Wo brannte es zuerst?  
        Noch immer ist unklar, was im Januar '96 in der
        Lübecker Hafenstraße wirklich geschah 
        Lächelnd betritt Safwan Eid den Lübecker
        Gerichtssaal. Es ist ein Lächeln, das irgendwo
        zwischen Schüchternheit und Selbstbewußtsein
        angesiedelt ist. Safwan Eid nickt den Pressevertretern
        zu, begrüßt ein paar Bekannte unter den
        Zuschauern. Dann setzt sich der etwas pummelige junge
        Mann aus dem Libanon neben seine beiden Verteidigerinnen.
        Für sie trägt er vor und nach der Verhandlung
        die schweren Taschen mit den vielen
        Akten."Hilfsbereit", "freundlich" und
        "ein Vermittler, wenn es Probleme gab" - so
        beschreiben ihn auch die ehemaligen Bewohner des
        Ausländerwohnheimes Hafenstraße 52 in der
        Hansestadt. Und doch soll eben dieser Safwan Eid eben
        jenes Haus in der Hafenstraße in der Nacht vom 17.
        zum 18.Januar 1996 angezündet haben. Das schreiben
        die Staatsanwälte in ihrer Anklageschrift.  
        Zehn Menschen starben damals, als das alte
        Gebäude in kurzer Zeit wie eine Fackel zündete.
        Die meisten anderen der über 50 Bewohner verletzten
        sich, teilweise schwer, als sie aus den Fenstern in den
        verschiedenen Stockwerken springen mußten, um ihr
        Leben zu retten.  
        Nur ein Kilometer Luftlinie trennt das Gericht von der
        schwarzgerußten Ruine mit dem eingestürzten
        Dach, den verkohlten Balken und den leeren
        Fensteröffnungen in den oberen Stockwerken. Eine
        ständige Mahnung an die Justiz, endlich die Wahrheit
        über die bisher folgenschwerste Brandkatastrophe in
        einem deutschen Ausländerwohnheim zu finden. 60
        Zeugen Ein Jahr nach dem Inferno ist die Jugendkammer des
        Lübecker Landgerichts nicht sehr weitgekommen in
        ihrer Suche nach der Wahrheit. Trotz der Befragung von
        mehr als 60 Zeugen in 30 Sitzungen. Es fehlt weiterhin an
        faßbaren, zweifelsfreien Erkenntnissen über
        das damalige Geschehen, es fehlt an objektiven
        Beweismitteln. Anklagevertreter, Richter und die
        Anwältinnen des Angeklagten sind sich gerade mal
        darin einig, daß die Tragödie keinem
        technischen Unglück geschuldet war. Es war ein
        Verbrechen. Aber von wem verübt? Und warum? Es gibt
        kaum ein Detail in diesem Fall, das nicht umkämpft,
        nicht umstritten ist. Seit dem ersten Verhandlungstag
        sitzen sich die Verteidigerinnen und Staatsanwälte
        wie Hund und Katze gegenüber. Jede Seite lauert auf
        einen Fehler der anderen. Gegenseitige Animositäten
        sind für den Beobachter im Gerichtssaal
        spürbar. So, wenn die Verteidigung der Anklage immer
        wieder mal Unkenntnis und unterdurchschnittliche
        Fähigkeiten bescheinigt. Oder wenn die
        Staatsanwälte beim Richter anregen, eine
        Verteidigerin aus dem Verfahren auszuschließen,
        nachdem sie auf öffentlichen Versammlungen in
        Berlin, Hamburg und Frankfurt ihre Sicht der Dinge
        darlegte.  
        Mit allen zur Verfügung stehenden Mitteln
        kämpfen die beiden Juristinnen aus Hamburg und
        Hannover für ihren Mandanten. Sie unterstützen
        Safwan-Eid-Solidaritätsgruppen, die für
        öffentlichen Druck sorgen. Sie durchsuchen
        eigenhändig das Brandhaus nach übersehenen
        Spuren - und werden fündig. Sie bitten
        unabhängige Gutachter um ihre Expertisen. Sie
        verwickeln die Zeugen in lange Kreuzverhöre. Ziel:
        Safwan Eid kann nicht der Täter sein, weil alles
        ganz anders ablief. Mit ihrer Vorneverteidigung haben sie
        den Staatsanwälten die Initiative aus der Hand
        genommen.  
        Nicht mehr sicher Allzu schwer war das allerdings
        nicht. Die Anklagevertreter machten bei der Befragung von
        Zeugen nicht immer den sichersten Eindruck, mit
        Formulierungen etwa, wie "Können Sie
        gänzlich ausschließen, daß Sie nicht in
        dem Raum waren?"Oder "Können Sie die
        Person näher beschreiben?" - nachdem ein Zeuge
        gerade erklärt hatte, er kenne den Menschen nicht.
        Hin und wieder muß sogar der Leitende Richter Rolf
        Wilcken eingreifen, um die Konfusion zu beenden.  
        Noch schwerer wiegt jedoch die Tatsache, daß die
        Anklage nicht fundiert ist. Sehr früh hatten die
        Staatsanwälte - trotz vieler Indizien - die
        Möglichkeit eines ausländerfeindlichen
        Anschlages verworfen und sich auf den jetzigen
        Angeklagten als den Täter festgelegt. Ihre Theorie
        beruht aber genaugenommen auf einer einzigen Aussage. Es
        ist die Aussage eines Rettungssanitäters, der noch
        in der Brandnacht ein Geständnis Safwan Eids
        gehört haben will: "Wir waren's." Als
        Motiv hätte der Angeklagte von einem Streit mit
        einem Familienvater im Haus erzählt, so der
        Sanitäter im Zeugenstand."Wir" hätten
        dann "Benzin oder eine andere Flüssigkeit"
        gegen eine Tür geschüttet und angezündet,
        soll der Angeklagte gesagt haben. Das Feuer sei
        schließlich die Treppe heruntergelaufen. Bei der
        Wiedergabe der Details der Unterhaltung ist sich der
        Hauptzeuge der Anklage vor Gericht aber am Ende nicht
        mehr sicher. Da hilft auch nicht, daß die
        Staatsanwälte ihren Mann wegen seiner Unsicherheiten
        als besonders glaubwürdig präsentieren. Zweites
        Standbein der Staatsanwälte ist ein Brandgutachten,
        wonach das Feuer in einem Flur des ersten Stocks
        ausgebrochen sein muß.Doch auch dies haben die
        Verteidigerinnen von Safwan Eid erfolgreich in Frage
        gestellt: Der Brandexperte Professor Achilles aus
        Frankfurt bescheinigt dem Gericht, daß der Brand
        ebensosehr von außen entfacht worden sein
        könnte, ja, daß dies sogar wahrscheinlicher
        ist. Er weist auch nach, daß die Aussagen des
        Sanitäters und das Brandgutachten der
        Staatsanwälte sich sachlich widersprechen.  
        Seitdem steht im Mittelpunkt der Verhandlungen, wo das
        Feuer nun tatsächlich zuerst geortet wurde. Ein
        mühsames Unterfangen. Nach einem Jahr sind die
        Erinnerungen der damaligen Akteure verblaßt. Sie
        vermischen sich mit späteren Überlegungen. Die
        meisten Zeugen sind schlicht überfordert. Selbst
        Feuerwehrleute kapitulieren, als sie ihre Beobachtungen
        im Zeugenstand schildern sollen."Erst mußten
        wir die Menschen retten. Da habe ich nicht so genau
        hingeschaut", bekennt ein Hauptmann der Feuerwache
        Eins von Lübeck, als er um Einzelheiten gebeten
        wird. Ein anderer erklärt: "Wir haben seitdem
        ein paar Dutzend andere Feuer bekämpft. Da
        verschwimmen die Details."Ohnehin ist die Frage, wo
        das Inferno ausbrach, für viele Beteiligte
        inzwischen eine Glaubensangelegenheit. Dank der Medien
        weiß jeder Interessierte, daß die Aussage
        "es brannte im ersten Stock" die Theorie der
        Staatsanwälte stützt, während die
        Erklärung "es brannte im Vorbau" die
        Position der Verteidigerinnen stärkt.  
        Eine Reihe Polizisten und Feuerwehrleute standen als
        Zeugen vor Gericht. Die meisten neigten dem "Feuer
        im ersten Stock zu". Freilich nicht alle. So gibt
        der Feuerwehrmann, der in der Nacht als einziger in das
        Haus eindrang, um zu löschen, eine glaubwürdige
        Schilderung der Flammen und der Hitze im Vorbau.
        Daß es dort lichterloh gebrannt hat, davon
        überzeugt sich das Gericht bei einem Ortstermin dann
        auch selbst: Sogar die Drahtglasscheiben der
        Eingangstür schmolzen zu Klumpen zusammen. Die
        allerdings sollen mittlerweile aus der Asservatenkammer
        der Polizei verschwunden sein.  
        Auch die Frage, ob es einen Streit im Haus gegeben
        habe, an dem Safwan Eid beteiligt war, beschäftigt
        das Gericht immer wieder. Denn: ohne Streit kein Motiv.
        Doch die meisten Bewohner des Heimes können sich
        weder an einen solchen Streit erinnern noch trauen sie
        dem jungen Libanesen die Tat zu. Beispiel: Marie
        Agonglovi. Unweit ihrer Tür soll Safwan Eid laut
        Anklage das Feuer gelegt haben. Doch die Westafrikanerin
        sagt: "Warum sollte er so etwas tun? Außerdem
        lebten seine eigenen Eltern und Geschwister auch im
        Haus." Mit Spannung erwartet Die meisten Opfer, die
        in diesem Prozeß aussagen, haben den Angeklagten
        entlastet. Sie glauben an einen ausländerfeindlichen
        Anschlag von außen. So wie Frau Francoise
        Makodilla, die in der Katastrophennacht mit ihren Kindern
        im oberen Stockwerk elend verbrannte. Bevor sie starb,
        schaffte sie es noch, die Polizei telefonisch zu
        alarmieren: "Hilfe, es sind die Nazis, die Nazis
        attackieren uns", schrie sie in den Hörer.
        Hatte sie etwas gesehen? Oder war es nur Ausdruck der
        Angst der Ausländer in Deutschland vor
        rechtsradikalen Anschlägen? Eine Familie ist aus der
        Solidargemeinschaft der Heimbewohner ausgeschert, die
        El-Omaris. Sie sind Libanesen, wie die Eids. Doch selbst
        die El-Omaris behaupten nicht ausdrücklich,
        daß Safwan Eid der Täter war."Ich kann
        nicht in sein Herz schauen", formuliert das
        Familienoberhaupt, Frau Asia El-Omari, etwas blumig. Ihr
        Auftritt als Zeugin wird mit Spannung erwartet. Doch das
        Ergebnis der Befragung fällt ernüchternd aus.
        Zwar berichtet sie von einem Streit, den sie in der
        Brandnacht hörte. Doch dabei vernahm sie nur
        "afrikanische Laute". Safwan Eid aber spricht
        arabisch und deutsch, nicht afrikanisch. Eine Wende im
        Prozeß bringen auch die Aussagen der Familie
        El-Omari nicht. Gestern, zwei Tage vor dem Jahrestag der
        Katastrophe, ist der Prozeß an seinem
        31.Verhandlungstag angelangt. Und immer noch geht es um
        Elementares. Wann hat es wo gebrannt? Gustave Sassou, ein
        Hausbewohner, ist geladen. Ein wichtiger Zeuge. Er wohnte
        in dem Flur im ersten Stock, wo das Inferno seinen Anfang
        genommen haben soll. Doch in der Brandnacht stolperte er,
        durch Schreie alarmiert, quer über jenen
        stockdunklen Flur, der laut Theorie der Ankläger in
        hellen Flammen gestanden haben müßte. Von
        einem Streit, der zum Feuerlegen hätte führen
        können, weiß er nichts.  
        Die Staatsanwälte haken nach, stellen dem Zeugen
        Fangfragen, versuchen Widersprüche aufzudecken,
        seine Aussagen zu zerpflücken. Es gelingt ihnen
        nicht. Auch diese Runde geht an die Verteidigung.  
        Wie immer hat Safwan Eid während der
        Verhandlungen geschwiegen. Er hört zu, hin und
        wieder macht er sich ein paar Notizen, malt. Am Ende
        zieren ein dicker schwarzer Walfisch und ein paar
        Girlandenmuster seine Zettel. Die meiste Zeit sitzt
        Safwan Eid aber nur da, scheinbar teilnahmslos. Als ginge
        es in diesem Verfahren nicht um ihn.  
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