Wir sind doch hier nicht in Holland
Nach dem Ende des Lübecker Brandprozesses droht den
Bewohnern des Hauses Hafenstraße 52 die Abschiebung
Vergnügt stürmt Nora in die kahle Neubauwohnung.
Ihre drei Dutzend Zöpfchen tänzeln auf dem Kopf,
während sie vom Tag im Kindergarten erzählt.
Kurz schaut der große Bruder durch die Tür, bevor er
zum Box-Training geht.Die Mutter nickt ihm zu, dann
schaltet sie ihre Lieblings-Vorabendserie ein.Alltag in
Lübeck.Eine Familienidylle.
Nicht ganz: Zu Weihnachten schenkte Nora ihrer Mutter
ein selbstgemaltes Bild. Es zeigt eine Frau, die ein Kind
aus dem Fenster wirft. Das Kind ist Nora, die Frau ist
die eigene Mutter."Sie kommt von dem Schock nicht
los", sagt Marie Agonglovi, "immer wieder fragt
sie mich, warum ich das getan habe?".
Marie Agonglovi hatte nicht allzu viele
Möglichkeiten, ihre Kinder zu retten, damals in der
Brandnacht des 18.Januar 1996.Kaum schrie jemand laut
"Feuer", da hüllte bereits dicker Qualm die
Räume des Hauses Hafenstraße 52 ein. Wer nicht sprang,
verbrannte. Wer sprang, starb, als er auf dem Pflaster
aufschlug. Oder brach sich die Knochen. Als wäre es
gestern, erinnert sich Marie Agonglovi an die
entscheidenden Minuten: "Ich öffnete die Tür zum
Flur, im Nu war das Zimmer voller Rauch."Plötzlich
sah sie ihre kleine Tochter Nora in dem Raum nicht mehr,
sie schrie nach ihr. Gemeinsam stolperten sie
schließlich zum Fenster. Marie Agonglovi hatte
vergleichsweise Glück. Ihr Zimmer lag im ersten Stock.
Und unten warteten bereits Hausbewohner, um die Kinder
und sie aufzufangen. Nora ist deshalb nichts passiert.
Rein äußerlich gesehen.
Ein neues Leben? Nach dem Brandanschlag erhielten die
Überlebenden eigene Wohnungen in Lübeck. Möbel wurden
gespendet. Marie Agonglovi hat ein neues Familienalbum
eingerichtet. Mit Fotos aus dem letzten Jahr. Andere
besitzt sie nicht. Für sie hat die Floskel "ein
neues Leben beginnen" einen ganz konkreten Inhalt.
Aber immerhin kann sie ein neues Leben beginnen. Sie
lernt Deutsch.
Als einzige Überlebende aus der Hafenstraße hat die
Togolesin mit ihren Kindern ein Bleiberecht als
politischer Flüchtling. Die anderen Opfer der
Brandkatastrophe werden von den Behörden lediglich in
irgendeiner Form geduldet. Wie zum Beispiel Sylvere Atty.
Der junge Westafrikaner mußte ebenfalls aus dem Fenster
springen, erlitt Beinbrüche und verletzte sich die
Wirbelsäule. Noch heute trägt er, wie er sagt,
"Eisenstangen" in seinem Körper. Irgendwann
sollen sie wieder herausoperiert werden. Beim Brand
verlor Sylvere Atty seinen Cousin Sylvio
Amoussou."Seitdem ist Sylvere Atty psychisch
fertig", sagt Bacar Gadji, der Vorsitzende der
Afrikanischen Gemeinschaft in Lübeck.
Noch schlimmer als Sylvere Atty ergeht es Jean-Daniel
Makodila aus Zaire, der Frau und Kinder verlor. Zu Beginn
des Brandprozesses nahm Jean-Daniel Makodila noch an den
Verhandlungen teil. Eines Tages brach er röchelnd
zusammen. Er hielt die Beschreibungen des Brandes nicht
mehr aus. Seitdem meidet er das Gericht. Er lebt allein
in einem riesigen anonymen Hochhauskomplex.
Pastor Iver Rinsche vom Diakonischen Werk Lübeck, der
sich von deutscher Seite um die Flüchtlinge sorgt, hat
bittere Worte übrig für die Behandlung der
Hafenstraßenbewohner."Was nützt es, sie dezentral
unterzubringen, neben deutschen Nachbarn? Wie sollen die
Opfer vergessen, wie sollen sie sich integrieren, wenn
sie alle paar Monate ihre vorläufige
Aufenthaltsgenehmigung bei der Ausländerbehörde
erneuern müssen?" fragt er. Keine
"Präzedenzfälle" Solange der Prozeß um den
Brandanschlag dauert, sind die Überlebenden wenigstens
vor sofortiger Abschiebung geschützt. Bis zum Abschluß
der Beweisaufnahme mußten sie als Zeugen zur Verfügung
stehen.
Doch jetzt, nach dem angekündigten Freispruch für
den Hausbewohner Safwan Eid, der am nächsten Montag
erfolgen wird, naht ihre letzte Stunde in Deutschland. Im
August läuft die Duldung aus. Es sei denn, die Bundes-
und Landespolitiker in Bonn und Kiel haben ein Einsehen.
Pastor Rinsche wagt nicht mehr, an christliche
Nächstenliebe zu glauben."Wir sind ja hier nicht in
Holland", sagt er wütend. Dort, in denNiederlanden,
erhielten alle Überlebenden nach dem Absturz eines
Flugzeuges in ein von Ausländern bewohntes Hochhaus
unbürokratisch eine Aufenthaltsgenehmigung. Egal,
welchen Status sie vorher hatten. Eine humanitäre Geste
nach dem Inferno. Iver Rinsche: "Aber hier hat sich
Innenminister Kanther offenkundig festgelegt: Es dürfen
keine Präzedenzfälle geschaffen werden." Die
Brandkatastrophe in der Hafenstraße als Präzedenzfall?
An Lübecker Stammtischen wird der ungeheuerliche
Gedanke zu Ende gesponnen."Na klar, die Asylbewerber
haben das Haus doch selbst angezündet, damit sie was
Besseres bekommen", behauptet ein Biertrinker, der
bei Alis Imbiß im Stadtteil Lübeck-Buntekuh eingekehrt
ist. Sein Nachbar nickt. Die Umstehenden schweigen. Sie
schweigen auch, als der Wortführer kein Erbarmen zeigt:
Die Überlebenden der Hafenstraße gehörten abgeschoben,
sagt er, egal, was sie an Schrecklichem erlebt hätten.
Es seien nun einmal zu viele Ausländer in Deutschland.
"Sollte es eine gesetzliche Regelung für die
Flüchtlinge geben, wäre es zu akzeptieren", sagt
Lübecks CDU-Vorsitzender Thorsten Geißler kühl. Und
wenn nicht? Dann nicht! "Wir leben nun mal in einem
Rechtsstaat." Lübecks Bürgermeister Michael
Bouteiller hofft auf eine Regelung."Das Ausland
schaut doch zu, wie wir mit diesen Menschen
umgehen", sagt er, "wenn die Politiker es
wirklich wollen, finden sie einen Ausweg."
Wie der Ausweg aussehen soll, kann Bouteiller auch
noch nicht sagen. Er selbst hat keine Befugnisse. Wenig
Unterschriften Der sozialdemokratische Bürgermeister
wurde bereits vom sozialdemokratischen Innenminister des
Landes Schleswig-Holstein mit einer Disziplinarstrafe
belegt, weil er im vergangenen Jahr einigen Flüchtlingen
auf eigene Faust Reisedokumente ausstellte, damit sie
ihre toten Angehörigen in der Heimat begraben und danach
zurückkehren konnten."Das Grundgesetz verbietet
menschenunwürdiges Verhalten", sagt Bouteiller.
Wieviel Unterstützung er in seiner Stadt für sein
Engagement findet, weiß er selber nicht. Von Lübecks
rund 220 000 Einwohnern unterschrieben bisher nur 3 000
einen Aufruf, in dem das Bleiberecht für die nicht
einmal 40 Opfer gefordert wird."Was läuft in diesem
Land bloß schief?" fragt sich Michael Bouteiller
laut und repetiert zunächst Zahlen: 15 Prozent
Arbeitslose in Lübeck, 20 000 Menschen, die von
Sozialhilfe leben, 45 Prozent Singlehaushalte. Die
Gesellschaft, die menschlichen Beziehungen atomisieren
sich.
Versteckt in einem Lübecker Vorort wohnt die Familie
Eid. Vielköpfig drängeln sich die Familienmitglieder am
kleinen Abendbrottisch. Wie so oft dreht sich das
Gespräch um den Prozeß.Und um die Zeit danach. Auch die
Eids sind von Abschiebung bedroht."Die deutschen
Behörden werden sich nicht trauen, uns
hinauszuwerfen", ist Familienoberhaupt Marwan Eid
überzeugt.
Warum nicht?"Sie müssen uns schließlich dankbar
sein", sagt er sarkastisch, "die Anklage gegen
Safwan Eid hat doch von den wahren Brandstiftern
abgelenkt."Safwan Eid übersetzt geduldig ins
Deutsche, was der Vater sagt.
Was er nach dem Freispruch selbst machen wird, weiß er
noch nicht.
Fast ein halbes Jahr in Untersuchungshaft und neun Monate
Prozeß haben aus dem schüchternen jungen Mann einen
nachdenklichen Erwachsenen gemacht."Ich will mich
entscheiden, wenn alles vorbei ist", sagt Safwan
Eid.
Aber vielleicht ist alles noch nicht so schnell vorbei.
Staatsanwalt Michael Böckenhauer deutet an, er wolle in
die Revision gehen.
Das würde womöglich bedeuten, daß der
Hafenstraßenbrand-Prozeß neu aufgerollt wird.
Ironie der Geschichte: Eid und die anderen Opfer des
Brandanschlages könnten vorerst weiter im Land bleiben.
Denn sie müßten der deutschen Justiz zur Verfügung
stehen.
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