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Datum: 25.03.1997, Berliner Zeitung
Ressort: Reporter
Autor: Bo Adam

"Die Polizei kann mir gar nichts"Ein Jugendlicher aus Grevesmühlen hat sich vor Zeugen verraten: Er sei dabeigewesen, als der Lübecker Brandanschlag verübt wurde

Das Provinznest Güstrow im Mecklenburgischen wird seit langem von Kleinkriminalität gebeutelt. Die Geschäftsleute müssen mit vielen Ladendiebstählen leben. Kein Wunder, daß die Aufmerksamkeit der Verkäufer geschärft ist. So auch an einem der letzten Tage des vergangenen Jahres in einem Laden am Bahnhof, als ein massiger, kahlgeschorener Jugendlicher ein Sweatshirt in seinen Rucksack steckt und hinausgeht, ohne zu bezahlen. Klaus Müller, ein Angestellter, folgt dem Mann und stellt ihn auf der Straße zur Rede. Ein Streit beginnt. Plötzlich umstellen mehrere Jugendliche den Verkäufer."Wollen wir ihn fertigmachen?" fragt der Ladendieb seine Kumpane. Der Verkäufer redet auf die Skins ein, schlägt vor, die Polizei als Schlichter zu rufen. Da sagt der Ladendieb: "Polizei? Die kann mir gar nichts. Ich war sogar bei dem Brandanschlag in Lübeck dabei." Er drohte Klaus Müller erinnert sich noch heute an diese entscheidenden Sätze: Der Dieb habe erklärt, er sei einer der Täter gewesen, als das Asylbewerberheim angezündet wurde."Er wollte mich wohl damit einschüchtern."Der Skinhead habe sich auch mit seiner Freundschaft zu einem der Anführer der rechtsradikalen Szene in Güstrow gebrüstet, erinnert sich der Verkäufer."Er drohte mir, wenn ich ihn verpfeife, werde dieser Freund sich mit mir beschäftigen."Die Bande schlägt Klaus Müller zusammen und zieht davon. Ins Geschäft zurückgeflüchtet, erzählt der Verkäufer dem Ladenbesitzer und dessen erwachsenem Sohn, was vorgefallen war. Der Arbeitgeber fährt seinen Angestellten zuerst zum Arzt und schließlich zur Polizei. Dort wird ein Protokoll aufgenommen, in dem auch die Aussagen des Ladendiebes zu Lübeck festgehalten werden. Klaus Müller sei "absolut zuverlässig und glaubwürdig", sagt Geschäftsinhaber Thorsten Rambow heute, "der lügt nicht, spinnt nichts zusammen". Thorsten Rambow bestätigt, was sein Verkäufer berichtet. Auf die Sätze des Ladendiebes selbst kann sich der Geschäftsmann allerdings keinen Reim machen."Der war bestimmt nicht in Lübeck dabei. Oder?"Zumindest war er in jener Nacht in Lübeck. Denn die Güstrower Polizei ermittelt schnell die Identität des Ladendiebes. Es ist Maik Wotenow, einer der drei Grevesmühlener Jugendlichen, die in der Brandnacht kurz nach Ausbruch des Feuers mit ihrem beigefarbenen Wartburg vor dem brennenden Asylbewerberheim in Lübeck herumstehen. Um 3.47 Uhr fallen sie einem Polizisten auf, der ihre Personalien notiert, wobei Maik Wotenow einen falschen Namen angibt. Aus gutem Grund: Er ist der Justiz bereits einschlägig bekannt, wegen Gewalttätigkeit, Diebstählen und einer Friedhofsschändung. Am Morgen nach der Brandkatastrophe werden die Grevesmühlener Jugendlichen festgenommen. Sie tragen frische Brandspuren im Gesicht, stellt ein Gerichtsmediziner fest. Doch das beeindruckt die Ermittler wenig. Die Polizei liefert ein Alibi: Ein Streifenwagen habe um 3.17 Uhr einen Wartburg an einer wenige Kilometer entfernten Tankstelle gesehen. Zwar weiß zu diesem Zeitpunkt niemand genau, wann und wie das Feuer wirklich angefangen hat, denn die Untersuchungen der Brandexperten sind noch lange nicht beendet. Aber für die Lübecker Staatsanwaltschaft reicht die Beobachtung der Streifenpolizisten aus: Die Grevesmühlener werden laufengelassen. Die Anklagebehörde hat unterdessen einen anderen Verdächtigen: Safwan Eid, den libanesischen Mitbewohner des Brandhauses. Er wird in Untersuchungshaft genommen, er kommt vor Gericht. Die Grevesmühlener bleiben unbehelligt. Erst während des Verfahrens läßt das Lübecker Gericht hin und wieder die Spur nach rechts prüfen. So weisen Kriminaltechniker nach, daß die Erklärungen der Grevesmühlener für die Brandmale in ihren Gesichtern Lügen sind. Zum Beispiel die Erklärung Maik Wotenows, sich beim Anzünden eines Hundes versengt zu haben. Doch das stört die Ermittler der Staatsanwälte wenig."Sie könnten sich verbrannt haben, als sie Autos anzündeten", spekulieren sie. Auf diese Erklärung sind nicht einmal die Jugendlichen selbst gekommen. Ist die Staatsanwaltschaft jetzt bereit, ernsthaft zu ermitteln? Jetzt, nach Bekanntwerden der Aussagen von Maik Wotenow vor dem Laden in Güstrow? Immerhin baut die Anklage gegen Safwan Eid auf einem ebensolchen "Geständnis vom Hörensagen" auf, jenem "Wir waren es", das ein Rettungssanitäter in der Brandnacht von dem jungen Libanesen gehört haben will.

Keine Erinnerung "Was? Ein Geständnis in Güstrow?"So reagiert der Lübecker Oberstaatsanwalt Klaus-Dieter Schultz auf eine Anfrage, was die Ermittler tun."Von so einem Geständnis weiß ich nichts", betont er. Er habe sogar die Kollegen befragt, die mit dem Brandprozeß unmittelbar befaßt sind, fügt der Pressesprecher der Staatsanwaltschaft der Hansestadt hinzu. Sie hätten ebenfalls keine Ahnung, was gemeint sein könnte. Selbst als ihm Einzelheiten des Zwischenfalls mitgeteilt werden, kann sich Klaus-Dieter Schultz überhaupt nicht erinnern. Seltsam. Denn bereits am Tag des Zwischenfalls in Güstrow telefoniert die dortige Polizei mit ihren Lübecker Kollegen. Verkäufer Klaus Müller erinnert sich: "Das geschah, als wir die Anzeige formulierten. Mir war, als hätte der Dieb ein Datum genannt, den 28.August. Der Polizist rief in Lübeck an und fragte nach, ob der Brand an dem Tag stattfand. Die Lübecker verneinten. Inzwischen bin ich mir auch nicht mehr wegen des Datums sicher. Aber ich hatte es damals so im Ohr. Ich war aufgeregt." Dem Chef der Güstrower Polizei, Hans-Detlev Henkel, ist anzumerken, daß ihm jede Frage zu dem Zwischenfall unangenehm ist. Bislang wahrte auch die Polizei der mecklenburgischen Kleinstadt Stillschweigen über das Geschehene. Nicht einmal die örtliche Presse erfuhr davon."Ach der Maik", sagt Hans-Detlev Henkel spontan, als er auf den Zwischenfall angesprochen wird. Dann wird er schnell wortkarg: "Zum konkreten Ereignis kann ich gar nichts sagen. Wir sind nicht die ermittelnde Instanz."Nicht einmal die simple Frage, ob die Lübecker in diesem Fall informiert wurden, kann und will er beantworten."Aber vom Prinzip her: Wenn ein solcher Fall eintritt, sind wir natürlich verpflichtet, unverzüglich Kontakt mit den zuständigenn Dienststellen aufzunehmen, egal in welchem Bundesland sie sich befinden."Zum Beispiel auch in Lübeck. In der Tat: Kurz nach der Vernehmung von Klaus Müller flattert den Ermittlern an der Trave die Anzeige von Klaus Müller auf den Tisch, die die Aussagen Maik Wotenows enthält, beim Brandanschlag von Lübeck dabeigewesen zu sein."Wir gehen jeder Spur nach", hatte Klaus-Dieter Schultz zu Anfang der Ermittlungen vor über einem Jahr versprochen. Doch kein Beamter fährt von Lübeck nach Güstrow, um nachzuforschen, was da gewesen ist. Der Verkäufer und der Dieb werden einander nicht gegenübergestellt."Mir wurde so etwas angekündigt, aber passiert ist nichts", sagt Klaus Müller. Auch sein Arbeitgeber wartet noch auf einen Besuch der Beamten.

Das Interesse der Staatsanwälte ist in diesem Fall offenkundig gering. Man werde Maik Wotenow befragen, heißt es in einem internen Lübecker Papier. Doch der sei leider zur Zeit nicht greifbar. Er sei in Bayern unterwegs. Es klingt, als ob Bayern in Zentralafrika läge. Immerhin wissen die Ermittler offensichtlich, wo sich der inzwischen wegen einer weiteren Straftat Gesuchte aufhält. Daß die Staatsanwaltschaft die Aussagen von Güstrow nicht kennt, mag Safwan Eids Verteidigerin Gabriele Heinecke nicht glauben."Das ist in der Tat eigentümlich. Mir liegt eine Verfügung eben dieser Lübecker Staatsanwaltschaft vor, in der die Einstellung der Ermittlungen zum Güstrower Zwischenfall mitgeteilt wird. Begründung: Es gebe keinen hinreichenden Tatverdacht."Das Papier trage die Unterschrift von Staatsanwalt Böckenhauer. Es sei übrigens das dritte Mal, daß die Anklagebehörde deutlichen Zeugnissen auf eine Täterschaft der Grevesmühlener und speziell Maik Wotenows in den Wind schlage, fügt die Anwältin hinzu."Aber letztendlich bin ich nicht sonderlich überrascht. Wir haben immer wieder feststellen müssen, daß die Ermittlungen völlig einseitig zu Lasten von Safwan Eid betrieben wurden, obwohl die Verdachtsmomente gegen die Grevesmühlener von Anfang an viel schwerer wogen."In der Tat sind die Staatsanwälte immer noch bemüht, die Schuld des jungen Libanesen nachzuweisen. Parallel zum laufenden Verfahren und am Gericht vorbei versuchten sie vor einigen Wochen, nachträglich neue Indizien zur Stützung der Anklage zu sammeln. Ein in der Justiz ungewöhnliches Vorgehen.

Nicht recht fündig Das Ergebnis füllt einen dicken Leitz-Ordner. Mit großem Aufwand wurden Schüler und Pädagogen gesucht und befragt, die in der Brandnacht in einem naheliegenden Internat schliefen. Zweck der Recherche sollte offenkundig sein, Aussagen von Augenzeugen zu sammeln, die bestätigen, daß das Feuer in der Brandnacht im ersten Stock des Ausländerwohnheims ausbrach. Die Anklage unterstellt, daß Safwan Eid den Brand im ersten Stock des Katastrophenhauses legte. Doch die Ermittler wurden nicht recht fündig: Eine klare Mehrheit der Augenzeugen erklärte, daß die Flammen zuerst aus dem Erdgeschoß loderten. So wie die beiden Verteidigerinnen von Safwan Eid vermuten. Der Brandsachverständige des Landeskriminalamtes Kiel, Dr. Holger Herdejürgen, räumte gestern vor Gericht ein, daß er keinen genauen Zeitpunkt des Brandausbruches angeben könne, da ein "Glimmbrand" möglich sei. Damit ist das Alibi der Grevesmühlener Jugendlichen erschüttert, die zum bislang angenommenen Zeitpunkt des Brandausbruchs an einer entfernten Tankstelle gesehen worden sein sollen.

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