb einen Ortstermin an. Und so betreten Ankläger, Verteidiger, Schöffen und die drei Richter das morsche Gemäuer, die schwarzen Roben sind gegen bunte Schutzanzüge und lindgrüne Feuerwehrhelme eingetauscht. Es geht um die Aufklärung der bisher schlimmsten Brandkatastrophe in einem deutschen Ausländerwohnheim. Angeklagt ist der Hausbewohner Safwan Eid aus Libanon. Ihm wirft die Staatsanwaltschaft vor, den Brand vorsätzlich im ersten Stock des Hauses angezettelt zu haben. Auch die Sachverständigen sind an diesem Tag in der Hafenstraße dabei. Und einige Nebenkläger. Und deren Anwälte. Nur in kleinen Gruppen dürfen sie die Ruine betreten.

Beweisstück übersehen?

Staatsanwalt Bieler findet nichts, was der Anklage widerspricht. Nebenklagevertreter Claussen glaubt weiter, "daß der Brand im ersten Stock ausgebrochen ist". Sein Kollege Mohr dagegen findet, daß diese Theorie nach dem Gesehenen nur schwer zu belegen ist: Im Vorbau und in anderen Teilen des Hauses habe es offenkundig viel stärker gebrannt. Rolf Wilcken, der Leitende Richter wehrt ab: "Ich sage nichts." Nur die beiden Verteidigerinnen von Safwan Eid wagen den Einstieg in die oberen Stockwerke. In den Zimmern der Familie El-Omari finden sie eine zusammengeschmolzene Uhr. Dieses Beweisstück war von den Beamten der Spurensicherung offenkundig übersehen worden. Die Uhr wird wahrscheinlich Aufschluß geben können über den Brandverlauf. Die Verteidigerin Gabriele Heinecke übergab die Uhr der Polizei zur Auswertung. Zu dem Fund lehnte sie zunächst jeden Kommentar ab.

Gewaltsam geöffnet Ausgiebig begutachteten Richter und Anwälte eine weitere Pleite der Spurenermittlung: Wie sich erst vor kurzem herausstellte, war das Fenster zu einem Büroraum im Erdgeschoß des Ausländerwohnheimes in der Brandnacht offenkundig aufgebrochen worden. Darauf deutet zumindest ein Untersuchungsbericht hin, der erst vor wenigen Wochen - auf Antrag von Richter Rolf Wilcken - erstellt wurde. Er besagt, daß das Fenster eingeschlagen und die Fensterflügel gewaltsam aufgehebelt wurden. In diesem Büro des Diakonischen Werkes, das für das Heim die Verantwortung trug, waren auch die Nachschlüssel für alle Wohnungstüren im Hause aufbewahrt. Der Schlüsselkasten ist verschwunden. Die Ermittler der Kriminalpolizei hatten dieses Büro, das unmittelbar neben dem Eingangsbereich, dem sogenannten hölzernen Vorbau, liegt, nicht untersucht. Ermittlungsfehler wie diese lassen das Gericht nach mehrmonatiger Verhandlungsdauer immer noch im Nebel stochern. Richter Wilcken: "Wir haben nicht allzuviel aufklären können."

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© G+J BerlinOnline GmbH, 30.03.1997