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junge Welt, Sonnabend/Sonntag, 20./21. Januar 1996, Nr. 17, Seiten 2/3, ansichten

>> Lübeck: Welche Konsequenzen sollten aus der Katastrophe gezogen werden?

> jW fragte Willfried Penner, SPD-Bundestagsabgeordneter

F: Ihr Parteifreund Michael Bouteiller, der Bürgermeister von Lübeck, hat nach der Brandkatastrophe im Flüchtlingsheim geäußert, er könne »nicht akzeptieren, daß der Staat in schrecklicher Weise das Ausländerrecht mit Abschiebungen exekutiere«. Sie haben in der Vergangenheit die Abschiebepraxis verteidigt. Und jetzt?

Bisher steht nicht fest, ob es sich um einen Unglücksfall handelt oder um einen Mordanschlag. Man sollte sich vor politischen Schlußfolgerungen hüten, solange der Sachverhalt nicht geklärt ist.

F:Sie werfen Herrn Bouteiller also Voreiligkeit vor?

Ich weiß nicht, ob Herr Bouteiller das von Ihnen Zitierte gesagt hat. Im übrigen möchte ich meine Parteifreunde nicht kritisieren.

F: Die Tatsache, daß im Augenblick die Urheberschaft der Katastrophe noch nicht geklärt ist, ist für Sie ein Grund, mit politischen Schlußfolgerungen abzuwarten. Ist es nicht genau umgekehrt: Weil ein rechtsradikaler Mordterror nicht ausgeschlossen werden kann, ist es höchste Zeit, um politische Konsequenzen zu ziehen?

Nein. Die Tatsachenfeststellung ist mühevoll und langwierig, aber das ist bei solchen Delikten nicht ungewöhnlich. Ich hoffe, daß der oder die Täter möglichst schnell festgestellt werden können, falls es ein Anschlag war. Im übrigen hat die bestehende Gesetzeslage in der Asylpolitik nichts mit rechtsextremistischen Gewalttaten zu tun, da sehe ich keine Verbindung.

F: Macht die kasernierte Unterbringung von Flüchtlingen es den Tätern nicht viel leichter, Brandanschläge zu verübeln? Wäre eine Unterbringung in ansonsten von Deutschen bewohnten Häusern nicht ein wenigstens minimaler Schutz?

Die Unterbringung der Asylbewerber ist Sache der dafür politisch Verantwortlichen. Es steht außer Frage, daß Asylbewerber, deren Anerkennungsverfahren noch in der Schwebe ist, sich bis zur rechtlichen Klärung örtlich gebunden zur Verfügung halten müssen.

F: Die für Sie noch ungeklärte Brandkatastrophe...

Ich weise diese Unterstellung zurück. Die Brandkatastrophe ist nicht für mich ungeklärt, sie ist es objektiv.

F: Es wäre nicht das erste Mal, daß die Verantwortlichen zunächst von einem »ungeklärten Unglücksfall« sprechen, und hinterher stellt es sich doch als politischer Mord heraus.

Fakt ist jedenfalls, daß die Sachverständigen und Experten mit einer Untersuchung überhaupt noch nicht begonnen haben.

F: Einmal angenommen, daß sich die Lübecker Katastrophe doch als rechtsradikaler Anschlag erweist: Wäre dann nicht der von Herrn Bouteiller angemahnte zivile Ungehorsam gegen die Asylpolitik ein wichtiges Signal?

Aufgrund ungeklärter Sachverhalte kann man nicht herumspekulieren. Das Bundesverfassungsgericht wird im Februar darüber befinden, ob das neue Asylrecht mit dem Grundgesetz vereinbar ist oder nicht. Danach wird man weitersehen. Aufgrund eines einzelnen Ereignisses

selbst wenn es ein so tragisches ist wie jetzt in Lübeck

kann das Asylrecht jedenfalls nicht in Frage gestellt werden.

Interview: Jürgen Elsässer