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Frankfurter Rundschau 24.06.97

Spuren wie vom Winde verweht

Im Verfahren um den Lübecker Brandanschlag traten zahlreiche Schlampereien der Ermittlungsbehörden zutage


Von Ingrid Müller-Münch (Lübeck)


Den dicksten Klops in der gesamten "Spurenvernichtungsarbeit" (ein von der Verteidigung gebrauchter Begriff) deckte am 51. Verhandlungstag eine Lübecker Gerichtsmedizinerin auf. Ihre lakonisch dahingeworfenen Informationen ließen Staatsanwalt Michael Böckenhauer an diesem Apriltag in Saal 163 des Lübecker Landgerichts für einen Moment regelrecht nach Luft schnappen. Sie habe - schilderte die Ärztin Ivana Gerling, als wäre es das Selbstverständlichste von der Welt - noch in der Nacht nach dem Brandanschlag auf das Asylbewerberheim in der Hafenstraße die Haare von vier verdächtigten Rechtsradikalen untersucht.

Eine Mitteilung, die alle Prozeßbeteiligten aufhorchen ließ. Doch es kam noch besser. Sie habe nämlich, fuhr Ivana Gerling fort, bei dreien dieser jungen Männer frische, von ihr auf den ersten Blick nicht älter als 24 Stunden bewertete Sengspuren festgestellt. Habe daraufhin pflichtgemäß von angeflammten Augenbrauen, Wimpern und Kopfhaaren Proben abgeschnitten und sie - wie es sich gehört - asserviert. Die Tüten mit den Haarproben habe sie beschriftet einem Kriminalbeamten mit dem Hinweis auf den Schreibtisch gelegt, darin befänden sich Sengspuren.

Staatsanwalt Böckenhauer konnte es kaum fassen. "Ich höre das zum ersten Mal", platzte es aus ihm heraus. "Nach meinen Informationen bei der Polizei hat es solche Proben nicht gegeben."

Ja, wo sind sie denn geblieben, die Haarspitzen von vier Rechtsradikalen aus dem mecklenburg-vorpommerschen Grevesmühlen, die jetzt - zum Ausklang des Prozesses gegen den libanesischen Hausbewohner Safwan E. - wieder eine Rolle zu spielen beginnen? Haben sie sich einfach so, wie es E.s Verteidigerin Barbara Klawitter in ihrem Plädoyer vermutete, in den Räumen der Lübecker Kripo verflüchtigt? Oder wurden sie etwa (eine kaum vorstellbare Möglichkeit) beiseite geschafft, entsorgt, damit der Verdacht auf einen der Hausbewohner fällt?

Nach fast acht Monaten Prozeßdauer, über 100 gehörten Zeugen, einem Dutzend Sachverständigen ist zwar die justitielle Aufarbeitung des Brandes vom 18. Januar 1996 in seiner ersten Verfahrensrunde beendet. Doch eine Antwort auf die Frage, wer denn in jener Nacht so gezündelt hat, daß zehn Menschen starben, 38 zum Teil nur schwer verletzt überlebten, wurde nicht gefunden. Wenn Safwan E. am kommenden Montag, dem 30. Juni, erwartungsgemäß freigesprochen wird, dann könnten die Ermittler eigentlich wieder von vorne anfangen. Wenn sich nicht zu viele Spuren auf ähnliche Weise in Luft aufgelöst hätten, wie die Haarspitzen der vier Rechtsradikalen.

Dabei hätte man sie so gerne wieder zur Hand! Denn jetzt, wo alles in Frage gestellt ist, wo selbst die Anklage einräumen muß, den Angeklagten nicht als Täter überführen zu können - da wird der Blick wieder frei auf andere Spuren. Auf all das, was in der Hektik gleich nach der Feuerkatastrophe beiseite geschoben worden war. So dilettantisch ist man hierbei hinter den Kulissen vorgegangen, so aufgeplustert präsentierte man der Öffentlichkeit angebliche Fahndungserfolge, daß man dies Ermittlern, die in einem der schrecklichsten Brandanschläge in der Geschichte der Bundesrepublik tätig waren, wahrlich nicht zugetraut hätte.

Als Safwan E. am Abend des 19. Januar festgenommen wurde (und erst über fünf Monate später aus der Untersuchungshaft freikam), da hätte die Kripo genügend Anlaß gehabt, auch in andere Richtungen zu ermitteln. Zum Beweis hierfür listete Safwan E.s Verteidigerin Barbara Klawitter in ihrem Plädoyer minuziös all das auf, was den Beamten der Sonderkommission bei der Polizeidirektion Schleswig-Holstein Süd zu dem Zeitpunkt bekannt war, was an Indizien vorlag: Da waren die vier Grevesmühlener, von denen drei während des Feuers an der Hafenstraße als Zuschauer dabeistanden. Die Polizei hatte ihre Personalien aufgenommen, sie am frühen Morgen vorläufig festgenommen. Für ihre versengten Haare gab einer von ihnen geradezu abenteuerlich anmutende Erklärungen ab, wie die, sie hätten einen Hund angezündet. Während ein anderer, der mit dabei gewesen sein sollte, hiervon gar nichts wußte. Sie beschuldigten sich gegenseitig einer rechten Einstellung. Man habe schon mal Ausländer verprügelt. Einer räumte gar ein, er könne sich vorstellen, daß die anderen drei das Haus angesteckt hätten. Und ein Kumpel des Quartetts sagte aus, 14 Tage zuvor habe einer ihm gestanden, er wolle in Lübeck etwas anstecken, oder er habe was angesteckt. So genau könne er sich nicht erinnern.

Am frühen Nachmittag des 18. Januar ging ein Fax bei der Sonderkommission ein. Ein Streifenbeamter gab an, er habe in der Brandnacht einen Wartburg an einer Shell-Tankstelle gesehen, an der sich nach ihren eigenen Angaben auch die Grevesmühlener aufgehalten hatten. Die präsentierten eine Quittung, wonach sie dort um 3.19 Uhr fünf Liter Mix und eine Flasche Cola gekauft hatten. Was ausreichte, "um mögliche Motive, deutliche Brandspuren, Anwesenheit am Tatort, Versengungen" all das beiseite zu wischen, beklagte sich Klawitter.

Als sich dann auch noch der Sanitäter Jens L. meldete und behauptete, einer der von ihm in jener Nacht versorgten Hausbewohner habe ihm die Tat gestanden, stürzte sich die unter Federführung von Staatsanwalt Michael Böckenhauer arbeitende Sonderkommission geradezu auf Safwan E. Zunächst aus gutem Grund, nach des Sanitäters glaubhaften Bekundungen mußte ermittelt werden. Doch nicht ausschließlich in diese Richtung.

Für den extra aus Karlsruhe angereisten Beamten der Generalbundesanwaltschaft stand 24 Stunden nach seinem Eintreffen in Lübeck fest: hier gab es keinen politischen Hintergrund, dies war kein rechtsradikaler Anschlag. Er wußte zwar, daß man zumindest bei einem der Grevesmühlener Brandspuren an den Haaren gefunden hatte. Dennoch packte er seine Koffer. Von da an wurde alles, was nichts mit Safwan E. zu tun hatte, vernachlässigt: Der Wartburg der Grevesmühlener wurde nicht mehr untersucht, mögliche Brandspuren an ihrer Kleidung gar nicht gesichert und die abgeschnittenen Haarspitzen wahrscheinlich verschlampt. Während die Lübecker Ermittler ihren angeblichen Fahndungserfolg der Öffentlichkeit präsentierten.

Zwei Tage nach dem Brand sagte Oberstaatsanwalt Klaus-Dieter Schultz, Safwan E. habe dem Sanitäter "Wissen mitgeteilt, über das nur der Täter oder ein Tatbeteiligter verfügen kann". So habe er den Ort des Brandausbruchs (der zur damaligen Zeit den Ermittlungsbehörden nicht bekannt war) genau beschrieben. Den Leiter der Polizeidirektion Lübeck-Süd zitierten die Kieler Nachrichten mit dem Satz: "Es gibt eindeutige Beweise für ein eindeutiges Motiv im zwischenmenschlichen Bereich." Eine Berliner Zeitung druckte diesen Satz von Oberstaatsanwalt Schultz: "Die Spur gegen die Grevesmühlener ist komplett abgearbeitet."

Alles Humbug! Die Spur nach Grevesmühlen war keineswegs abgearbeitet. Warum sonst hätte fünf Monate später, nachdem der Mordvorwurf gegen Safwan E. wegen fehlenden Motivs in den Vorwurf der schweren Brandstiftung abgeschwächt wurde, die Staatsanwaltschaft nachermittelt? Das angebliche Alibi, das den Grevesmühlenern Streifenpolizist und Kassenbon verschaffte, erwies sich als äußerst brüchig, da sich die damals angenommene Tatzeit von 3.30 Uhr als reine Spekulation herausstellte. Denn auch im Prozeß vor der Lübecker Jugendstrafkammer blieb bis zuletzt der genaue Zeitpunkt des Brandausbruchs offen.

Auch von dem angeblichen Täterwissen, dem Ort des Brandausbruchs, war später nicht mehr die Rede. Zwar wird inzwischen davon ausgegangen, daß der Brand im 1. Stock entstand. Doch dies war in der Aussage des Sanitäters nie derart präzisiert worden. Und auch den Nachweis für die angeblich so "eindeutigen" Beweise für ein "eindeutiges" Motiv blieben die Fahnder bis zuletzt schuldig. Sie suchten zwar geradezu verzweifelt danach, drehten und wendeten jede auch nur kleinste Andeutung, die sich nach Streit und Konflikt im Brandhaus anhörte, aber fündig wurden sie dabei nicht.

Bei der Spurensicherung habe es Versäumnisse gegeben, mußten selbst die Ankläger an einem Prozeßtag einräumen: Da war ein Klumpen geschmolzenen Glases von der Eingangstür des Hauses perdu, die durch das Feuer aufgeweichten Hausbriefkästen unauffindbar. Eine Bodenplatte, die die Kripo angeblich an der Stelle vorfand und asservierte, an der das Feuer ausgebrochen sein sollte, hatte sich verflüchtigt. Die Zarge der verriegelten Haustür, zur Untersuchung nach Kiel verschickt, war nie angekommen. Und auch der geheimnisvolle Draht, der am Körper des einzigen, höchst mysteriös ohne jegliche Rauchvergiftung gestorbenen Hausbewohners gefunden wurde, lag von der Brandnacht im Januar 1996 an für etwa drei Monate achtlos auf einer Fensterbank der Lübecker Gerichtsmedizin herum. Ab und zu, beim Staubwischen, schoben ihn die Putzfrauen hin und her. Bis plötzlich, keiner weiß warum, am 10. April ein Kriminalbeamter auftauchte und dieses wichtige Beweisstück mitnahm. So jedenfalls schilderte dies die Lübecker Gerichtsärztin Gerling der Jugendstrafkammer - und in Saal 163 des Landgerichts wunderte man sich.

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